Emilia Pérez

Frankreich 2024 · 133 min. · FSK: ab 12
Regie: Jacques Audiard
Drehbuch: ,
Kamera: Paul Guilhaume
Darsteller: Karla Sofía Gascón, Zoe Saldana, Selena Gomez, Édgar Ramírez, Adriana Paz u.a.
Emilia Pérez
Titelgebend und trotzdem nur eine von vier Hauptfiguren: Emilia Pérez
(Foto: Neue Visionen)

Keine Harmonie in Mexiko

Musical, Kartell, Drogen, Gangster, Geschlechtsumwandlung, Schauspielpreis für alle Schauspielerinnen in Cannes – viel drin im neuen Film von Jacques Audiard?

Nach der Odyssee durch gefühlt jedes Filmfest dieser Welt kommt Emilia Pérez nun endlich hier­zu­lande in die Kinos. Es ist der zehnte Film des Franzosen Jacques Audiard, und ganz im Zeichen seines Spätwerks ein erneuter stilis­ti­scher Umschwung. Seine letzten Filme waren bereits gänzlich verschieden, springen vom Anti-Western mit Star­be­set­zung wie in The Sisters Brothers zur Schwarz­weiß-Ode an Paris (Wo in Paris die Sonne aufgeht). Das ist umso inter­es­santer, bedenkt man, wie lange Audiard nun schon in der Film­in­dus­trie arbeitet, seine Karriere ist allein biogra­fisch schon so ausge­fallen wie seine Filmo­grafie. Erst Schnitt­as­sis­tent, dann Thea­ter­re­gis­seur, dann Dreh­buch­autor – schließ­lich Regisseur. Er hat also viel gemacht, dieser Audiard, und so erscheint es nur logisch, dass er nun mit 72 Jahren keinen kleinen Film, keine Stilübung ablegt, sondern den über­bor­denden, unge­hemmten und ausge­fal­lenen Emilia Pérez insze­niert. Das sei ihm gegönnt – der darin enthal­tene Wagemut und die noch immer herr­schende Suche nach neuen Themen und Zugängen ehrt ihn.

Doch ein bisschen konzen­trierter hätte es dann schon sein dürfen.

So ist auch die Handlung nur schwer zusam­men­zu­fassen, zu viel passiert in diesem Film. So soll die Synopsis reichen: Rita (Zoë Saldaña) ist Anwältin in Mexiko, aller­dings unzu­frieden mit ihrer finan­zi­ellen und sozialen Situation, auch ihre schicken Saint-Laurent-Jackets helfen da nicht (das Modehaus hat den Film übrigens mitpro­du­ziert).
Als ein aufre­gendes Angebot sie erreicht, kann sie nicht ablehnen, und so wird sie Mitwis­serin und Mitar­bei­terin des schwer­rei­chen und skru­pel­losen Drogen­bosses Juan „Manitas“ Del Monte (Karla Sofía Gascón). Dieser hat nur einen Wunsch: Er möchte eine Frau sein.
Rita also findet einen Arzt, findet eine neue Identität, das Vorhaben und der Eingriff gelingen. Natürlich wird »Emilia Pérez« (sehr schön: immer noch Karla Sofía Gascón) – so der neue Name des ehema­ligen Kartell-Chefs – aber von ihrer Vergan­gen­heit eingeholt, kann sich nicht von der zurück­ge­las­senen Familie (Frau und Kinder) lösen…

