Geschichten hinter Wänden

Kabe no naka no himegoto

Japan 1965 · 80 min.
Regie: Koji Wakamatsu
Drehbuch: ,
Kamera: Hideo Itoh
Darsteller: Nobuko Yamabe, Hiroko Fujino, Takao Zamabe, Takao Yoshizawa, Kazuko Kano, Mikio Terashima
Zarte Sinnlichkeit und Depression

Moralische Erzählung

Ein nicht mehr ganz junges Paar liegt im Bett. Die beiden, die offenbar nicht verhei­ratet sind, reden mitein­ander; durch ihr Gespräch ziehen sich Verweise auf ihre Oppo­si­tion zum westlich-kapi­ta­lis­ti­schen System der japa­ni­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft, zeigt sich vor allem aber die melan­cho­li­sche Trauer um die private Vergan­gen­heit des Paares und um Versäum­nisse, die nicht wieder gut zu machen sind. An der Wand des Zimmers hängt ein Porträt von Joseph Stalin. Der Mann ist offenbar ein Strah­len­ver­letzter, und weil er nackt ist, sieht man seine schwä­rende Strah­len­wunde umso deut­li­cher. Die folgende Szene zeigt das Paar beim Sex und über­blendet auf Bilder aus Hiroshima und von Atom­ex­plo­sionen.

Die spannende Rezep­ti­ons­ge­schichte von Koji Waka­matsus Geschichten hinter Wänden ist ein Kapitel für sich. 1965 eröffnete er den Wett­be­werb der »Berlinale« und sorgte umgehend für einen heftigen Skandal. Sein­er­zeit sah man den Film, ganz im Gegensatz zum Auswahl­kom­mitee, selbst in weiten Teilen der Film­kritik als »speku­la­tiven Sex-Schocker« und ließ sich kaum auf die gegen­warts­kri­ti­schen Aspekte des Werks ein. Der Film startete zwar 1966, wurde aber indiziert und insofern nur unter dem Aspekt sexueller Tabu­brüche und den bekannten »Sex in Japan«-Klischees gesehen. Offenbar war die bundes­deut­sche Gesell­schaft 20 Jahre nach Kriegs­ende und zwei Jahre vor dem Beginn der Kultur­re­volte von 1968 sowie der ihr folgenden »Sexuellen Revo­lu­tion« für Waka­matsus Kombi­na­tion aus frei­zügigem Sex, linker Politik und Sozi­al­kritik noch nicht reif – oder aber, ganz in Gegenteil, gerade allzu reif für das provo­ka­tive Potenzial des Films, ähnlich wie das gleich­falls von Faschismus, Kriegs­nie­der­lage, Wirt­schafts­boom und US-ameri­ka­ni­scher Besatzung geprägte und massiv verän­derte Japan.

Als heraus­for­dernd wirkt im Rückblick weniger die – aus damaliger Perspek­tive viel­leicht sehr offene, aus heutiger Sicht eher scham­hafte und zurück­hal­tende – Darstel­lung der Sexua­lität als vielmehr die unver­klä­rende Darstel­lung des depres­siven Alltags der bürger­li­chen Gesell­schaft und der ihr inne­woh­nenden latenten Gewalt. Geschichten hinter Wänden verschränkt öffent­liche und private Geschichte, bietet ein Sitten­bild des modernen Lebens in Japan im Schatten von Hiroshima und Kaltem Krieg – und damit indirekt des Lebens in den technisch fort­ge­schrit­tenen, moralisch und politisch mit diversen inneren Wider­sprüchen kämp­fenden Gesell­schaften des Westens. Vor der erwähnten Eingangs­szene infor­miert ein ausführ­li­cher Vorspann im Stil einer (pseudo-)doku­men­ta­ri­schen Sozi­al­re­por­tage über »Japan – heute«. Dieser verweist auf die Anony­mität der Traban­ten­s­tädte einer verwal­teten Welt, auf »wachsende Unzu­frie­den­heit« und »die Gefahr einer sozialen Krise«. Der folgende Film zeige, so heißt es, das »Leben in den Wohn­ma­schinen, die heute das Gesicht der Städte in aller Welt prägen«. Den Titel erklären Garcia-Lorca-Zitate: »Es gibt Dinge, die hinter Wänden einge­sperrt sind und die sich nicht ändern können, weil niemand sie hört. Aber wenn sie plötzlich heraus­kämen und schrien, so würden sie das All erfüllen.«

