Eine Frau mit berauschenden Talenten

La daronne

Frankreich 2020 · 106 min. · FSK: ab 12
Regie: Jean-Paul Salomé
Drehbuch: ,
Kamera: Julien Hirsch
Darsteller: Isabelle Huppert, Hippolyte Giradot, Farida Ouchani, Liliane Rovère, Iris Bry u.a.
Pokerface-Begegnung im Supermarkt
(Foto: NEUE VISIONEN)

Bitte ein Lächeln, nur eins!

Jean-Paul Salomé presst die literarische Vorlage zu seinem Film in ein konventionelles Korsett, das nur die Oberflächen, aber keine Tiefen bedient

Gemeinhin werden selbst schlechte Filme mit Isabelle Huppert gelobt. Denn wenn schon alles andere nicht stimmt, so ist es dann doch stets und immer »die« Huppert, die den Karren aus dem Dreck reißt. So könnte man, wenn man denn wollte und wie viele es auch machen, auch mit der neuen Krimi­komödie von Jean-Paul Salomé sein kleines Glück versuchen, eine Komödie, die übrigens im Original den erheblich eindeu­ti­geren, bösar­ti­geren Titel »La Dardonne« (Die Alte) trägt. Viel­leicht hatte man im deutschen Verleih die Angst, dass damit die Referenz auf eines der bekann­testen deutschen Krimi-TV-Formate, »Der Alte«, zu groß ist oder viel­leicht wollte man einfach nur ein bisschen mit den Worten spielen. Obwohl, das sei schon jetzt angemerkt, das erzäh­le­ri­sche und filmische Niveau von Salomés Film gar nicht mal so weit von dem ZDF-Klassiker entfernt ist.

Denn anders als in der lite­ra­ri­schen Vorlage von Hannelore Cayre, die in ihrem Roman nicht nur die Geschichte einer für die Polizei und vor allem das Drogen­de­zernat arbei­tenden Über­set­zerin schildert, die dann en passant die Seiten wechselt, sondern genauso nebenbei auch noch von der abge­hängten Mittel­klasse Frank­reichs und fran­zö­si­scher Kolo­ni­al­ge­schichte berichtet, presst Jean-Paul Salomé das Buch in ein sehr konven­tio­nelles Korsett. Anders als in Cayres Roman und anders als in dem »modernen Klassiker« des mora­li­schen Seiten­wech­sels schlechthin, in Vince Gilligans Breaking Bad, bleiben sowohl die gesell­schaft­li­chen Brenn­punkte außen vor bzw. werden alte Stereo­type repro­du­ziert, tauchen Menschen mit alge­ri­schem Hinter­grund, tauchen Menschen mit chine­si­schem Hinter­grund, tauchen Drogen­netz­werke auf, ohne dass diese Entwick­lungen auch nur im Ansatz vertieft werden. Statt­dessen werden diese Einsichten einem nicht immer ganz einsich­tigen, flachen Humor geopfert, der weder schwarz, noch weiß, ja nicht einmal bunt ist.

Umso mehr ruht die Kamera, fokus­siert der ganze Plot auf die Dolmet­scherin und Über­set­zerin Patience (Isabelle Huppert), die ihre fragile Finanz­lage ein wenig aufbes­sern möchte, um Kind, Kegel (und Mutter) weiterhin finan­zieren zu können. Ihr schnelles Über­gleiten in eine andere Welt goutiert sie mit der gleichen stoischen Miene, mit der sie auch am Anfang des Films dasteht, ja, wenn man einmal genau hinsieht, ist es eigent­lich jene Mimik und jene unter­kühlte Gestik, die sich Isabelle Huppert in den letzten Jahr­zehnten mehr und mehr als Allein­stel­lungs­merkmal erspielt hat und von dem sie nun scheinbar nicht mehr abzu­wei­chen gedenkt. Wer sich nicht mehr erinnern sollte: Isabelle Huppert kann tatsäch­lich mehr als die unnahbare, verbit­terte, verkan­tete, verstärkte oder verblas­sende Frau spielen, ja, sie kann sogar leiden­schaft­lich lachen, verträumt blicken, Roll­schuh­fahren und tanzen. Und wer das nicht glaubt, der sollte unbedingt den Blick auf einen anderen Klassiker werfen, auf Michael Ciminos Heaven’s Gate (1980), auf den auch die im letzten Satz anzi­tierten Youtube-Links verweisen.

