In den besten Händen

La fracture

Frankreich 2021 · 99 min. · FSK: ab 12
Regie: Catherine Corsini
Drehbuch: , ,
Kamera: Jeanne Lapoirie
Darsteller: Valeria Bruni Tedeschi, Marina Foïs, Pio Marmaï, Aïssatou Diallo Sagna, Jean-Louis Coulloc'h u.a.
Großartig bärbeißig: Valeria Bruni Tedeschi
(Foto: Alamode)

Der Klassenkampf im Krankenstand

Catherine Corsinis Krankenhauskomödie La fracture ist ein höchst vergnügliches und hellsichtiges Kammerspiel über die französischen Zerwürfnisse

Als zeris­senes Land erwartet Frank­reich jetzt wieder einmal die Stichwahl zwischen Skylla und Charybdis. Wenn die fast 50 Millionen Wahl­be­rech­tigten am kommenden Sonntag in Direkt­wahl entweder den neoli­beral-neokon­ser­va­tiven Emmanuel Macron oder aber die rechts­ex­treme Marine Le Pen ins Präsi­di­alamt hieven, geht es auch um nichts weniger als Europa, Putin und den Ukrai­ne­krieg. Und um die Houel­le­becque'schen Thesen vom Ausein­an­der­fallen der Gesell­schaft.

wahldemo
»Ich mag Marine nicht, ich ziehe Farben vor« – Wahl-Demo in Bordeaux (Foto: privat)

Es wird so auch eine Wahl der »kleinen Leute« sein, die sich vom elitären ENS-Absol­venten Macron nur bedingt reprä­sen­tiert fühlen, und der schnö­se­ligen Franzosen, die sich ihren Rotwein zurück­wün­schen. Die meisten aber schaffen es ohnehin nicht zur Wahlurne, oder sie wählen ungültig: »Rhum tradi­ti­onnel« oder »Rhum agricole«, das ist hier die Frage.

Voter en France
(Foto: privat)

Das ist aber auch dada­is­ti­scher Stin­ke­finger. Ähnlich dada-gaga-istisch geht es in der Polit­komödie von Catherine Corsini zu, die in einer Pariser Notauf­nahme spielt. La fracture heißt sie im Original, »der Bruch« (im Deutschen heißt sie leider sehr wohlfeil und, nur wenn man den Film schon gesehen hat, auch ironisch: In den besten Händen). Gebrochen ist hier vieles. Zunächst einmal der Arm von Raphaela, mit Virtuo­sität und Lust an Molière'scher Misan­thropie performt die großar­tige Valeria Bruni Tedeschi die Comic­zeich­nerin, die fürchtet, »nie wieder« arbeiten zu können und nun etwas ganz anderes – wenig Erfül­lendes – machen zu müssen. Dann Raphaelas Beziehung, was ihr nicht nur das Herz brechen ließ, sondern auch ihre beruf­liche Existenz ist gefährdet: Ihre Ex Julie (Marina Foïs) ist die Verle­gerin von Raphaelas Zeich­nungen.

Die Zustände in der Notauf­nahme sind kata­stro­phal, typisch fran­zö­sisch. Die Gänge sind voll­ge­stellt, es wird durch­ein­ander geredet, das Personal ist über­for­dert, man muss sich selbst ein Bett erobern. Beiläufig erzählt Corsini so auch vom Kollaps des fran­zö­si­schen Gesund­heits­sys­tems, das auch nieder­schwel­lige »services sociales« anbietet für das Sozi­al­prä­ka­riat, das sich das »Régime Général« nicht leisten kann (die allge­meine Kran­ken­ver­si­che­rung übernimmt nur bis zu einem bestimmten Prozent­satz die Kosten von ärzt­li­chen Eingriffen, zusätz­liche sollte man mit einer »Mutuelle« abdecken). Hier, im Pariser Kran­ken­haus, versam­melt sich der soziale Melting Pot Frank­reichs – in der Stadt ist eine Großdemo der Gelb­westen im Gange, immer mehr Verletzte landen in der Notauf­nahme. Was die Zustände zusätz­lich chao­ti­siert.

