Frankreich 2017 · 110 min. · FSK: ab 16 Regie: Bertrand Mandico Drehbuch: Bertrand Mandico Kamera: Nicolas Eveilleau Darsteller: Pauline Lorillard, Vimala Pons, Diane Rouxel, Anaël Snoek, Mathilde Warnier u.a. |
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Die wilden Jungs |
Selten entwirft das Kino heute halluzinogene Fieberträume. Themenfilme, auch in der Fiktion, und illusorischer Realismus, der uns über die Welt »unterrichtet«, treten immer mehr an die Stelle der hohen Kunst des Imaginären. Und wenn es einmal evasiv sein darf, dann treten Superhelden aus einem Franchise-Universe gegeneinander an, oder aber es wird mit Nickelbrille und Zauberstab gegen das Böse gekämpft. Mit The Wild Boys kommt jetzt aber ein kraftvolles Fantasy-Stück in die Kinos, das all diese Maßstäbe darüber, wie das Kino von heute zu sein hat, hinter sich lässt. The Wild Boys ist beunruhigend, hypnotisch, verwirrend, ungezähmt und packend zugleich, ein wildes Kino. Sein Regisseur ist der französische Experimentalfilmemacher Bertrand Mandico, der bislang, immerhin zwanzig Jahre lang, nur Kurzfilme realisiert hat, und dessen spätes Langfilmdebüt von den »Cahiers du Cinéma« als einer der besten Filme des letzten Jahres gefeiert wurde. The Wild Boys lässt den Abenteuerfilm mit dem Erotikfilm, den Film noir mit dem Fantasy verschmelzen, ist überbordend und absolut frei in seinen ästhetischen Mitteln.
Mandico hat 2012 zusammen mit der der isländischen Filmemacherin Katrin Olafsdotir ein Manifest verfasst, das Incoherence Manifesto. In ihm legt er ein undogmatisch gemeintes Bekenntnis zur ästhetischen und dramaturgischen Inkohärenz ab: »Inkohärent zu sein bedeutet, an das Kino zu glauben und einen romantischen Ansatz zu haben. Der inkohärente Film ist unformatiert, frei, verstörend und traumhaft, ist kinogen und episch. Er ist ohne Zynismus, aber voller Ironie.« The Wild Boys vereint all dies, ist außerdem: ein physisch ausagiertes, sinnliches Kino, fabulös wie eine alte Geschichte, poetisch und auf eine gewisse Weise auch verzweifelt. Verzweifelt schön.
Ganz bewusst setzt Mandico sein Kino gegen den Mainstream der konventionellen Erzählweisen ein, die, nach einem gewissen Erfolgsrezept angefertigt, alle irgendwie ähnlich sind, aber auch gegen die Arthouse-Filmfabrik, die uns mit bürgerlichen Filmen überhäuft. Gemäß dem Inkohärenz-Credo folgt The Wild Boys einer subliminalen Traumlogik, ist hypnotisch und betörend, eine Fantasie mit einem schwer zu fassenden, märchenhaften Plot. Der Film handelt, grob gesagt, von fünf Jungen aus gutem Hause, die auf der Insel La Réunion okkult-erotische Rituale vollziehen, bis es zu einem Sexualverbrechen an ihrer Lehrerin (Nathalie Richard) kommt. Zur Bestrafung werden sie von ihren Eltern einem Kapitän übergeben, der die Unzüchtigen mit strenger Hand zu Zucht und Ordnung bringen soll. Bald kommt es zu einer Meuterei, und die Jungen landen auf einer Insel mit magischen Pflanzen, unter deren Zauberkraft sie die homoerotische Sexualität entdecken.
Das klingt nicht von ungefähr wie ein durchgeknalltes, etwas schlüpfriges und so auch fieberhaft-evasives Film-Hybrid aus Versatzstücken von William Golding, Jules Verne und Robert Louis Stevenson. Sein Urheber ist jedoch ein ganz ein anderer, Beatnik William S. Burroughs, dessen Roman »The Wild Boys: A Book of the Dead« (1971) die Vorlage für den Film lieferte. Burroughs hatte sich immer eine Verfilmung seines Buches gewünscht, seinen Vorstellungen nach sollte es ein Hardcore-Porno werden. Daraus wurde auch bei dem Grenzen sprengenden Mandico nichts, aber sein Film ist hinreichend erotisch, sexuell verwirrend und kreativ ungezügelt, um die Reise der Jungen als ungehörige Initiation ins Reich der Sinne zu erleben. Besetzt hat Mandico die Rolle der »wilden Jungs« mit den androgynen Schauspielerinnen Vimala Pons, Pauline Lorillard, Diane Rouxel, Anaël Snoek und Mathilde Warnier, was die sexuellen Rollenzuschreibungen zusätzlich verflüssigt und zu einem unaufhaltsamen Genderglissando werden lässt, in dem ein Geschlecht ins andere wechseln kann, wie in einer unendlichen Ovid'schen Metamorphose, die alle Gestalten umfasst. Erste Entzückungen werden so auch mit phallischen Pflanzen-Anemonen erfahren, aus denen weiß der Saft spritzt. Dieser enthält ein weibliches Hormon, das aus den Halbstarken empfindsam-weiche Wesen machen soll.
Das eigentliche Abenteuer findet jedoch weniger in der typischerweise kruden Märchenhandlung, denn auf ästhetischer Ebene statt. The Wild Boys wartet mit einem reichhaltigen Fundus an Anspielungen an die Stummfilmära auf und kinematographischer Inkohärenz, was den Film zur betörenden Initiation ins experimentelle Erzählen werden lässt. Gefilmt hat Mandico seine überbordende, barocke Entdeckungsreise auf 16mm, arbeitet dabei ähnlich wie Guy Maddin in seinem letzten Film The Forbidden Room mit Einfärbungen des Schwarzweiß-Materials, wie man sie aus der Stummfilmzeit kennt, entlässt den Film aber immer wieder in Farbexplosionen, die an das Technicolor der Piraten- und Abenteuerfilme der 60er Jahre erinnern. Dazu kommt ein betörender Soundtrack, der wie im Stummfilm das Geschehen auf der Leinwand narrativ trägt, wie auch die Stimme des jugendlichen Off-Erzählers für den großen Zusammenhang sorgt. Und hier lässt sich im ästhetischen Füllhorn dann doch Kohärenz erfahren.