Fahrenheit 11/9

USA 2018 · 128 min. · FSK: ab 12
Regie: Michael Moore
Drehbuch:
Kamera: Jayme Roy, Luke Geissbuhler
Schnitt: Doug Abel, Pablo Proenza
MM unterwegs in US

Was wir brauchen, ist nicht Hoffnung, es sind Taten!

»When the people are conti­niously told that their vote doesn’t count, that it doesn’t matter, and they end up believing that, the loss of faith in our democracy our death verdict.
The strong man, the autocrat only succeeds, when a vast swap of the popu­la­tion decides they have seen enough and give up.«
Michael Moore

Noch eine Trump-Kritik? Keine Angst. Zwar spart der ameri­ka­ni­sche Filme­ma­cher Michael Moore in seinem neuen Film nicht an möglichst harter Kritik am 45. Präsi­denten der USA, die wahren Gegner und die eigent­liche Ziel­rich­tung seines neuen Films Fahren­heit 11/9 liegen aber woanders. Der Film zielt auf das System und das Esta­blish­ment der Verei­nigten Staaten von Amerika.

Ob der Titel glücklich gewählt ist? Eher nicht. Nicht alle Kino­gänger werden genau genug hingucken, um zu begreifen, dass Fahren­heit 11/9 nicht Fahren­heit 9/11 ist, und überdies auch ein komplett anderer Film, wen auch desselben Regis­seurs. Und auch wenn die Titel-Anspie­lung auf Ray Bradburys, von François Truffaut verfilmte dysto­pi­sche Novelle über eine Diktatur durch Bildungs­verbot noch so treffend sein mag, dann war sie bereits vor fünfzehn Jahren auch viel zu subtil und ein bisschen zu »highbrow«, gerade für Moore, der sich ja gern als Mann aus dem Volk gibt.

Um es hier also zu Beginn also noch einmal deutlich zu sagen: Fahren­heit 11/9 ist kein Remake, keine Wieder­auf­füh­rung, sondern ein völlig neuer Film, der davon handelt, welche Faktoren es eigent­lich möglich machten, dass Donald Trump je zum Präsi­denten gewählt wurde, und davon, wie man ihn wieder loswerden könnte.

Michael Moore hätte es überdies auch gar nicht nötig, an sein filmi­sches Anti-Bush-Pamphlet von 2004 zu erinnern, zumal Fahren­heit 11/9 der deutlich inter­es­san­tere Film ist. Von besser oder schlechter kann man hier ande­rer­seits nicht wirklich reden, denn bereits seit seinem ersten Film Roger & Me von 1989 hat sich an den Stärken und Schwächen von Moores Art Filme zu machen, nicht viel geändert. Die Schwächen sind vor allem die Sprung­haf­tig­keit, die konfuse Argu­men­ta­tion, der Narzissmus, mit dem sich der Regisseur immer wieder und viel zu oft ins Bild rückt, die anti-intel­lek­tu­elle Haltung, die oft kitschige und senti­men­ta­li­sie­rende Emotio­na­li­sie­rung aller Themen, der Hang zur Schwarz-Weiß-Malerei und zu einfachen Lösungen und überhaupt die Propa­gan­daele­mente die Bestand­teil von Michael Moores Agitprop-Filme­ma­chen sind.
Gerade dieser Agitprop-Stil ist aber auch eine seiner Stärken. Denn wie soll man es mit einem Demagogen und Lügner wie Trump und den Zynikern des Esta­blish­ments aufnehmen, wenn nicht auch umgekehrt mit harten Bandagen, Grobheit und Verein­fa­chungen?
Moore ist ein Populist, aber im Unter­schied zu den aller­meisten anderen, ein Linker. Und ein Demagoge ist er nicht. Moore zeigt dass die offene Verach­tung von Menschen­leben und die Aufgabe aller mora­li­scher Codes heute allge­meine poli­ti­sche Praxis sind. Und Moore erinnert uns, dass das, was wir brauchen ist, nicht Hoffnung ist. Hoff­nungen gibt es genug. Was wir brauchen, sind Taten.

