Glücklich wie Lazzaro

Lazzaro felice

I/CH/F/D 2018 · 128 min. · FSK: ab 12
Regie: Alice Rohrwacher
Drehbuch:
Kamera: Hélène Louvart
Darsteller: Adriano Tardiolo, Alba Rohrwacher, Agnese Graziani, Tommaso Ragno, Luca Chikovani u.a.
So wohltuend, dass man es in Worten nicht mehr beschreiben kann...

Die andere Art der Vernunft

»Lazzaro, Lazzaro...« flüstert die Stimme. Ein junger Mann. Seine strah­lenden Augen und noch mehr das gütige Lächeln, das seinen Mund umspielt, zeugen von großer Unschuld. Mit großen Augen und einem irgendwie ungläu­bigen, dabei aber sehr milden Blick streift er durch sattgrüne Felder, Obst­plan­tagen und Weinberge. »...Lazzaro«

Lazarus – wörtlich bedeutet der Name dieser bibli­schen Gestalt »Gott hat geholfen«. Das ist jene Figur, die Jesus von den Toten wieder­auf­er­weckt hat. Vom »Lazarus-Effekt« spricht man aber auch beim Wieder­auf­finden von Tierarten, die man für verschollen hielt.

Land der Wunder hieß der deutsche Titel des ersten Films der jungen und ungemein begabten italie­ni­schen Film­re­gis­seurin Alice Rohr­wa­cher. Auch ihr zweiter, Lazzaro felice erzählt von Wundern und in einem Ton, der aus der Tradition des italie­ni­schen Kinos bestens vertraut ist: Es ist der Ton der Mirakel Fellinis, der karne­val­esken Myste­ri­en­spiele, Heili­gen­le­genden und Märchen Pasolinis, und mancher Erzäh­lungen Vittorio de Sicas.

Rohr­wa­cher erzählt die Geschichte eines heiligen Narren. Kino-Magie, kein »magischer Realismus«, sondern ganz offen ein Märchen. Erfüllt von leisem Humor und feiner Poesie.

Lazzaro wächst irgend­wann, viel­leicht in den 80er Jahren, in der Einöde eines Gutshofs in Südita­lien auf, in dem die Land-Arbeiter von der boshaften Schloss­herrin wie Sklaven gehalten werden, die an alle bösen Mütter und Stief­mütter des Märchens erinnert. Sie ist der Inbegriff der Ausbeu­tung, und kann gar nicht anders. Denn sie denkt: »Mensch­liche Wesen sind wie Vieh, wie Tiere. Sie zu befreien, würde bedeuten, ihnen ihre Knecht­schaft bewusst zu machen.«

Ihr Gegenpol ist eine geheim­nis­volle junge Frau, Antonia, die so rein und mild, so idea­li­siert aussieht, wie eine der Schön­heiten auf den Bildern Leonardo da Vincis. In Lazzaro erkennt sie das Wesen heiliger Unschuld. Denn der junge Mann ist mit allen Elementen der Natur, mit Flora wie Fauna inniglich verbunden.

In der Mitte des Films stürzt Lazzaro von einem Felsen. Er scheint tot zu sein, aber ein Wolf erweckt ihn wieder zum Leben – auch hier eine Legende: wir erinnern uns an Romulus und Remus, die mytho­lo­gi­schen Zwillinge, die auch von einer Wölfin gerettet wurden, und dann Rom gründeten. Wölfe, das sind in Italien gute Tiere, ihre Kraft verleiht Lazzaro so etwas wie ewige Jugend.

Jahre später trifft er in der Stadt auf einstige Freunde und Bekannte, die im Gegensatz zu ihm gealtert sind. Diese Wahl­ver­wandt­schafts-Truppe kämpft gegen Preka­ri­sie­rung und gesell­schaft­li­chen Wandel zum Schlech­teren, und bietet einen Hauch von Aussteiger-Trost, hängt aber womöglich auch einer über­holten Idylle an.

Alice Rohr­wa­cher spielt hier souverän mit verschie­denen Zeit­ebenen und verschie­denen Realitäts­formen. So schwankt ihr Film zwischen Phan­ta­sien für Erwach­sene, Natu­ra­lismus und einer Naivität, wie man sie aus den Filmen von Bresson und Pasolini kennt – sie ist anti-senti­mental gemeint, anti-melo­dra­ma­tisch.

Der Film lebt auch von seinen Darstel­lern: Engels­gleich spielt Adriano Tardiolo die Haupt­figur, und die Schwester der Regis­seurin, Alba Rohr­wa­cher spielt überaus zart Antonia.

Entschei­dend ist aber die Regie. Rohr­wa­cher hat mit 16mm-Film gedreht, was das aus der Zeit gefallene des Films, seinen nost­al­gi­schen Flair noch betont. Mit diesem Film setzt sie den Tradi­ti­ons­strang des italie­ni­schen Neorea­lismus auf ihre Weise sehr eigen­willig fort, und knüpft hier vor allem an Pasolini an, den viel­leicht größten Kino-Märchen­er­zähler des 20. Jahr­hun­derts.
Wunder und Märchen bedeuten in Rohr­wa­chers Fall keinen post­mo­dernen Anti-Ratio­na­lismus, keine Fantasy, kein Ausspielen der Gefühle gegen den Verstand. Es handelt sich vielmehr um eine andere Art der Vernunft und einen Weg, um auf milde und undra­ma­ti­sche Art von bitteren Wahr­heiten zu erzählen.
Denn eigent­lich ist Rohr­wa­chers scheinbar so zeitloser, ober­fläch­lich fast regres­siver Film überaus zeitgemäß. Er erzählt die Geschichte der Linken in den letzten 50 Jahren. Er handelt von den Utopien, von Hippies, Land­kom­munen, Anti­gen­tri­fi­zie­rungs­kämp­fern, linken Wutbür­gern.

Nur macht Rohr­wa­cher das in ihrem heraus­ra­genden Film voll­kommen anders, als ihre Kollegen in Frank­reich oder Deutsch­land es würden. Ohne Mora­li­sie­rung, ohne Resi­gna­tion, sondern überaus gelassen.

Das ist im Ergebnis so dermaßen wohltuend und opti­mis­tisch, dass man es in Worten nicht mehr ange­messen beschreiben kann, sondern im Kino sehen muss. Lazzaro felice ist, anders gesagt, einer der aller­besten Filme des Jahres.