Deutschland/Belgien 2018 · 90 min. · FSK: ab 12 Regie: Oliver Schwehm Drehbuch: Oliver Schwehm Kamera: Herrmann Sowieja Schnitt: Helmar Jungmann |
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»Realität, die nichts mit der Realität zu tun hat...« |
Abschreibungsprojekte waren in den 1970er Jahren der Hit unter den Steuersparmodellen. Damit ließ sich Kapital für kostenfressende Privatinvestitionen auftreiben, und Großverdiener konnten mit hohen Verlustzuweisungen wenigstens kurzfristig unglaubliche Steuerminderungen erwirken. Auf diese Weise sind damals auch einige dubiose Filmproduktionen angeschoben worden, die gar nicht erfolgreich sein durften, es also auf schlechte Kritiken und lausige Zuschauerzahlen abgesehen hatten. Sie konnten höchstens darauf warten, dass eventuell verborgene Qualitäten eine oder zwei Generationen später in skurrilen Retrospektiven wiederentdeckt werden. Die Methode war freilich nicht auf Filmprojekte beschränkt. Als vor über 40 Jahren der schwäbische Technologiekonzern OTRAG für ein waghalsiges Unternehmen Geldgeber suchte, konnte er mittels Abschreibungsmodell beträchtliche Summen Bargeld einsammeln.
OTRAG, das klingt zunächst eher nach Hintertreppe, könnte man für eine Schurkenorganisation aus einem James-Bond-Film halten, ist aber das Akronym für die reale »Orbital Transport- und Raketen Aktiengesellschaft«, die in den frühen 70er Jahren von dem Ingenieur Lutz Kaiser gegründet wurde. Sein Plan: eine private Satellitenabschussbasis im damaligen Zaire. Mit Präsident Mobutu wurde er schnell handelseinig und bekam ein Gebiet im Südwesten des Landes von der Größe der DDR zugeteilt, und dort fand er auf einem Hochplateau das passende Gelände für seine Raketenanlage. Allerdings war die politische und mediale Resonanz auf dieses Vorhaben nicht besonders wohlwollend. Das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« bemerkte 1977 unter der Überschrift »Feuer am Himmel«, dass »ein deutscher Unternehmer im Stil des 19. Jahrhunderts eine eigene Kolonie gründet und damit die offizielle Afrikapolitik konterkariert«. Für einen deutschen Staatssekretär stand (sicher nicht zum ersten Mal) das »Ansehen der Bundesrepublik auf dem Spiel«. Ein Jahr später war der internationale Druck so groß, dass die Bundesregierung nach Mitteln und Wegen suchte, die Abenteurer zu stoppen. Publizistisch begleitet wurde sie wieder vom »Spiegel«, der nun das OTRAG-Abschreibungsmodell auseinander klaubte und ausrechnete, dass diese Raketenbasis sogar noch vom deutschen Steuerzahler finanziert würde. Und bald war’s denn auch mit dem Dschungel-Unternehmen vorbei. Woran am Ende nicht der Spiegel schuld gewesen sein soll, sondern ein reißerisch-investigativer Artikel im amerikanischen »Mädchenmagazin« Penthouse, der suggeriert, in Afrika würden die Deutschen heimlich das Raketenprogramm der Nazis wieder aufnehmen. So erklären es zumindest die Zeitzeugen in Oliver Schwehms Doku Fly Rocket Fly.
Es sind die Themen aus der Peripherie, das »Marginalisierte, Gescheiterte, nicht wirklich Anerkannte«, das den Filmemacher Oliver Schwehm (Cinema Perverso – Die wunderbare und kaputte Welt des Bahnhofskinos, MILLI VANILLI, GERMAN GRUSEL) interessiert, »Filme über das Leben in einer eigenen Realität, die nichts mit der Realität zu tun hat, wie sie das allgemeine Umfeld wahrnimmt.« Und so inszeniert er zum Auftakt von Fly Rocket Fly den 78-jährigen OTRAG-Geschäftsführer Lutz Kaiser schwebend im Wasser der Südsee, gleichsam im schwerelosen Raum, vor seiner »drei Äcker großen« Insel im
Westpazifik, die er zu seinem Altersruhesitz erkoren hat. Kaiser philosophiert ein bisschen über das Element Wasser, dann geht er an Land, duscht sich und lässt sich in der Hütte seines Südseeressorts nieder, wo das Filmteam schon einen Raum für das Interview eingerichtet hat. Kaiser gibt den Abgeklärten, der überaus gelassen und selbstbewusst über die eine oder andere Fragwürdigkeit seines Geschäfts hinweg zu formulieren weiß. Wir lernen ihn dann als großen Selbstvermarkter
kennen, als Glücksritter, als Jet-Set-King.
Ihm gleichsam als Kontrastfigur gegenüber gestellt wird alsbald sein Kompagnon Frank Wukasch, der auch von Anfang an dabei war, aber das Abenteuer ein wenig nüchterner beschreibt. Der Film erzählt nun, wie das OTRAG-Team auf dem Hochplateau eine Infrastruktur errichtete, zuerst eine Landebahn, auf der bald die Flieger einer firmeneigenen Transportgesellschaft Materialien und Ausrüstung aus Deutschland anliefern konnten, für ein
Wirtschaftsgebäude mit eigenem Restaurantbetrieb, und natürlich für die Raketenanlage selbst, deren Gerüst zunächst dennoch aus »lokalem Holz« errichtet wurde. Einer der Höhepunkte von Fly Rocket Fly ist ein Ausschnitt, in dem Mobutu mit seiner Entourage dem Team seine Aufwartung macht, um einem Testflug beizuwohnen, der dann misslingt, da die Rakete schon nach wenigen Metern aufgibt und in den Dschungel plumpst. Doch Lutz Kaiser lässt sich von
der technischen Panne nicht aus der Ruhe bringen, er geht ganz lässig zum nächsten Tagesordnungspunkt über – er lädt den Präsidenten zum Essen ein.
Diese bemerkenswerte Szene fand Oliver Schwehm im OTRAG-Firmenarchiv, das ihm frei zur Verfügung stand und den visuellen Grundstock von Fly Rocket Fly bildet. Dank des konsequent arrangierten Footage-Materials und den Einlassungen der OTRAG-Kronzeugen erzählt sich der Film fast ganz von allein – und kann locker auf Erklärkommentare und abturnende Reenactments verzichten. Dass aus Fly Rocket Fly in erster Linie ein Abenteuerfilm geworden ist, der die zeitgeschichtlichen Hintergründe und den geo- und bündnispolitischen Kontext nur anreißt, und vor allem keine Tendenz hineinbringt, das sollte man zum filmischen Konzept zählen.
Nachtrag. Was wir in Fly Rocket Fly nicht erfahren: Dass die OTRAG nach dem Zaire-Desaster in Libyen ein neues Gelände gefunden hat, wo sie ihre Testreihen unter dem Schirmherren Gaddafi fortsetzen konnte und dennoch 1984 still und leise liquidiert werden musste, mit 173 Millionen Mark Miesen. Der Aufschrei der Anleger (siehe ganz oben) soll sich aber in Grenzen gehalten haben.