Frankreich 2024 · 133 min. · FSK: ab 12 Regie: Jacques Audiard Drehbuch: Jacques Audiard, Thomas Bidegain Kamera: Paul Guilhaume Darsteller: Karla Sofía Gascón, Zoe Saldana, Selena Gomez, Édgar Ramírez, Adriana Paz u.a. |
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Titelgebend und trotzdem nur eine von vier Hauptfiguren: Emilia Pérez | ||
(Foto: Neue Visionen) |
Nach der Odyssee durch gefühlt jedes Filmfest dieser Welt kommt Emilia Pérez nun endlich hierzulande in die Kinos. Es ist der zehnte Film des Franzosen Jacques Audiard, und ganz im Zeichen seines Spätwerks ein erneuter stilistischer Umschwung. Seine letzten Filme waren bereits gänzlich verschieden, springen vom Anti-Western mit Starbesetzung wie in The Sisters Brothers zur Schwarzweiß-Ode an Paris (Wo in Paris die Sonne aufgeht). Das ist umso interessanter, bedenkt man, wie lange Audiard nun schon in der Filmindustrie arbeitet, seine Karriere ist allein biografisch schon so ausgefallen wie seine Filmografie. Erst Schnittassistent, dann Theaterregisseur, dann Drehbuchautor – schließlich Regisseur. Er hat also viel gemacht, dieser Audiard, und so erscheint es nur logisch, dass er nun mit 72 Jahren keinen kleinen Film, keine Stilübung ablegt, sondern den überbordenden, ungehemmten und ausgefallenen Emilia Pérez inszeniert. Das sei ihm gegönnt – der darin enthaltene Wagemut und die noch immer herrschende Suche nach neuen Themen und Zugängen ehrt ihn.
Doch ein bisschen konzentrierter hätte es dann schon sein dürfen.
So ist auch die Handlung nur schwer zusammenzufassen, zu viel passiert in diesem Film. So soll die Synopsis reichen: Rita (Zoë Saldaña) ist Anwältin in Mexiko, allerdings unzufrieden mit ihrer finanziellen und sozialen Situation, auch ihre schicken Saint-Laurent-Jackets helfen da nicht (das Modehaus hat den Film übrigens mitproduziert).
Als ein aufregendes Angebot sie erreicht, kann sie nicht ablehnen, und so wird sie Mitwisserin und Mitarbeiterin des schwerreichen und
skrupellosen Drogenbosses Juan „Manitas“ Del Monte (Karla Sofía Gascón). Dieser hat nur einen Wunsch: Er möchte eine Frau sein.
Rita also findet einen Arzt, findet eine neue Identität, das Vorhaben und der Eingriff gelingen. Natürlich wird »Emilia Pérez« (sehr schön: immer noch Karla Sofía Gascón) – so der neue Name des ehemaligen Kartell-Chefs – aber von ihrer Vergangenheit eingeholt, kann sich nicht von der zurückgelassenen Familie (Frau und Kinder)
lösen…
Es geht also krude zu in diesem Film, zumal damit erst gut die Hälfte erzählt ist. Er ist ein groß angelegtes Durcheinander, eine Emanzipationsgeschichte, die zu gleichen Teilen Gangsterepos wie Landesportrait, wie Familiendrama, wie Freundschaftsgeschichte, wie Komödie sein will. Und nicht zuletzt ein Musical.
Dieses letzte und bestimmende Genre soll die anderen Teile zusammenhalten, erlaubt der Story, immer wieder auszufasern, da in den Gesangsszenen Ruhe
– beziehungsweise Klarheit – eingeführt wird. Wir erfahren vom Innenleben der Protagonistinnen, Zweifel werden versprachlicht, das, was nicht gesagt werden kann (oder darf), wird gesungen. Man kennt das.
Nur leider sind selbst diese Szenen, um zur stilistischen Kritik überzuleiten, sehr sehr brav und austauschbar in Szene gesetzt: Die Kamera wird hektisch und es kommen Background-Tänzer ins Bild.