Drei Schuldige

»Es wird keinen Präsident Trump geben« – noch am Wahltag waren sie sich alle einig, Angehö­rige der Film­schi­ckeria wie George Clooney und das Washing­toner Polit-Esta­blish­ment wie die demo­kra­ti­sche Frak­ti­ons­chefin Nancy Pelosi: Es könnte nicht sein, was nicht sein darf. Auf Hillary Clintons Wahl-Party knallten die Cham­pa­gner­korken. Selbst der reak­ti­onäre TV-Sender Fox-News schien erleich­tert, dass sie Donald Trump nicht unter­s­tützen müssten. Doch dann... »How the fuck did this happen?« fragt Michael Moore aus dem Off, und zeigt, wie eine Wachs­puppe von Donald Trump herge­stellt wird.

Moore benennt drei Haupt­schul­dige an dem Verfall der Demo­kratie in den USA, für den Trump eigent­lich nur das Symptom sei: Der erste Schuldige: Das System. Die Mehrheit der Stimmen entfiel bei den letzten sechs von sieben Wahlen auf die Demo­kraten, aber das Wahl­system produ­zierte zweimal trotzdem Mehr­heiten für die repu­bli­ka­ni­schen Kandi­daten.
Amerika sei eigent­lich »ein links­ge­rich­tetes Land«. Die meisten Ameri­kaner haben keine Schuss­waffe. Texas hat keine weiße Mehrheit. Mit Umfragen belegt er, dass klare Mehr­heiten für Abtrei­bung, gleiche Bezahlung, Mindest­lohn, strengere Umwelt­ge­setze, Recht auf Marihuana, Gesund­heits­ver­sor­gung für alle, Bildung für alle, Gewerk­schaften, für Einwan­de­rung, Kürzungen der Militär­aus­gaben. Kurz gesagt: Die Mehrheit der Ameri­kaner will ein Schla­raf­fen­land, in dem es alles für alle gibt.

Ok, das ist jetzt polemisch. Moore sagt nämlich nicht, dass die Mehrheit der Ameri­kaner auch für die Todes­strafe ist, für Steu­er­sen­kungen (unter Dwight D. Eisenhower, »dem Kommu­nisten« lagen sie bei 90%), für Militär­schläge auf Länder, von denen sie nicht wissen, wo sie liegen.

Der zweite Schuldige: Die demo­kra­ti­sche Partei. Sie hätten viel zu viele Kompro­misse gemacht. Sie seien Schergen des Groß­ka­pi­tals, vor der Wall Street. Sie hätten den Kandi­daten Bernie Sanders, obwohl der doch eine Mehrheit der Partei gehabt hätte, durch Wahl­fäl­schungen und »Verrat« verhin­dert.
Moores Fazit: »Wenn Menschen immer wieder spüren, dass ihre Stimme nicht zählt, dass sie egal ist, und wenn sie das verin­ner­li­chen, wird dieser Vertrau­ens­bruch unser Todes­ur­teil. Der starke Mann, der Autokrat, hat nur dann Erfolg, wenn ein Großteil der Bevöl­ke­rung die Nase voll hat und aufgibt.« Daher die hundert Millionen Nicht­wähler. Das Resultat eines jahr­zehn­te­langen gezielten Entmu­ti­gungs­pro­zesses.
Schon Bill Clinton habe die Partei nach rechts verschoben, habe gegen Schwarze und Minder­heiten Politik gemacht. Warum eigent­lich, wenn die Mehrheit links ist? Eine Verschwö­rung? Wer hat uns verraten? Die Demo­kraten! Und die »New York Times«.

Der dritte Schuldige sind nämlich die Medien, die zum Steig­bü­gel­halter für Trump geworden sind. Vor allem die böse, böse »New York Times«, die Politik nur fürs liberale (?) bürger­liche kapi­ta­lis­ti­sche Esta­blish­ment machen würde. Die Wall-Street-Proteste klein­redet und der Rettungs­schirm für die Banken groß. Wer ein bisschen regel­mäßig die »New York Times« liest, der kennt das zwar alles, der weiß aber auch, dass in der »New York Times« auch das Gegenteil dieser Ansichten zu lesen ist: Bush-Kritik, Clinton-Kritik, und mit Trump-Kritik ist die »New York Times« geradezu hyste­risch.
Für alle Medien war Donald Trump die »Cashcow«, weil er als Skan­dal­clown die Quoten brachte. Trump, analy­siert Moore mit tref­fenden Beispielen, »hat die Medien immer wie Trottel behandelt, und ist damit durch­ge­kommen.« Er nahm sogar libe­ra­lere und linkere Posi­tionen ein als Clinton, was nicht so schwer war.