Denn diese schau­spie­le­ri­sche Band­breite, die Huppert hier am Anfang ihrer Karriere zeigt, hätte den Film viel­leicht sogar aus seiner Mittel­mäßig­keit gerissen, hätte ihn dann wirklich zu einem kleinen fran­zö­si­schen, über­ra­schend grotesken »Breaking Bad«-Remake werden lassen. Verdient hätte das die Geschichte alle Male.

Die alte Tante lässt es krachen

Eine lustige Routine-Rolle für Isabelle Huppert: Eine Frau mit berauschenden Talenten ist eine mitunter subversive Komödie über die alltägliche Amoral unseres Lebens

Das zuckende Display einer Tonspur ist das erste, was man sieht. Schnell beherrscht dann Isabelle Huppert das Leinwand-Bild: Beweglich, mit schicker Leder­jacke, ist sie die einzige Frau in einer Männer­welt. Das Drogen­de­zernat der Pariser Polizei belauscht gerade ein paar Drogen­dealer per Wanze, die man offenbar, so lässt es der Film erscheinen, inzwi­schen überall und jederzeit akti­vieren und damit jeden Belie­bigen belau­schen kann. Kurz darauf stürmt man die Wohnung der Über­führten. Huppert heißt in diesem Film Patience. Routi­niert zieht sie sich eine schuss­si­chere Weste über, bevor sie hinterher kommt. Sie ist nicht etwa die Chefin, sondern die Dolmet­scherin der Polizei. Kühl, aber nicht ohne Empathie blickt Patience auf die zwei bei der Razzia Fest­ge­nom­menen, die nun in Hand­schellen vor ihr sitzen. Als Dolmet­scherin wird sie Zeugin von vielem, auch einer unan­ge­mes­senen Behand­lung der Inhaf­tierten. Ande­rer­seits erfährt sie selbst auch umgekehrt Belei­di­gungen.
Schnell versteht man: Patience ist ausge­laugt. Sie hat ihre Arbeit satt. »Ich frage mich, was aus mir werden soll« sagt sie zu ihrem Chef Philippe (Hippolyte Girardot), mit dem sie seit Jahren ein Verhältnis hat. Er behauptet: »Ich werde mich um dich kümmern.« Man sieht darauf ihren freund­lich-skep­ti­schen Blick – niemand kann so ironisch-wissend blicken, wie Isabelle Huppert – und weiß alles um diese prag­ma­ti­sche Beziehung.

Schnell kennt man auch die Eckdaten ihres übrigen Privat­le­bens: Patience lebt in Belle­ville, diesem 20. Arron­dis­se­ment, das längst vom klein­bür­ger­li­chen »urfran­zö­si­schen« Quartier im Pariser Osten zum Einwan­de­rer­viertel mutiert ist: Einer­seits Problem­be­zirk, ande­rer­seits trendig wegen der bunten Vielfalt und dem »Chinatown« der fran­zö­si­schen Haupt­stadt. So wohnt Patience in einem Appar­te­ment­block aus den 50ern, als einzige Französin unter lauter chine­si­schen Einwan­de­rern.