Das ist nicht schlecht oder unprofessionell, nur überhaupt nicht
spielerisch und ohne sich eine Ästhetik zu erarbeiten, die fortan den Film bestimmt oder durchbricht. Der Zugang zum Filmen selbst ändert sich in diesen Szenen keineswegs, lediglich das Tempo wird variiert. Sprunghaft und gehetzt wirken diese Momente – und damit regelrecht deplatziert, die Musical-Funktion liegt darin, den Film dramaturgisch zu retten, Handlung und Figuren voranzutreiben. Sie ermöglicht Audiard, seine erzählerischen Ambitionen auszuleben, da sie bereits
in ihrem Charakter selbst strukturierend wirkt. Dies ist allerdings noch nicht gleichbedeutend mit einer ausgewogenen Dramaturgie oder Hinführung zu gewissen zentralen Motiven oder Szenen. Der Versuch des großen narrativen Wurfs wird dadurch gedämmt, fast erscheint es wie der einfachste Weg ein Epos aufzubauen, das sich in der Folge nicht für seinen Aufbau rechtfertigen muss, sondern das Musicalgenre vorschiebt, um bereits gegliedert zu erscheinen.
Diese fehlende (oder viel mehr übergangene) Stringenz bricht dennoch immer wieder hervor, gerade anfangs springt der Film von einem Set zum anderen, ganze Länder kommen für gefühlte 10 Minuten als neuer Mittelpunkt zum Einsatz, wie in James-Bond-Filmen werden diese Orte schriftlich eingeblendet. Die Stationen aber werden nie als eigenständige Zentren begriffen, lediglich als Aufhänger für Dynamik und Größe.
Alles schreit dabei nach Spektakel, nach einem ungehemmten, wilden
Vergnügen, eben einem Epos. Das mag stilistisch interessant sein, ordnet man es in Audiards Filmografie ein, innerhalb des Films geht es aber überhaupt nicht auf.
Audiard inszeniert seinen Film sehr klassisch, allerdings nicht konzentriert genug, um die weitläufig aufgebaute Geschichte zu einer Wirkung kommen zu lassen. So laufen etwa die groben Grundpfeiler – Melodram und Gangstergeschichte – wie parallel zueinander, verbunden zwar durch die Geschichte, ohne aber eine tatsächliche Fusion einzugehen.
Spätestens wenn sich der Film im weiteren Verlauf noch zusätzlich dem Politthriller annähert, bricht das Konstrukt
zusammen. So tritt Emilia im Kontext der »Desaparecidos« als angehende Mutter Teresa auf, nicht nur ihr Geschlecht wird also transformiert, auch ihr Wesen selbst und durch ihre Handlungen ganz Mexiko. Immer weiter spinnt Audiard seine (nun bereits nicht mehr rein biologische) Transformationsgeschichte, immer weiter führt sie weg von einem emotionalen oder zumindest konkreten Kern. Zumal das Ende einen unerwartet zynischen Schlusspunkt setzt, der zwar logisch – im Kontext
der Irrungen und Wirrungen der vergangenen zwei Stunden – jedoch relativierend und wie ein erneuter Beginn wirkt.
Es stecken somit viele Filme in Emilia Pérez, für keinen davon entscheidet sich die Darstellung tatsächlich.
Daran anknüpfend schleichen sich immer wieder überraschende Formatwechsel ein – vom Handy zum TV-Bildschirm, zum Display eines Videospiels –, die den Film ästhetisch aufbrechen und das bereits inhaltlich
vorherrschende Durcheinander noch verstärken. Lauter lose Enden reiht Audiard aneinander, die sich gegenseitig nicht ergänzen wollen, sondern im gegenseitigen Kontrast verharren; auch wenn sie auf ein gemeinsames – durch Drehbuch und Musicaleinlagen – gemeinsames Ziel zulaufen.