Nur etwa eine Vier­tel­stunde des Films geht es um die Donald-Trump-Charak­ter­frage. »Trump«, sagt Moore, habe seine Verbre­chen schon immer unter den Augen der Öffent­lich­keit begangen: »He always commited his crimes in pain sight.« Frau­en­ver­ach­tung und Rassismus sind offen­kundig, der Verrat an der Nation braucht klare Beweise. Doch dann unter­stellt der Regisseur – durch die Blume – sogar den Miss­brauch der Tochter Ivana durch den Vater. Das geht weit, lenkt zudem – wie auch andere, erwähnte, wichtige, aber dann nicht weiter vertiefte Miss­brauchs­vor­würfe – vom eigent­li­chen Problem eher ab.

Grass­roots statt Esta­blish­ment

Diese eigent­liche Problem ist der Zustand der Insti­tu­tionen und der poli­ti­schen Kultur der USA, und es ist die poli­ti­sche Moral dieses Landes.

Das zweite Problem: Es gibt eine Oppo­si­tion, deren poli­ti­sche Ziele Michael Moore teilt, deren Anhänger er schätzt, und von deren poli­ti­schen Vertre­tern er viele geradezu in den Himmel lobt.
Aber zugleich verachtet er ihre Führungs­spitze, ihre poli­ti­sche Elite, und macht ihr in diesem Film einen Schau­pro­zess.
Mindes­tens diese Unent­schie­den­heit muss man Moore vorwerfen, neben seinen Argu­men­ta­ti­ons­schwächen. Er ist damit ein sehr typischer Vertreter der poli­ti­schen Linken, die sich seit jeher viel zu viel mit sich selbst beschäf­tigt, viel zu sehr in ihre ewigen Selbst­zer­flei­schungen und Frak­ti­ons­kämpfe verstrickt ist, selbst wenn es gilt den gemein­samen Feind zu schlagen und erst einmal die Macht zu erobern, mit der allein sich Wirk­lich­keit verändern lässt. Während die Rechte genau das tut. Sie hält über alle Gräben zusammen, wenn es gilt, die Macht zu erobern oder zu vertei­digen. Die Linke wird immer wieder zur Gefan­genen ihrer eigenen Moral, die ihr oft genug zur mora­li­schen Obsession wird.
Die Linke ist – Moore sagt es selbst – in der Mehrheit. Aber sie handelt nicht danach.

Michael Moore liefert dafür das beste Anschau­ungs­ma­te­rial.

Immerhin treffend und ange­messen ist, wie er mit Trumps Vorgänger ins Gericht geht, und den libe­ral­bür­ger­li­chen Mythos Obama demon­tiert, den Hipster-Kitsch, dass einer moralisch besser sein müsste, nur weil er schwarz ist und den versteckten Rassismus, Obama nur zu verehren, weil er gut aussieht, gut gekleidet ist und lässig auftreten kann. Hier sind die präsen­tierten Fakten eindeutig: Unter Obama wurden mehr »Whist­leb­lower« politisch und juris­tisch verfolgt, als unter allen US-Präsi­denten vor ihm zusammen. Obama hielt seine Verspre­chen nicht: Weder wurde Guan­ta­namo geschlossen, noch wurde der Irak-Einsatz beendet, noch der in Afgha­nistan. »Niemand nahm mehr Spenden von Goldman-Sachs als er.« Und so weiter...
Das beste Beispiel aber ist ein zynischer Auftritt Obamas in der komplett depra­vierten, weit­ge­hend von Schwarzen bewohnten Stadt Flint in Michigan. Moore zeigt einen hoff­nungs­voll erwar­teten Auftritt Obamas, und in ein paar wenigen, präzis ausge­wählten Szenen entlarvt sich der Polit-Star selbst als Zyniker.

Zur Propa­gan­da­me­thode à la Michael Moore gehört, dass er dann nicht dazu sagt, dass Obama auch 170 Millionen Dollar Hilfs­gelder für Flint im Senat durch­ge­setzt hat. Er hätte ja dazu erwähnen können, wer von dem Geld tatsäch­lich profi­tiert. Denn das sind im Zwei­fels­fall nicht die Einwohner von Flint.

Aber was tun?