Patience ist geschieden, die zwei Töchter erwachsen und aus dem Haus, die Mutter dauerhaft auf einer Pfle­ge­sta­tion im nahe­ge­le­genen Kran­ken­haus. Patience muss sich um das alles kümmern – zusammen mit der Pflegerin Khadidja (Farida Ouchani), die sich rührend um die Mutter bemüht. In diesen Momenten schälen sich bereits vage die Konturen dieses im Großen und Ganzen ziemlich bere­chen­baren Plots heraus: Denn tatsäch­lich ist dies auch ein Film, der viel von der fran­zö­si­schen Gesell­schaft erzählt, ihren Gruppen, ihren Debatten, ihren Vorur­teilen. Das weiße Frank­reich und das migran­ti­sche, vor allem arabische.
Dieses hat zwei Seiten: Die derje­nigen, die die unge­liebten, oft genug schmut­zigen und schlecht bezahlten Arbeiten für die besser gestellten Franzosen erledigen. Und die andere: Der Klein­kri­mi­nellen, der Banden, und der Gangster. Auf den ersten Blick scheint dieser Film vor allem auch all jene Klischees zu bestä­tigen, die wir in diesem Zusam­men­hang sowieso schon im Kopf haben: Drogen­dealer, die immer wieder aus den gleichen Ländern kommen, die den Steu­er­zahler viel Geld kosten, denen kaum etwas nach­zu­weisen ist, und die die Gesetze und liberale Bürger­rechte einseitig zu ihren Gunsten ausnutzen, Behörden und Akteure gegen­ein­ander ausspielen.
Doch weil Patience fließend Arabisch spricht, ist sie näher dran an beiden und den Menschen, die sie ausmachen. Sie liebt arabische Musik und ist längst infiziert von der anderen Kultur. Und schnell weitet auch der Film den Blick, und wird heiterer, verträumter – ohne an Spannung einzu­büßen. Denn durch ihre Arbeit kommt Patience selbst einem tonnen­schweren Drogen­ver­steck auf die Spur, und beschließt, das Haschisch auf eigene Kosten zu verkaufen – schließ­lich muss das Pfle­ge­heim bezahlt werden, Mietrück­s­tände und die Steu­er­schulden ihres Exmannes. Schnell wird sie zur geheim­nis­vollen »Madame Weed« des Viertels. Für die schweren Jungs aus den Clans ist sie »die irre Tante«.

So wandelt sich Jean-Paul Salomés Film Eine Frau mit berau­schenden Talenten – im Original heißt der Film »La Daronne«, was so viel wie »Die Alte« bedeutet – vom Poli­zei­thriller zu einer mitunter subver­siven Komödie um eine ältere Frau, die sich mit Verstand und Amoral in einer Welt durch­schlägt, die nichts Besseres verdient hat und in der keinem etwas geschenkt wird.

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Isabelle Hupperts Auftritt und der Charakter ihrer Figur stehen dabei ganz im Zentrum: Mit links vermag Huppert eine Frau zu spielen, die fast 20 Jahre jünger ist, als sie selbst. Lose basierend auf einem Roman von Hannelore Cayre ist dies ein Plädoyer gegen mora­li­sche Verbis­sen­heit und für die alltä­g­liche Amoral des Lebens. Einmal bringt es Patience locker auf den Punkt: »Ganz schön proble­ma­tisch diese Ehrlich­keit immer, nicht wahr?«

Tatsäch­lich proble­ma­tisch an diesem schönen Film ist, dass er zwar keine Konzes­sionen an den mora­li­sie­renden Zeitgeist macht, sehr wohl aber an das vorherr­schende Bild der Araber. Die sind hier über­wie­gend Gangster und Banden­kri­mi­nelle, tragen Sala­fis­ten­bart und sie machen genau das, was Vorur­teils­be­la­dene von ihnen erwarten.

Eine weitere, ehrliche, aber unbequeme Wahrheit fällt am Schluss: Da erzählt Patience’ chine­si­sche Nachbarin, was die Chinesen tun, wenn sie »Ärger mit Gesindel« haben: »Früher haben wir immer die Polizei gerufen. Aber zu uns Asiaten kommt sie nie. Deshalb regeln wir die Probleme jetzt selbst.«

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So sind auch die Chinesen hier mal wieder »anders« als die weißen Franzosen, und mit der Welt des Verbre­chens viel vertrauter als jene.
Nicht nur in dieser Haltung ist Eine Frau mit berau­schenden Talenten recht typisch für den Trend des gegen­wär­tigen Kinos in Richtung Senio­ren­kino. Dieser Film bietet auch eine Haupt­figur, die weiblich ist, die »es nochmal wissen« will, die »nicht zu alt für eine Verän­de­rung ist«, und die »es den Jungen nochmal zeigt«.

Das Verbre­chen als Form der Selbst­ver­wirk­li­chung – dafür, dass all das nicht nur die Ziel­gruppe vergnü­g­lich glucksen lässt, sorgt vor allem Isabelle Huppert als Zentrum dieser One-Woman-Show.