Dabei ist die große Gesund­heits­krise, die »crise sanitaire«, wie Frank­reich die Corona-Krise nannte, noch gar nicht da. Die Gelb­westen-Proteste erschüt­terten im November, Dezember 2018 ganz Frank­reich – der nächste Bruch, um den es in La fracture geht, ist der soziale. Zwischen den herein­strö­menden Gelb­westen, die selbst­or­ga­ni­siert Kaffee aus Ther­mos­kannen ausschenken und sowieso total vernetzt und alarmiert wirken, hält sich nun also Raphaela aka Bruni Tedeschi auf einer Bahre im kran­ken­häus­li­chen Mikro­kosmos den schmer­zenden Arm. Sie ist das raustim­mige Epizen­trum des ganzen Chaos um sie herum und produ­ziert selbst noch weiteres Chaos, weil sie nicht will, dass ihre private Welt ausein­an­der­bricht.

Raphaela gehört einem anderen gesell­schaft­li­chen Stand an als die meisten Menschen auf der Notauf­nahme. Sie ist Teil der links­in­tel­lek­tu­ellen Bour­geoisie und schaut mit despek­tier­li­chem Blick auf die Gelb­westen, die sich auf der Station breit­ma­chen, während ihr eigener Sohn auf der Demo ist – obwohl sie es ihm verboten hatte. Zum Symbol des Klassen-Kollaps gereicht der Agnès-B.-Designer-Mantel, mit dem mal kurz die Kotze von Raphaela aufge­wischt wird, als es ihr wirklich schlecht geht. Valeria Bruni Tedeschi ist das narrative Vehikel des Films, an das sich allerlei Beob­ach­tungen und Begeg­nungen anheften lassen, aus ihrer Perspek­tive wird auf die Gestran­deten geblickt – eine sehr simple, mori­ta­ten­hafte Erzähl­si­tua­tion, die große Wirkung entfaltet.

Es kommt dann noch zum verbalen Klas­sen­kampf im Kran­ken­zimmer, der am Ende die buchs­täb­liche Heil­lo­sig­keit der Gesell­schaft manifest macht. So ist Corsini auf engstem und chao­ti­schem Raum ein zugleich komö­di­an­ti­sches und sozi­al­pes­si­mis­ti­sches Kammer­spiel geglückt, das auf nichts weniger abzielt als auf ganz Frank­reich und die fran­zö­si­sche Gesell­schaft. Ein vergnü­g­li­cher und hell­sich­tiger Film über die aktuelle Misere der »Grande Nation«. Bleibt nur noch zu hoffen, dass Frank­reich am Sonntag nicht in die Notauf­nahme muss.

Ein Krankenhaus als Bühne Frankreichs

Gesellschaft in der Druckkammer: Politisches Kino, wie man es in Deutschland gar nicht kennt

Schwarz­wald­klinik gegen Emergency Room – durch diese zwei klas­si­schen Seri­en­titel kann man den Unter­schied zwischen Kran­ken­haus-Darstel­lungen in Deutsch­land und in den USA deutlich machen. Im einen Fall geht es um Harmonie, im anderen um Zuspit­zung. Seitdem gibt es Dutzende von Kran­ken­haus­se­rien, eigent­lich weniger Kran­ken­haus­filme. Das Kran­ken­haus scheint also ein Schau­platz des kleinen Bild­schirms zu sein, nicht der großen Leinwand.
Wo aber steht hier Frank­reich? Viel­leicht gibt dieser Film eine Antwort.

