Polen/Serbien/Litauen 2023 · 115 min. · FSK: ab 12 Regie: DK Welchman, Hugh Welchman Drehbuch: DK Welchman, Hugh Welchman Kamera: Radoslaw Ladczuk, Kamil Polak, Szymon Kuriata Darsteller: Kamila Urzedowska, Robert Gulaczyk, Miroslaw Baka, Sonia Mietielica, Ewa Kasprzyk u.a. |
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Film gewordene Sprache... | ||
(Foto: Plaion Pictures / Studiocanal) |
Mit der Hochzeit kippt der Film. Das Fest nimmt fortwährend gewalttätige Züge an. Frauen lästern im Hintergrund, die Braut, Jagna heißt sie, wird beim Tanzen umhergeschleudert. Die Männer greifen nach ihr, Musik schwillt und feuert die Menge unentwegt an. Drehungen, Haare fliegen, die Kamera taumelt, Menschen johlen und jubeln oder beäugen die Braut misstrauisch. »Ich bin dran!« – und schon wartet der nächste Tanzpartner, um Jagna durch den Saal zu wirbeln. Wenig später, nach der Hochzeitsnacht gefriert die Welt. Mit einer verblüffenden Kamerafahrt aus dem Fenster wird die Landschaft unter Schnee und Eis begraben und so nimmt das Unheil für die Protagonistin ihren Lauf. Jagna, die eigentlich eine Affäre mit dem verheirateten Antek hat, wird mit dessen Vater vermählt. Ihre Mutter hat sie dem reichen, älteren Bauern versprochen. Und so sieht die junge Frau nicht nur ihre Lebensträume platzen, sondern wird in der polnischen Dorfgemeinschaft Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend zu einer Verachteten. Ihr Eigensinn ist den anderen ein Dorn im Auge.
DK und Hugh Welchman, verantwortlich für Buch und Regie, haben eine starke Verdichtung der Vorlage vorgenommen. Der vierteilige Fortsetzungsroman »Chlopi« (»Die Bauern«) von Władysław Reymont erhielt 1924 den Literatur-Nobelpreis. Es ist ein sehr umfangreicher Roman, ein Nationalepos, je nach Ausgabe um die 700, 800, 900 Seiten lang, das bereits mehrfach adaptiert wurde, unter anderem als TV-Serie in den 1970ern. Von dem überbordenden Sitten- und Epochengemälde ist in der Verfilmung, die man im Deutschen schwülstig Das Flüstern der Felder genannt hat, vor allem die Konzentration auf die Emanzipationsgeschichte Jagnas geblieben, die mit jeder Filmminute einer Katastrophe näherzukommen scheint. Was der Roman als Panorama ausbreitet, wie tief der in die Lebensrealität und Gebräuche der polnischen Landbevölkerung eintaucht – das kann in diesem Kinofilm nur angerissen werden. Aber Das Flüstern der Felder bietet ein überzeugendes Konzentrat. Er vermittelt ein Gespür für die erbitterten Kämpfe um Grund und Boden, um Ansehen in der Dorfgemeinschaft, in der die Liebe allzu oft der Zweckmäßigkeit weichen soll. Man klatscht, spottet, betet, straft, wickelt Geschäfte in Hinterzimmern ab. Versuche einer Befreiung werden von verkrusteten Denkmustern und Traditionen überschattet.
Neben vergleichbaren Werken wie Athina Rachel Tsangaris Harvest oder Maura Delperos Vermiglio, die jüngst in Venedig Premiere feierten, ist Das Flüstern der Felder somit ein weiteres aktuelles Werk, das sich mit derlei folkloristischen Welten und ruralen Lebenswirklichkeiten beschäftigt, um etwas über patriarchale Gewalt und eingeschworene Gemeinschaften zu erzählen. Sie zeigen, wie die Menschengruppen zum Teil mit brutaler Gegenwehr reagieren, sobald irgendjemand, egal ob von außen oder innen, die gewohnten, konservierten Sitten durcheinanderbringt oder Prozesse der Desillusionierung in Gang setzt. In Das Flüstern der Felder wird dies in einer regelrechten Hexenjagd münden, dem Versuch eines Opfers. Gewalttrieb und Aggression gegen das Andere und die Versuche einer Stabilisierung jener Ordnung sollen sich darin entladen, ehe das vergossene Blut sinnbildlich vom Regen zurück in die Enge und Zivilisation des Dorfes gespült wird. Über die Jahreszeiten hinweg findet ein zyklischer Regenerationsprozess und Gewaltenkreislauf statt, der Parteien entzweit, verstreut und für das Publikum seine Fassung verloren hat. Und genau an dieser Stelle ist die Form von Das Flüstern der Felder so ungemein faszinierend gewählt, weil sich sowohl die entworfene Narration als auch die Bildwelten gegenseitig verfremden und in Relationen setzen. Menschliches Spiel und abgefilmte Eindrücke werden einmal mehr zu animierten, eindrucksvoll detailverliebten Ölgemälden.
