Das Geheimnis von Velázquez

L'énigme Velázquez

Frankreich 2025 · 91 min. · FSK: ab 0
Regie: Stéphane Sorlat
Drehbuch: , ,
Schnitt: Cristina Otero Roth
Das Geheimnis von Velázquez
Ein ganz gegenwärtiger, sinnlicher Film
(Foto: Neue Visionen)

Der Platz des Königs

Die Macht des Blicks und der Maler des Kinos: Stéphane Sorlats Dokumentarfilm Das Geheimnis von Velázquez

»In dem Augen­blick, in dem die Augen des Malers den Betrachter in ihr Blickfeld stellen, erfassen sie ihn, zwingen ihn zum Eindringen in das Bild, weisen ihm einen zugleich privi­le­gierten und obli­ga­to­ri­schen Platz zu, entnehmen ihm seine licht­volle und sichtbare Art und werfen sie auf die unzu­gäng­liche Ober­fläche der Leinwand. Der Betrachter sieht seine Unsicht­bar­keit für den Maler sichtbar geworden...«
– Michel Foucault, »Die Ordnung der Dinge« über Velazquez' »Meninas«

Ganz zu Beginn kommen Bilder von Bäumen und Gras und einem plätschernden Bach, dazu hören wir die unvergleichliche Stimme von Jean-Paul Belmondo, bevor wir ihn auch sehen, in einer Badewanne sitzend. Er liest aus dem Standardwerk »Histoire de l’art« des legendären französischen Kunsthistorikers Élie Faure über die spanischen Maler:

Velázquez, so Faure, habe im Alter nichts Konkretes mehr gemalt. Er »erfasste nur noch die geheim­nis­vollen Wech­sel­wir­kungen, die Formen und Farben in einer fort­wäh­renden Bewegung inein­ander eindringen lassen«, seine Malerei sei »wie eine luftige Welle, die über die Ober­flächen gleitet«. Faure, Jahrgang 1873, beschreibt den Barock­maler wie einen Impres­sio­nisten.
Und keine Frage: Der Mann war seiner Zeit tatsäch­lich um mehr als zwei Jahr­hun­derte voraus. Der Impres­sio­nist Manet gar nannte ihn den »Maler der Maler.«

Diese Eingangs­szene stammt aus Jean Luc Godards Meis­ter­werk Pierrot le Fou – und sie erzählt uns gleich, dass Velazquez vieles war, eben auch der Maler des Kinos.

+ + +

Regisseur Stéphane Sorlat hat über den inzwi­schen seit 350 Jahre toten Diego Velazquez einen sehr leben­digen, ganz gegen­wär­tigen, sinn­li­chen Film gedreht.

Ausgehend von den Kommen­taren von Velázquez-Spezia­listen, Restau­ra­toren und Lieb­ha­bern hebt Sorlat dessen Einfluss auf Gene­ra­tionen von Künstlern hervor, analy­siert die Ästhetik des spani­schen Malers, und befasst sich mit dem Geheimnis, das mehrere seiner Haupt­werke bergen.

Sorlats Film heißt Das Geheimnis von Velázquez. Aber worin besteht dieses Geheimnis? So viel sei schon verraten: Ein einzelnes »Geheimnis« wird hier nicht gelüftet.

Dafür tragen die Histo­riker, Kritiker, Künstler oder, die für den Doku­men­tar­film befragt wurden, in der Summe zu einer eindrucks­vollen Würdigung der Beson­der­heit von Velázquez’ Gesamt­werk bei. Man hört gut begrün­dete Einschät­zungen wie: »Er ist die Intel­li­genz der Malerei«, der »Maler der Präsenz oder ›der Maler der Mensch­lich­keit‹.«

+ + +

Es gelingt dem Film, ein Gleich­ge­wicht zwischen Zugäng­lich­keit und Anspruch zu finden. Das ist keine geringe Leistung.

Trotzdem wird in einer Kritik geklagt: »Die Doku­men­ta­tion ... richtet sich fast ausschließ­lich an Zuschaue­rinnen und Zuschauer, die bereits eine tiefe Faszi­na­tion für Velázquez mitbringen. Für ein unvor­be­rei­tetes Publikum erweist sich der Zugang dagegen als überaus schwierig. Fakten, Zitate und kunst­his­to­ri­sche Analysen werden zwar in großer Fülle präsen­tiert, doch der Tonfall bleibt durchweg trocken, beinahe akade­misch. Leiden­schaft oder ein Funken Inspi­ra­tion sind kaum zu spüren.«

Mir scheint, Leiden­schaft sei hier sehr viel zu spüren. Aber der Film begibt sich nicht unter Niveau. und das ist für mache Kollegen nur schwer zu ertragen. Aber was möchte man? Volks­hoch­schul­filme, die alles »für ein unvor­be­rei­tetes Publikum« derart aufbe­reiten, dass es einfach wird, statt schwierig? Aber geht »ein unvor­be­rei­tetes Publikum« überhaupt in einen solchen Film? Und was ist mit dem »vorbe­rei­teten Publikum«? Hat es nicht auch ein echt auf einen Film, der sich an es richtet?