»Der Bruch«, auf Fran­zö­sisch La fracture, heißt ein Film, der jetzt in Deutsch­land unter dem weitaus harmo­ni­scheren Titel »In besten Händen« ins Kino kommt. Aber er handelt von diesem gesell­schaft­li­chen Bruch.
Der Schau­platz ist ein Kran­ken­haus mitten in Paris. Draußen tobt eine Demons­tra­tion, die eskaliert, die Poli­zei­ge­walt macht es nicht besser, und drinnen im Kran­ken­haus stapeln sich die Verletzten, die aus allen Kreisen, Milieus und poli­ti­schen Frak­tionen stammen. So wird dieses Hospital im Film zur fran­zö­si­schen Gesell­schaft in einer Nuss­schale.

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Eine schlaf­lose Nacht, fünf Uhr morgens. Es wird ein harter Tag werden für alle in diesem Film, aus sehr verschie­denen Gründen. Eine Komödie ist das nicht, auch wenn der Trailer so klingt. Ein Paar steht kurz vor der Trennung, man bombar­diert sich mit Text­nach­richten, in denen fort­wäh­rend abwech­selnd gefleht und geschimpft wird.
Solches Auf und Ab der Gefühle und Stim­mungs­lagen ist es, das auch diesen Film bis zum Ende im Griff hält.

Positiv formu­liert kann man sagen: In den besten Händen ist Hoch­druck­kino, bei dem zahl­reiche Figuren, die eigent­lich gar nichts mitein­ander zu tun haben, durch Zufall an einem Ort aufein­an­der­treffen, den sie nicht verlassen können. Und dadurch entsteht so etwas wie ein episo­disches Porträt der fran­zö­si­schen Gesell­schaft der Gegenwart, genauer gesagt: Der Zeit der soge­nannten »Gelb­westen«-Proteste vor etwa zwei Jahren.
Was ist eigent­lich aus diesen »Gelb­westen« geworden? Erinnert man sich überhaupt noch an diese Protest­be­we­gung, die Frank­reich vor etwas mehr als zwei Jahren für kurze Zeit auf den Kopf gestellt hat. Es kam zu massiven Unruhen im ganzen Land und weit mehr als nur Fens­ter­scheiben gingen zu Bruch.

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Der Zufall, das sind Demons­tra­tionen auf der Straße und die Poli­zei­ge­walt gegen sie, die dazu führen muss, dass ein Kran­ken­haus inmitten von Paris voller Patienten überläuft und die Konflikte auf der Straße und in der Gesell­schaft im Nukleus des Kran­ken­hauses ihre Fort­set­zung finden. Denn dort werden verletzte Demons­tranten ebenso einge­lie­fert wie verletzte Poli­zisten, dort befinden sich aber auch die ganz normalen Patienten, die aus anderen Gründen da sind, sowie die Ärzte und Kran­ken­pfleger, also auch verschie­dene Schichten der Gesell­schaft und die Sicher­heits­leute, die in irgend­einer Form zwischen allen für Ordnung sorgen müssen und damit komplett über­for­dert sind.

Tatsäch­lich wird hier also von einem Bruch erzählt, dem, der sich durch die fran­zö­si­sche Gesell­schaft zieht.

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Dieser Film ist ohne Frage poli­ti­sches Kino, wie man es in Deutsch­land gar nicht kennt, wenn auch viel­leicht sehr expressiv und in mancher Hinsicht simpli­fi­zie­rend. Aber es werden doch gesell­schaft­liche Konflikte, die bei uns sehr gerne unter den Teppich gekehrt oder hinter wohl­feilen Floskeln versteckt werden, offen ausge­spro­chen. Hier zeigen sich die Unter­schiede zwischen den beiden poli­ti­schen Kulturen der Nach­bar­länder prägnant.

Ungnä­diger formu­liert könnte man aller­dings auch sagen, dass dieser Film einen hyste­ri­schen, leicht über­spannten Grundton hat, eine Dramatik und Dynamik, die künstlich erzeugt ist: Durch schnellen Schnitt, pulsie­rend treibende Musik und die unge­hemmte Konstruk­ti­ons­lust der Dreh­buch­au­torinnen, die einen Unfall und die Demons­tra­tion zum Nerven­zen­trum des Films machen.