Nach Loving Vincent ist dies ein weiterer gelungener Versuch des Regie-Duos, Malerei über die Montage des Films zum Leben zu erwecken. Er verwandelt die Kunst der Fläche in einen illusionistisch zusammengesetzten, immersiven Raum des bewegten und sich ständig neu justierenden Filmbildes. Über 100 Maler haben daran gearbeitet und tausende Bilder erstellt. Das Flüstern der Felder schöpft dabei aus den diversen kollidierenden künstlerischen Strömungen der Zeit, in der er spielt, vor allem den Werken der Jungen Polen. Eine Datenbank mit mehreren hundert Gemälden und über 30 Künstler sollen als Inspiration gedient haben, wie das Regie-Team und Animation-Director Piotr Dominikak betonen, darunter die Künstler Ferdynand Ruszczyc und Józef Chełmoński.
Es ist kein einheitlicher Stil, der sich dort zu erkennen gibt. Vielmehr ein eigener zeitgenössischer Zugriff, der weniger konkrete Werke zitiert, wie es in Loving Vincent der Fall war, aber der Erinnerungen an bestimmte ikonische ländliche Bildwelten abruft, Essenzen filtert und zusammenfügt. Das ergibt wundervolle Szenen, gerade wenn sie den Realismus aufbrechen. Etwa wenn der Film Fantastisches und Elemente des Spuks mittels gespenstisch weißer Schlieren in einer nächtliche Wahnsequenz in das bäuerliche Milieu brechen lässt. An anderer Stelle beschwört er mit funkelnd gelben Farbtönen das Beackern oder auch Rasten im Heu der Felder. Die Sonne geht auf und unter in den kulturell eingesickerten Bildern natürlicher Idyllen, denen der Film mit seiner Erzählung jede Unschuld raubt.
In diesem Sinne ist Das Flüstern der Felder ebenso ein Werk, das gewisse Verklärungen und Überhöhungen malerischer Weltanschauungen mit Kontrasten und Brüchen versieht, hinter die oberflächliche historische Visualität der interpretierten und geformten Realitäten blickt. Es stülpt deren Kehrseiten nach außen. Die Verwendung der animierten Malerei ist deshalb weder Gimmick noch Selbstweck, sondern wird gerade im Dialog der Medien produktiv. Nicht nur zwischen der Malereigeschichte und filmischen Montage, ebenso mit den Erzählfäden des Romans.
Und es ist vor allem ein schier überwältigendes Kinoerlebnis, das man beim ersten Mal am liebsten ohne die Dialoge, sondern nur in seinen Bildern und mitreißenden Musikstücken (Łukasz »L.U.C« Rostkowski) genießen will. Es verwebt auf die Leinwand getupfte, gewaltsam gewonnene Blutflecken mit verzauberter Natur, die nüchterne Beobachtungsgabe und Milieustudie mit dem subjektiven Wahrnehmen und Empfinden. Wenn sich hier gemalte Gräser und Ähren im Wind bewegen, umherfliegende Blüten, Sporen und Vögel die Perspektiven verwirren, die Materialität der Leinwand mit der Materialität und Textur der aufgetragenen Farbe verschwimmt, zu pulsieren beginnt und mitunter erst nach einigen Momenten klar identifizierbare Bilder freigibt – dann nähert sich Das Flüstern der Felder einem rauschhaften, einem anderen, außeralltäglichen Sehen und einer höheren Realität. Kino kann hier, indem es so verblüffend zwischen den Künsten wandelt, aus dem Vollen schöpfen.