Es geht also krude zu in diesem Film, zumal damit erst gut die Hälfte erzählt ist. Er ist ein groß ange­legtes Durch­ein­ander, eine Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schichte, die zu gleichen Teilen Gangs­ter­epos wie Landes­por­trait, wie Fami­li­en­drama, wie Freund­schafts­ge­schichte, wie Komödie sein will. Und nicht zuletzt ein Musical.
Dieses letzte und bestim­mende Genre soll die anderen Teile zusam­men­halten, erlaubt der Story, immer wieder auszu­fa­sern, da in den Gesangs­szenen Ruhe – bezie­hungs­weise Klarheit – einge­führt wird. Wir erfahren vom Innen­leben der Prot­ago­nis­tinnen, Zweifel werden versprach­licht, das, was nicht gesagt werden kann (oder darf), wird gesungen. Man kennt das.
Nur leider sind selbst diese Szenen, um zur stilis­ti­schen Kritik über­zu­leiten, sehr sehr brav und austauschbar in Szene gesetzt: Die Kamera wird hektisch und es kommen Back­ground-Tänzer ins Bild.
Das ist nicht schlecht oder unpro­fes­sio­nell, nur überhaupt nicht spie­le­risch und ohne sich eine Ästhetik zu erar­beiten, die fortan den Film bestimmt oder durch­bricht. Der Zugang zum Filmen selbst ändert sich in diesen Szenen keines­wegs, lediglich das Tempo wird variiert. Sprung­haft und gehetzt wirken diese Momente – und damit regel­recht deplat­ziert, die Musical-Funktion liegt darin, den Film drama­tur­gisch zu retten, Handlung und Figuren voran­zu­treiben. Sie ermög­licht Audiard, seine erzäh­le­ri­schen Ambi­tionen auszu­leben, da sie bereits in ihrem Charakter selbst struk­tu­rie­rend wirkt. Dies ist aller­dings noch nicht gleich­be­deu­tend mit einer ausge­wo­genen Drama­turgie oder Hinfüh­rung zu gewissen zentralen Motiven oder Szenen. Der Versuch des großen narra­tiven Wurfs wird dadurch gedämmt, fast erscheint es wie der einfachste Weg ein Epos aufzu­bauen, das sich in der Folge nicht für seinen Aufbau recht­fer­tigen muss, sondern das Musi­cal­genre vorschiebt, um bereits geglie­dert zu erscheinen.

Diese fehlende (oder viel mehr über­gan­gene) Stringenz bricht dennoch immer wieder hervor, gerade anfangs springt der Film von einem Set zum anderen, ganze Länder kommen für gefühlte 10 Minuten als neuer Mittel­punkt zum Einsatz, wie in James-Bond-Filmen werden diese Orte schrift­lich einge­blendet. Die Stationen aber werden nie als eigen­s­tän­dige Zentren begriffen, lediglich als Aufhänger für Dynamik und Größe.
Alles schreit dabei nach Spektakel, nach einem unge­hemmten, wilden Vergnügen, eben einem Epos. Das mag stilis­tisch inter­es­sant sein, ordnet man es in Audiards Filmo­grafie ein, innerhalb des Films geht es aber überhaupt nicht auf.

Audiard insze­niert seinen Film sehr klassisch, aller­dings nicht konzen­triert genug, um die weit­läufig aufge­baute Geschichte zu einer Wirkung kommen zu lassen. So laufen etwa die groben Grund­pfeiler – Melodram und Gangs­ter­ge­schichte – wie parallel zuein­ander, verbunden zwar durch die Geschichte, ohne aber eine tatsäch­liche Fusion einzu­gehen.
Spätes­tens wenn sich der Film im weiteren Verlauf noch zusätz­lich dem Polit­thriller annähert, bricht das Konstrukt zusammen. So tritt Emilia im Kontext der »Desa­pa­re­cidos« als angehende Mutter Teresa auf, nicht nur ihr Geschlecht wird also trans­for­miert, auch ihr Wesen selbst und durch ihre Hand­lungen ganz Mexiko. Immer weiter spinnt Audiard seine (nun bereits nicht mehr rein biolo­gi­sche) Trans­for­ma­ti­ons­ge­schichte, immer weiter führt sie weg von einem emotio­nalen oder zumindest konkreten Kern. Zumal das Ende einen uner­wartet zynischen Schluss­punkt setzt, der zwar logisch – im Kontext der Irrungen und Wirrungen der vergan­genen zwei Stunden – jedoch rela­ti­vie­rend und wie ein erneuter Beginn wirkt.
Es stecken somit viele Filme in Emilia Pérez, für keinen davon entscheidet sich die Darstel­lung tatsäch­lich.
Daran anknüp­fend schlei­chen sich immer wieder über­ra­schende Format­wechsel ein – vom Handy zum TV-Bild­schirm, zum Display eines Video­spiels –, die den Film ästhe­tisch aufbre­chen und das bereits inhalt­lich vorherr­schende Durch­ein­ander noch vers­tärken. Lauter lose Enden reiht Audiard anein­ander, die sich gegen­seitig nicht ergänzen wollen, sondern im gegen­sei­tigen Kontrast verharren; auch wenn sie auf ein gemein­sames – durch Drehbuch und Musi­cal­ein­lagen – gemein­sames Ziel zulaufen.