Ähnlich verhält es sich bei den drei Protagonistinnen: Rita, Emilia und Jessi – Emilias Exfrau, gespielt von Selena Gomez. Alle drei sind durchaus interessant angelegt, verkörpern und ringen dabei mit jeweils anderen Themenfeldern. Jede einzelne hätte einen eigenen Film verdient gehabt, so laufen sie sich gegenseitig stets den Rang ab. Mal steht Emilia im Zentrum, dann wieder Rita, dann Jessi etc.
Eine Hierarchie gibt es nicht, gleichermaßen keine harmonische oder
ausgewogene Aufteilung, die die Figuren gleichberechtigt nebeneinander stellt.
Man versteht durchaus, welche Ideologien und Fragen sie verkörpern sollen, nur werden diese nie emotional oder intellektuell nahbar, verkommen zu Stichpunkten, die der Reihe nach ihren Auftritt erhaschen. Gerade in den melodramatischen Abschnitten ist dies schade, es entstehen durchaus schöne Momente (beziehungsweise: Skizzen von Momenten), etwa wenn sich Emilia und Jessi gegenüberstehen,
erstere sich aber nicht zu erkennen geben kann, da Jessi natürlich nichts wissen darf von der Geschlechtsumwandlung.
Emilia hat die Person, die sie liebt, verloren durch den eigenen Körper – und darf sie nun im richtigen nicht mehr lieben. Ein herzzerreißendes Bild – in Emilia Pérez jedoch ein sehr flüchtiges, denn dann kommt bereits der nächste Storypunkt, die Geschichte schreitet unaufhörlich voran, ohne jemals an solchen poetischen Anklängen
stehen zu bleiben. Es gibt kaum Wiederholungen oder Dopplungen, die den Film gliedern, Audiard peitscht das Gezeigte unaufhörlich nach vorne, um in der Katharsis alles aufzulösen. An diesem Punkt jedoch hat man bereits das Interesse verloren; zu viele Fäden kommen hier zusammen, zu unorganisch hat sich das Vergangene auf diesen Punkt hin entwickelt.
Die merkwürdige Dynamik der Schauspielerinnen zeigt sich zudem in der (auf doppelte Art) kuriosen Preisverleihung in Cannes: Nicht etwa eine Auszeichnung in der Kategorie »Beste Schauspielerin« wurde an den Film verliehen, stattdessen gleich mehrere (vier an der Zahl), so als wüsste auch die Jury nicht, wer überhaupt im Zentrum steht. Einen bitteren Beigeschmack hat diese oberflächlich harmonische Geste gleichermaßen. Anstatt Karla Sofía Gascón (die immerhin die Titelrolle spielt) als Transfrau den Preis zu überreichen, und somit einen Bogen zum Film herzustellen, entscheidet man sich für eine Aufteilung, die die Preisvergabe entkräftet und schlichtweg keiner der vier gerecht wird.
Wie es anders möglich wäre, zeigt Audiard selbst: In einer wirklich sehr komischen, dynamischen Szene in einer Operationsklinik mit Schwerpunkt Geschlechtsumwandlung macht die Darstellung als Musical Sinn. Kreisförmige Bewegungen der Kamera, Tänzer und Statisten, die ins Bild gezerrt oder geschoben werden; ein kurioses Szenario, das in seiner Künstlichkeit endlich so etwas wie Wärme entfacht. Kurz gesagt: Hier glimmt für Minuten der Camp auf – und mit ihm der
Stil.
Wäre Audiard doch bei diesem sich selbst reduzierenden Zugeständnis geblieben, er hätte einen schönen, einen guten, einen lustigen Film gedreht – einen stilisierten.
So aber gibt es nun die große, vermeintlich allumfassende Geste. Sie schwingt jedoch um und verharrt lediglich in fehlender Harmonie; des Stils, der Figuren, der Dramaturgie. Eine Einheit (wie im angerissenen Camp) findet Audiard nicht, er entfacht kein kontrolliertes Chaos, vielmehr ein großes Durcheinander, das nie zu sich finden mag. In dieser Verwirrung steckt keine Freude, kein tatsächlicher Exzess, lediglich die Behauptung, immer und immer mehr zu liefern – bis schliesslich alles egal wird.