»Der Schnee fiel wie durch ein dichtes Sieb gerade zur Erde nieder, er fiel gleichmäßig, eintönig und still, breitete sich über die Dächer, Bäume und Hecken aus, wie ein gebleichtes Gewebe und bedeckte die ganze Erde mit seinen weichen Daunen.«
– W.G. Reymont, Die polnischen Bauern, Band 1 (Herbst) in der Übersetzung von Jean Paul d’Arderschah
Władysław Reymonts 1902–1908 als vielteiliger Fortsetzungsroman erschienenes Epos Die polnischen Bauern ist einer der ganz großen Romane des frühen 20. Jahrhunderts, der bei der Nobelpreisvergabe 1924 zu Recht den ebenfalls nominierten Thomas Mann ausstach. Liest man diesen über 1000 Seiten langen und in vier Jahreszeiten segmentierten und heute so gut wie vergessenen Roman wieder, überrascht nicht nur seine sogartige und überragende sprachliche Qualität, sondern neben einer kristallinen ethnografischen Bestandsaufnahme bäuerlichen Lebens vor allem die fast schon erschütternde Aktualität von Reymont.
Denn Reymont, der sich sowohl der Stilmittel des Realismus als auch des literarischen Naturalismus bedient, geht mit seinem Porträt bäuerlichen Lebens in einem damals noch gar nicht existierenden Staatsgebilde Polens des ausgehenden 19. Jahrhunderts erzählerisch sehr ungewöhnliche Wege. Er erzählt zum einen die als dramatischer Köder funktionierende Vater-Sohn-Geschichte zwischen dem reichsten Bauern vor Ort, Matheus Boryna, und die seines Sohnes Antek, die zu einem dysfunktionalen Albtraum wird, weil beide sich in die gleiche Frau verlieben, in die junge, selbstbewusste Jagna Paczesiówna, die sich zwar den Regeln der Gemeinschaft beugt und den viel älteren Patriarchen heiratet, aber nicht aufhört, ihren Leidenschaften zu folgen. Diese Leidenschaften einer modernen Frau bestehen allerdings nicht nur in der Sehnsucht nach Antek. Wie bei Theodor Fontane und seiner Effi Briest hütet sich auch Reymont vor einer moralischen Verurteilung seiner Helden, sondern zeigt sie als Teil eines überkommenen Systems. Ihr Handeln ist vor allem systemimmanent und die Kleingemeinschaft vermeintlich stärkend. Dennoch spüren alle Beteiligten, dass sich die Zeiten ändern, und nicht nur Jagna ist von einer pulsierenden, unbestimmten Suche nach der eigenen Sehnsucht und einer neuen Identität durchdrungen. Eine Suche, in der die körperliche Lust und ihre Bedeutung äußerst modern thematisiert werden.
Neben diesem dramatischen Köder erzählt Reymont aber vor allem die Geschichte eines Dorfes kurz nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, das nicht mehr wie früher isoliert in der Welt steht. Er erzählt von Hierarchien zwischen Reich und Arm, von bösartigen, leidenschaftlichen und zärtlichen menschlichen Beziehungen, von unvorstellbaren Hungersnöten, vom amoralischen Adel und von gnadenlosen Investoren aus dem deutschen Ausland, die mit ihrem Aufkauf von Land die Lebensgrundlage des Dorfes zu entziehen drohen.
Diese aus heutiger Sicht neoliberalen Verhältnisse lassen sich derartig leicht auf heutige Verhältnisse im globalen Süden übertragen, dass einem allein schon wegen seiner universalen Weitsicht Reymonts großer Roman an Herz und Seele wächst und eine moderne Verfilmung tatsächlich seit langem überfällig war.
Die Länge des Romans und seine doppelbödige, komplexe Handlung deuten allerdings schon an, dass man sich entweder für ein filmisches Epos in Überlänge oder gar die Serienform entscheiden muss, um Reymont gerecht zu werden. Oder wie Dorota Kobiela und Hugh Welchman das Risiko eingehen muss, einen repräsentativen Ausschnitt zu wählen, um in Ansätzen begreifbar zu machen, was dieser Roman heute noch bedeuten könnte.