Ähnlich verhält es sich bei den drei Prot­ago­nis­tinnen: Rita, Emilia und Jessi – Emilias Exfrau, gespielt von Selena Gomez. Alle drei sind durchaus inter­es­sant angelegt, verkör­pern und ringen dabei mit jeweils anderen Themen­fel­dern. Jede einzelne hätte einen eigenen Film verdient gehabt, so laufen sie sich gegen­seitig stets den Rang ab. Mal steht Emilia im Zentrum, dann wieder Rita, dann Jessi etc.
Eine Hier­ar­chie gibt es nicht, glei­cher­maßen keine harmo­ni­sche oder ausge­wo­gene Auftei­lung, die die Figuren gleich­be­rech­tigt neben­ein­ander stellt.
Man versteht durchaus, welche Ideo­lo­gien und Fragen sie verkör­pern sollen, nur werden diese nie emotional oder intel­lek­tuell nahbar, verkommen zu Stich­punkten, die der Reihe nach ihren Auftritt erhaschen. Gerade in den melo­dra­ma­ti­schen Abschnitten ist dies schade, es entstehen durchaus schöne Momente (bezie­hungs­weise: Skizzen von Momenten), etwa wenn sich Emilia und Jessi gegen­ü­ber­stehen, erstere sich aber nicht zu erkennen geben kann, da Jessi natürlich nichts wissen darf von der Geschlechts­um­wand­lung.
Emilia hat die Person, die sie liebt, verloren durch den eigenen Körper – und darf sie nun im richtigen nicht mehr lieben. Ein herz­zer­reißendes Bild – in Emilia Pérez jedoch ein sehr flüch­tiges, denn dann kommt bereits der nächste Story­punkt, die Geschichte schreitet unauf­hör­lich voran, ohne jemals an solchen poeti­schen Anklängen stehen zu bleiben. Es gibt kaum Wieder­ho­lungen oder Dopp­lungen, die den Film gliedern, Audiard peitscht das Gezeigte unauf­hör­lich nach vorne, um in der Katharsis alles aufzu­lösen. An diesem Punkt jedoch hat man bereits das Interesse verloren; zu viele Fäden kommen hier zusammen, zu unor­ga­nisch hat sich das Vergan­gene auf diesen Punkt hin entwi­ckelt.

Die merk­wür­dige Dynamik der Schau­spie­le­rinnen zeigt sich zudem in der (auf doppelte Art) kuriosen Preis­ver­lei­hung in Cannes: Nicht etwa eine Auszeich­nung in der Kategorie »Beste Schau­spie­lerin« wurde an den Film verliehen, statt­dessen gleich mehrere (vier an der Zahl), so als wüsste auch die Jury nicht, wer überhaupt im Zentrum steht. Einen bitteren Beige­schmack hat diese ober­fläch­lich harmo­ni­sche Geste glei­cher­maßen. Anstatt Karla Sofía Gascón (die immerhin die Titel­rolle spielt) als Transfrau den Preis zu über­rei­chen, und somit einen Bogen zum Film herzu­stellen, entscheidet man sich für eine Auftei­lung, die die Preis­ver­gabe entkräftet und schlichtweg keiner der vier gerecht wird.

Wie es anders möglich wäre, zeigt Audiard selbst: In einer wirklich sehr komischen, dyna­mi­schen Szene in einer Opera­ti­ons­klinik mit Schwer­punkt Geschlechts­um­wand­lung macht die Darstel­lung als Musical Sinn. Kreis­för­mige Bewe­gungen der Kamera, Tänzer und Statisten, die ins Bild gezerrt oder geschoben werden; ein kurioses Szenario, das in seiner Künst­lich­keit endlich so etwas wie Wärme entfacht. Kurz gesagt: Hier glimmt für Minuten der Camp auf – und mit ihm der Stil.
Wäre Audiard doch bei diesem sich selbst redu­zie­renden Zuge­ständnis geblieben, er hätte einen schönen, einen guten, einen lustigen Film gedreht – einen stili­sierten.

So aber gibt es nun die große, vermeint­lich allum­fas­sende Geste. Sie schwingt jedoch um und verharrt lediglich in fehlender Harmonie; des Stils, der Figuren, der Drama­turgie. Eine Einheit (wie im ange­ris­senen Camp) findet Audiard nicht, er entfacht kein kontrol­liertes Chaos, vielmehr ein großes Durch­ein­ander, das nie zu sich finden mag. In dieser Verwir­rung steckt keine Freude, kein tatsäch­li­cher Exzess, lediglich die Behaup­tung, immer und immer mehr zu liefern – bis schliess­lich alles egal wird.