Was genau möchten, die, die so klagen? Vorge­kautes Fast Food? Sie selbst können einen Doku­men­tar­film nicht von einer »Doku­men­ta­tion« unter­scheiden.

Aber Filme für Anfänger in der Kunst­ge­schichte finden sich zuhauf auf YouTube.

+ + +

1623, mit erst 24 Jahren wurde Velázquez zum Hofmaler von König Philipp IV. ernannt und verblieb in dieser Position bis zu seinem Tod. Dabei vermied es Velázquez, seine könig­li­chen Modelle zu idea­li­sieren. Bei Adel und Klerus machte der uner­bitt­liche Natu­ra­lismus des Malers nicht halt. Nachdem Papst Innozenz sein um 1650 entstan­denes Bildnis inklusive der leicht verbit­terten und herri­schen Züge sah, soll er »troppo vero« ausge­rufen haben – »allzu wahr«.

Die Kommen­tare der Spezia­listen verfallen diese niemals in pedan­ti­sche Gelehr­sam­keit. Sie spinnen einen biogra­fi­schen Faden, den die Stimme des fran­zö­si­schen Schau­spiel­stars Vincent Lindon im Off vorträgt, und berei­chern unser Wissen über Velázquez’ Leben und unser Vers­tändnis seiner emble­ma­tischsten Werke.

+ + +

Doch der Regisseur geht weiter: Er zitiert auch Kino, Literatur, und das Theater, um über Velázquez zu sprechen. Vor allem aber zeigt er die außer­ge­wöhn­liche Vielfalt der Gemälde dessen, der Könige und Mächtige ebenso porträ­tierte wie Arme und Ausge­stoßene, getrieben von einem unab­läs­sigen Streben nach Wahrheit. Einige Werke werden im Detail analy­siert, etwa die berühmten »Meninas«, die »Hoffräu­lein«, eines der komple­xesten, faszi­nie­rendsten Werke der Kunst­ge­schichte, in dem der Maler selbst zu sehen ist, ein wahres Manifest der Malerei (s.u.). So offen­baren sich Velazquez' Sinn für Kompo­si­tion wie auch seine Aufmerk­sam­keit für Details, seine Kunst, Licht und Schatten einzu­fangen, sein Farb­ge­fühl, seine Nutzung von Leere und Off-Screen-Raum, seine Art, den Betrachter in das Bild einzu­be­ziehen, während extreme Nahauf­nahmen die Pinsel­striche und die Dichte der Farb­ma­terie sichtbar machen.

Ein wesent­li­ches Ziel des Doku­men­tar­films ist es, die Werke zu zeigen, die er angeregt hat und weiterhin anregt – bis hin zu den großen Malern der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts wie Picasso, der eine ganze Serie den »Meninas« widmete, oder Francis Bacon, den allein das Porträt von »Innozenz X.« zu etwa fünfzig Gemälden inspi­rierte. Durch Velázquez erzählt der Film die ganze Kunst­ge­schichte und zeigt die außer­ge­wöhn­liche Moder­nität eines Künstlers, der von Spiegeln faszi­niert war – der Erste, der mit solcher Schärfe über die Macht des Blicks und die Ambi­va­lenz der Position von Maler und Betrachter im Bild nach­dachte.

+ + +

1656 malte Velazquez dann sein Opus magnum, die »Meninas«: Die entschlos­sene Infantin Margarete im Zentrum des Bildes, umgeben von Hofzwergen und ihren Diene­rinnen. Ihre Eltern, das Königs­paar Philipp IV. und Marianna ganz klein im Hinter­grund. Vermut­lich auf einem Spiegel. Aber ist das ganz sicher? Die Anordnung des Bildes – der König rechts, die Königin links – spricht eher dafür, dass es sich um ein Gemälde handelt. Aber wenn es ein Spiegel ist, was zeigt er dann? Die Gelehrten streiten sich, ob er das reflek­tiert, was der Maler gerade malt, oder die, die er betrachtet – was viel­leicht dasselbe wäre – oder die die das Gemälde betrachten: Uns! Sind wir also die Könige?

Die Bild­achsen und Flucht­punkte sind unklar. Viel­leicht geht es hier gerade darum, dass das Hin und Her der Blicke nie zum Ende kommt. Viel­leicht hat Foucault recht, wenn er zu Beginn seines Haupot­werks »Die Ordnung der Dinge« dieses Bilsd analy­siert, und fest­stellt, dass sich hier die »reine Reprä­sen­ta­tion« ausdrückt.

Das Geheimnis von Velázquez ist vor allem ein Film, der große Lust macht. Zum Beispiel auf eine Reise nach Madrid, zum Prado, um dort dem Geheimnis von Velázquez persön­lich zu begegnen.