Michael Moores Lösungen aus diesen ganzen von ihm aufge­fah­renen Fragen und Dilemmata sind einfach. Zu einfach: Obama ist ein Zyniker – ja! Trump ist wie Hitler – naja, viel­leicht. Den bösen Funk­ti­onären werden die guten »Grass­roots«, die Basis­de­mo­kraten gegenüber­ge­stellt: Die Schüler, die gegen die Waffen­lobby kämpften; die Lehrer, die in mehreren Bundes­staaten für bessere Löhne und gegen »Tracking the teachers« kämpften.
Egal, was man im Einzelnen faktisch davon hält, hier hat Michael Moore seine größten Stärken. Denn er zeigt Seiten und Vorgänge Amerikas, von denen die deutschen selbst­er­nannten »Qualitäts­me­dien« nicht berichtet haben, Ereig­nisse, die in den Nach­rich­ten­sen­dungen von ard/zdf/dlf/etc. nicht vorkamen. Fahren­heit 11/9 ist darin großartig, aber dann wieder auch untrag­barer ober­fläch­li­cher Schwach­sinn. Denn was hat der Marsch der Schüler tatsäch­lich auf lange Sicht gebracht? Was bringen die neuen Gesichter der Fraktion der Demo­kraten? Nicht genug, wie die Midterm-Elections belegen.

In einer der dümmsten Sequenzen des Films verbindet er 9/11 mit dem Reichs­tags­brand. Das kann nur heißen: 9/11 war ein Staats­ver­bre­chen, ein Fake. Begangen vom Esta­blish­ment, um Angst zu schüren.
Was weiß Michael Moore über 9/11?

Moore zeigt auch, die neuen Parla­men­ta­rier, Frauen wie Alex­an­dria Ocasio-Cortez und Rachida Tlaib. Aber wie werden sie in 30 Jahren sein? Höchst­wahr­schein­lich genauso Esta­blish­ment der Demo­kraten, wie heute Nancy Pelosi, die auch mal als junge Frau und Migran­ten­tochter anfing.

Den wirklich harten, auch für ihn unbe­quemen Fragen weicht Moore aus:
- Ist Esta­blish­ment-Bashing die Lösung oder nicht eher Teil des Problems?
- Sind »Grass­roots«-Bewegung wirklich die Lösung unserer Probleme?
- Was ist von direkter Demo­kratie zu halten? Wird sie nicht am Ende zu einer Spiel­wiese für Wutbürger?
- Ist das Waffen­recht wirklich das größte Problem Amerikas?
- Last, not least: Warum hat er selbst für die Demo­kraten und Hillary Clinton Wahlkampf gemacht, wenn er sie derart verachtet?

Man kann bezwei­feln, dass die Links­li­be­ralen lernfähig sind. Was man ihn jedem Fall jetzt schon wissen kann: Man sollte Trump nicht unter­schätzen. Moore schreckt noch nicht einmal – und auch nicht unplau­sibel – davor zurück, die Möglich­keit in den Raum zu stellen, dass Trump eine verfas­sungs­wid­rige Verlän­ge­rung seiner Amtszeit plant. Einen »Coup«. Also Putsch.
Zum Beispiel in der von ihm gehassten »New York Times« wird zur Zeit ernsthaft die Möglich­keit disku­tiert, Trump könne den derzei­tigen »Shutdown« der Regierung dazu nutzen, um den Ausnah­me­zu­stand zu erklären, und dann mit unbe­grenzten Voll­machten regieren. Was könnte ihn davon abhalten? Allen­falls ein Bürger­krieg. Moores Film ist in sich wider­sprüch­lich, aber provo­kativ und am besten darin, solche Möglich­keiten klarer erkennbar zu machen. Seine »Lösungen« aber sind keine.

Zynismus, Esta­blish­ment, Ausbeu­tung

Wenn Michael Moore recht hat, dann leben wir in einer Welt, die vom Zynismus bestimmt wird, moralisch längst ihren Untergang hinter sich hat, und die von wenigen Reichen und ihren Helfers­hel­fern, dem Esta­blish­ment in Politik, Militär und Behörden, bis aufs Blut ausge­beutet wird. In einer Welt, in der Demo­kratie nur eine ideo­lo­gi­sche Floskel ist, um die Macht­ver­hält­nisse zu verschleiern.

Hat er recht? Stimmt das, was Moore behauptet? Es liegt an uns, nicht an den Poli­ti­kern, das Gegenteil zu beweisen. Dazu genügt es nicht, Popu­listen und Demagogen keine Stimme zu geben. Wichtiger ist noch, die jeweils Mächtigen in den Insti­tu­tionen und Unter­nehmen miss­trau­isch zu beob­achten und gege­be­nen­falls zur Rechen­schaft zu ziehen.