Kobiela und Welchman entscheiden sich in Das Flüstern der Felder für die einfachste und vielleicht vorhersehbarste Variante, die auch im Roman als Motor des gesellschaftlichen Wimmelbildes funktionierende Dreiecksgeschichte zwischen Vater, Sohn und Frau, die sich wie schon erwähnt auch aus heutiger Sicht als frühe feministische Selbstermächtigung einer Frau in patriarchalen Verhältnissen sehen lässt. Dabei halten sich Kobiela und Welchman in ihrer Dialog- und Handlungsführung stark an das Buch, die Jahreszeiten werden ebenso wie die Feste und die Musik akkurat integriert und natürlich auch die Regeln der Gesellschaft bezüglich Frauen zentral positioniert, die nicht viel anders als Vieh in Ehen verkauft werden, auch wenn es dann und wann durchaus Gefühle und besinnliche Momente geben kann.
Wie schon in ihrem letzten Film Loving Vincent (2017) über den Tod von Vincent van Gogh transformiert das Regie-Paar auch das Das Flüstern der Felder in ein künstlerisch anspruchsvolles Meta-Format, werden der mit Schauspielern gedrehte Film in nachträglich animierte Sequenzen überführt. Bei Loving Vincent waren diese Animationen im Stil van Goghs gehalten, in Das Flüstern der Felder ist es die Malerei zeitgenössischer polnischer Maler des ausgehenden 19. Jahrhunderts, deren Stil nicht nur adaptiert, sondern zusätzlich über das Einbetten einiger Gemälde von Malern wie Józef Chełmoński, Ferdynand Ruszczyc und Leon Wyczółkowski noch einmal betont wird. Diese aufwendigen, kunstvollen Animationen, hinter denen über 200.000 Stunden Arbeitszeit stehen, geben dem Film einen immer wieder surrealen, fast schon psychedelischen Charakter, der beeindruckt und einzigartig ist.
Doch gleichzeitig nimmt dieser Ansatz Reymonts Geschichte und seinen Charakteren auch ihre erzählerische Intensität, ihr Leiden und ihre Leidenschaft. Die bittere Armut, die in Ansätzen erwähnt wird, löst sich dabei genauso in flirrendes, künstlerisches Wohlgefallen auf wie die Liebes- und Leidensgeschichte von Vater und Sohn und vor allem Jagnas. Zwar werden gerade Übergangsmomente im Leben der Protagonisten – das Kohlfest, die Hochzeit, die Jahreszeiten – in wenigen Pinselstrichen zu beeindruckenden Symbolen einfachen Lebens. Doch das Gefühl, die Emotionen, die bei Reymont stets zentral sind, fallen nahezu komplett weg.
Zwar behält sich auch die Verfilmung vor, moralisch nicht zu urteilen, doch wirkt das gerade in der grausamen, an Nikos Kazantzakis‘ Alexis Sorbas und die Verfilmung von Michael Cacoyannis erinnernde letzte Szene oft aufgesetzt und zu wenig auserzählt. Denn es stimmt natürlich nicht, dass Neid und die Missgunst, die das Leben in ständiger wirtschaftlicher (und politischer) Unsicherheit nach sich ziehen, nicht mehr als eine Reaktion auf die Selbstermächtigung einer jungen Frau und ihrer großen Gefühle sind. Es ist vielmehr das gesellschaftliche Ganze, das relevant ist und die Menschen zu dem macht, was sie bei Reymont waren und heute, in sehr ähnlichen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen immer noch sind. Davon erzählt zwar der Roman, die Verfilmung jedoch nicht. Das ist schade und immer wieder ärgerlich, denn was bleibt, ist damit nicht mehr als das Skelett eines dichten literarischen Meisterwerkes.
Vergisst man jedoch die Romanvorlage oder kennt sie nicht, dann überzeugt Dorota Kobiela und Hugh Welchman ambitionierte Verfilmung durchaus, denn wie die Animationen hier den erzählerischen Rahmen einer frühen weiblichen Selbstermächtigung erst begleiten und dann tragen und am Ende sogar zu einer düsteren Klimax führen, ist fast so etwas wie Film gewordene Sprache und ein so berauschender wie erhellender Moment.