Und dass er so, also nach dem »Schema F« jeder zweiten Streaming-Serie, alles Mögliche, das nichts mitein­ander zu tun hat, wie Kraut und Rüben zusam­men­wirft und mitein­ander verrührt: Bezie­hungs­pro­bleme verschie­denster Haupt­fi­guren, Fragen der Herkunft, Fragen der sexuellen Orien­tie­rung, Fragen der Einstel­lung zur fran­zö­si­schen Republik und Fragen der verschie­denen Ansichten zur Politik des Präsi­denten Emmanuel Macron. Insofern passt das Datum, an dem dieser Film in Deutsch­land heraus­kommt, auch perfekt zum kommenden Woche­n­ende, an dem die Stichwahl über die fran­zö­si­sche Präsi­dent­schaft statt­findet und Macron zur Wieder­wahl antritt.

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Auf welche Seite man sich da als Zuschauer oder Zuschauerin schlägt, liegt im Auge der einzelnen Betrachter.

Was in jedem Fall bleibt: Dieser Film ist großes Starkino und damit auch etwas, was in Frank­reich auf eine Weise existiert, nach der man sich in Deutsch­land nur sehnen kann.
Eine Valeria Bruni Tedeschi, um nur mal sie zu nennen, die hier eine der Haupt­rollen spielt, trägt in jede ihrer neuen Film­rollen eben auch all das hinein, was man schon jahrelang von ihr gesehen hat, und was sie mit so großen Regis­seuren wie François Ozon, um auch nur einen zu nennen, erar­beitet hat.

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Regis­seurin Catherine Corsini findet immer wieder neue Wege, wie intime Szenen mit sozialen Problem­lagen in Dialog treten können. Was man der Regis­seurin aller­dings vorwerfen muss, ist, dass sie die verschie­denen Welten, die im Prinzip recht antago­nis­tisch sind, nicht funken­s­prühend, sondern sehr mecha­nisch und fata­lis­tisch aufein­an­der­treffen lässt. Also ohne Wertung, aber mit klarem anti­po­li­ti­schem Ergebnis, wie dem Satz: »Das ist der Untergang des fran­zö­si­schen Gesund­heits­we­sens«.
Corsini versucht, die Situa­tionen zu plötz­li­chen Wendungen zu führen: Wenn Raphaëlle, genannt »Raf«, Bruni Tedeschis Figur, einem bein­am­pu­tierten Demons­tranten begegnet, mit dem sie fast im Hand­um­drehen von Feind­se­lig­keit zu Kompli­zen­schaft übergeht, bringt diese Szene sehr gut auf den Punkt, wonach Corsini zu suchen scheint. Um Span­nungen anzu­sam­meln, schürt sie sie und lässt sie umschlagen. Die Kamera kreiselt und mäandert fieber­haft, das Bild schneidet abrupt zwischen den Einstel­lungen hin und her und konstru­iert so einen reaktiven Blick auf »unvor­her­ge­se­hene Ereig­nisse«, die auf den Bild­schirm einpras­seln.

Die Mathe­matik der Konstruk­tion ist trotzdem zu ausge­gli­chen und durch­schaubar. Wir sehen eine endlose Menge an Charak­teren, Situa­tionen und Strei­tig­keiten, die in diesen Kran­ken­haus­fluren entstehen. Obwohl die Profile gut gezeichnet sind, von der Kran­ken­schwester, die einen Fami­li­en­be­such empfängt, über die Unaus­ge­gli­chen­heit eines Patienten, der am Rande des Nerven­zu­sam­men­bruchs steht, bis hin zu Menschen, die sich nur in die Demons­tra­tionen verirren, läuft vieles anein­ander vorbei ins Leere.

Die Kluft zwischen den Welten, die hier zaghaft aufein­an­der­prallen, und sich kurz­fristig gegen­seitig aner­kennen, um sich dann schnell wieder zu trennen, führt am Ende dann zu der doch recht braven Aussage, dass alles gleich bleiben wird, oben und unten.

Viel­leicht doch eine Komödie – anderer Art.