Die Erbinnen

Las herederas

Paraguay/Uruguay/D/BR/N/F 2018 · 95 min.
Regie: Marcelo Martinessi
Drehbuch:
Kamera: Luis Armando Arteaga
Darsteller: Ana Brun, Margarita Irún, Ana Ivanova, Nilda Gonzalez, María Martins u.a.
Kino der Blicke

Blick durch den Türspalt

Ein verzagter Blick durch den Türspalt: man sieht in die Jahre gekom­menes bürger­li­ches Interieur. Zum Verkauf stehender Hausrat wird besich­tigt, es wird gefragt, ob das Silber­be­steck voll­s­tändig ist, ob die Standuhr funk­tio­niert, ob der Kron­leuchter auch zu kaufen ist. So beginnt Die Erbinnen (Las herederas), der erste Langfilm des para­gu­ay­ischen Regis­seurs Marcelo Martin­essi.
Chela, die Prot­ago­nistin, die durch den Türspalt schaut, will lieber nicht zusehen, wie das Fami­li­en­erbe verscher­belt wird. Seit über dreißig Jahren wohnt sie zusammen mit ihrer ebenfalls verschul­deten Lebens­ge­fährtin Chiquita im alten Haus ihrer Eltern. Sie haben das Erbe aufge­braucht und sind nun gezwungen, das, was an wert­vollen Stücken vorhanden ist, zu Bargeld zu machen. Doch Chiquita muss wegen ihrer Schulden gar in die U-Haft. Die Bank hat gegen sie ein Verfahren wegen Betrugs einge­leitet.
Die zurück­hal­tende, eher unselbstän­dige Chela, die sich immer nur ihrer Malerei gewidmet hat und keinem Beruf nach­ge­gangen ist, sieht sich mit einer unge­wohnten Situation konfron­tiert. Sie gehört dem gehobenen Bürgertum in Asunción an, Paraguays Haupt­stadt. Martin­essi zeigt diese Schicht als abge­schot­teten Zirkel und beschränkt sich dabei über­zeu­gend und konse­quent auf das private Universum der vom offi­zi­ellen gesell­schaft­li­chen Leben ausge­schlos­senen Frauen. Männer kommen in diesem Film nur als Statisten vor, oder es ist im Zusam­men­hang mit den Erbstü­cken von Vätern und Großvä­tern allen­falls die Rede von ihnen.

Der Film zeigt nun eine langsame Öffnung Chelas für die Welt um sie herum, eine vorsich­tige und leise Eman­zi­pa­tion deutet sich an. Der Blick durch den Türspalt, der am Anfang emble­ma­tisch für ihre beengte Haltung steht, weitet sich nach und nach. Eine Nachbarin bittet sie darum, sie mit dem Auto zum Bridge-Nach­mittag mit Freun­dinnen zu fahren. Früher saß immer Chiquita am Steuer, Chela fasst zunehmend Selbst­ver­trauen und beschließt, den alten Mercedes Diesel nun doch nicht zu verkaufen, wie ursprüng­lich geplant, sondern ihre Fahr­dienste regel­mäßig gegen Geld anzu­bieten. Im Zuge ihrer sie aus ihrem Umfeld heraus­füh­renden Akti­vitäten verliebt sie sich dann sogar in eine jüngere Frau.

Martin­essi erzählt das nicht als melo­dra­ma­ti­sche Geschichte, die in ein spek­ta­ku­läres Ende münden würde. Der gewählte Ansatz, sich eng an die Erlebnis- und Wahr­neh­mungs­per­spek­tive Chelas zu halten, schlägt sich vor allem in der bemer­kens­werten Kame­ra­ar­beit von Luis Armando Arteaga nieder. Chelas zuneh­mende Öffnung findet eine Entspre­chung in den Bildern, die gleichsam tastend immer neue optische Bereiche erschließen. Wie die meist in der Unschärfe verblei­benden Randzonen um Chela herum immer mehr Präsenz erlangen und einen Stadtraum und damit eine Gesell­schaft erahnen lassen, ist das eigent­liche Seher­lebnis in diesem Film.

Man kann Las herederas als vorwie­gend psycho­lo­gi­sche Geschichte einer indi­vi­du­ellen Eman­zi­pa­tion innerhalb der lesbi­schen Beziehung eines Paares jenseits der 50 verstehen. Doch der Blick, der hier unmerk­lich auf einen gesell­schaft­li­chen Reso­nanz­raum frei­ge­geben wird, kann sympto­ma­tisch gelesen werden. Und man kann den Film damit durchaus als indirekte Aussage über die Erstar­rung der para­gu­ay­ischen Gesell­schaft und eine even­tu­elle Lösung daraus verstehen. Das Bürgertum als Träger eines poli­ti­schen Systems der nach dem Diktator Alfredo Stroessner immer noch nicht stabi­li­sierten Demo­kratie tradierte weiterhin die indif­fe­rente Trägheit einer unbe­weg­li­chen sozialen Schicht. Die Sedierung und die aktiv-passive Duldung aus der Zeit der Diktatur sind ihr zur zweiten Natur geworden. In Las herederas kann man miter­leben, wie sich inmitten einge­fah­rener, zu Ritual und Routine gewor­dener Verhal­tens­weisen ein Horizont für Neues andeutet.