Der eigent­liche Film spielt dann voll­s­tändig in einem modernen, viel­s­tö­ckigen Vororts­wohn­block. Dort lebt die alternde Ehefrau des Anfangs, die sich über ihre unglück­liche Ehe und allge­meine Frus­tra­tion durch das Verhältnis mit ihrem Jugend­freund tröstet – beide leiden unter dem Verlust ihrer Ideale. Die anderen Wohnungen sind mit Einsamen und Gleich­gül­tigen bevölkert. Allge­gen­wärtig sind eine depres­sive Grund­stim­mung, die Hoffungs­lo­sig­keit der Älteren und die soziale Kontrolle, unter der vor allem die jüngere Gene­ra­tion leidet. Das einzige, was für diese Gesell­schaft zu zählen scheint, ist Geld­ver­dienen und Karriere. Das zeigt sich besonders am Fall einer Familie, deren Sohn sich auf die Aufnah­me­prü­fung an der Univer­sität vorbe­reitet, und auf dessen zukünf­tige Karriere sich alle Hoff­nungen seiner Eltern richten. Doch statt zu lernen, verbringt er immer mehr Zeit damit, dass er Haus­nach­barn durch ein Fernrohr beob­achtet und versucht, die Geschichten hinter den Wänden zu erkunden. Am Ende entlädt sich der aufge­staute Frust zumindest einer Figur in Form eines blutigen Amoklaufs. Eher zufällig entstanden, verwan­delt dieser sich am Schluss in eine Meldung in der Zeitung und wird dadurch wieder allgemein.

Zuvor wird man Zeuge von Skizzen des Alltags, Moment­auf­nahmen aus Tristesse, Entfrem­dung und Ausweg­lo­sig­keit, die in ihrer Nüch­tern­heit, Lakonie und depres­siven Grund­at­mo­s­phäre der spät­exis­ten­zia­lis­ti­schen Zeit­stim­mung der 1960er-Jahre entspre­chen und mitunter an den Antonioni von L’avventura, L’eclisse und La notte erinnern – freilich erreichen sie visuell nur selten dessen Präzision. Die Bilder sind doku­men­ta­ri­scher gehalten, nehmen zwischen­durch selbst die Position des Voyeurs ein. Zugleich erzählt der Regisseur über weite Strecken dezent, in klarer, ruhiger Bild­sprache. Wie er seine Sicht auf die jüngere Geschichte seines Landes ins Symbol­hafte überführt, erweckt Bewun­de­rung. Trotz doku­men­ta­ri­scher Nüch­tern­heit imitiert er nie die doku­men­ta­ri­sche Haltung, verbindet glänzend Poesie und Verismus. Der hier­zu­lande fast unbe­kannte Regisseur Koji Wakamatsu, Jahrgang 1936, gehörte bis zu seinem Tod letzte Woche zu den wichtigen Inde­pend­ents der japa­ni­schen Film­ge­schichte. Seit 1963 hat er ein Werk von über 100 Regie­ar­beiten geschaffen. Sie kreisen oft um das verein­samte Leben der Nach­kriegs­welt, zeigen Ausge­schlos­sene, die die Welt, die sie verachtet, mit Gewalt bekämpfen. So erscheint Geschichten hinter Wänden als zu Unrecht über­se­hener Klassiker des japa­ni­schen 1960er-Jahre-Kinos, zu dessen Wieder­ent­de­ckung sich jetzt die über­fäl­lige Chance eröffnet – ein sehens­werter und trotz des zeit­li­chen Abstands, der die heutige Zeit von der Situation im Jahr 1965 trennt, aktueller Film.