Drei Etagen

Tre piani

Italien/F 2021 · 121 min. · FSK: ab 12
Regie: Nanni Moretti
Drehbuch: , ,
Kamera: Michele D'Attanasio
Darsteller: Margherita Buy, Riccardo Scamarcio, Alba Rohrwacher, Adriano Giannini, Elena Lietti u.a.
Da gibt es nichts zu lachen: Nanni Moretti als Pater familiae
(Foto: 24 Bilder)

Drei Etagen, viele Schicksale

Nanni Moretti zeigt in seiner sehr freien Romanverfilmung Drei Etagen eine Menge Unglück in einem Haus. Warum interessieren ihn dabei die Folgen mehr als die Ursachen und Hintergründe?

'Cause sometimes you just feel tired, feel weak
And when you feel weak, you feel like you wanna just give up
But you got to search within you, and try to find that inner strength
And just pull that shit out of you
And get that moti­va­tion to not give up, and not be a quitter
No matter how bad you wanna just fall flat on your face and collapse

(Eminem: 'TILL I COLLAPSE)

Der Film ist mit fast zwei Stunden eher lang und könnte doch gern auch länger sein! Man versinkt im Kino­sessel und lässt das Leben seine drama­ti­schen Geschichten erzählen … doch was bleibt nach ein paar Tagen davon übrig?

Nanni Moretti hat mit Drei Etagen den Roman »Über uns« von dem israe­li­schen Autor Eshkol Nevo verfilmt und die Handlung nach Rom verlegt. Der Schrift­steller vertraute dem Regisseur und betei­ligte sich in keiner Weise am Produk­ti­ons­pro­zess, was eine gewisse Souver­änität ausstrahlt und viel­leicht öfter nach­ge­ahmt werden sollte.

Krachend beginnt der Film, mit einem spek­ta­ku­lären Auto­un­fall: Plötzlich steht ein Wagen, nach wilder Irrfahrt, im Arbeits­zimmer eines Wohn­hauses und damit im Leben von drei recht gut situ­ierten Familien, die in diesem Haus wohnen. Ein Reigen aus Schuld und Verant­wor­tung wird in Gang gesetzt und wirbelt den Staub der Gewohn­heit und Sicher­heit auf. Vor allem der Fahrer des Unfall­wa­gens, ein junger Mann (Ales­sandro Sperduti), betrunken bei der Fahrt, muss sich den Folgen seiner Tat stellen, es kam eine Frau zu Schaden. Auch für die Eltern des Mannes, beide Richter, wird dies zu einer Zerreiß­probe ihrer Ehe und Eltern­schaft. Nanni Moretti spielt den liebe­vollen Ehemann und knall­harten Vater, der seine Frau zur unmensch­li­chen Entschei­dung zwingt, zwischen ihm und ihrem Sohn zu wählen. Marg­he­rita Buy als seine vermit­telnde, fein­füh­lige Ehefrau Dora, deren Mimik zwischen Liebe, Angst, Unsi­cher­heit und Verzweif­lung oszil­liert, beein­druckt mit mimischen Zwischen­tönen.

Auch in den anderen Etagen gibt es Probleme. Lucio (Riccardo Scamarcio) aus dem Erdge­schoss muss nun sein Arbeits­zimmer wieder herrichten. Viel mehr beschäf­tigt ihn aller­dings die Frage, was im Park vorge­fallen ist, als seine sieben­jäh­rige Tochter mit dem dementen alten Nachbarn, der oft auf sie aufpasste, umher­irrte, weil beide nicht den Weg nachhause fanden. Er steigert sich in seine Angst vor einem even­tu­ellen Miss­brauch seiner Tochter hinein und verliert dabei jedes Maß und den Blick für seine Mitmen­schen. Da ist es eine will­kom­mene Abwechs­lung, als sich eine jugend­liche Nachbarin (Denise Tantucci) sehr für ihn inter­es­siert. Und dann ist da noch die junge Mutter Monica (Alba Rohr­wa­cher), deren Mann die meiste Zeit außerhalb Roms arbeitet, so dass sie ihr erstes Kind allein zur Welt bringen und dann auch mehr oder weniger allein erziehen muss. Über ihr liegt der lange Schatten ihrer Mutter, welche psychisch krank ist, und auch Monica beginnt Dinge zu sehen, die andere nicht sehen.

Moretti filmt dies alles eher nüchtern, in oft starren und langen Einstel­lungen, was einen reibungs­vollen Kontrast zu den heftigen Emotionen der strau­chelnden Figuren bildet. So senkt sich aufgrund der vielen Tief­schläge und schick­sal­haften Fehl­ent­schei­dungen und -entwick­lungen langsam ein tragi­scher Schleier über den Zuschauer, eine narko­ti­sche Dumpfheit von antiker Tragö­di­en­di­men­sion, was sich auch durch zwei größere Zeit­s­prünge und ein paar Hoff­nungs­tupfer (Tango, Liebe, Versöh­nung) kaum verändert. Aber was steckt hinter diesen Dramen? Sind es noch die antiken Götter, die mit Menschen wie mit Mario­netten spielen? Ist es ein mono­the­is­ti­scher Gott, der ein geschlos­senes Sinn­ge­füge aus Gut und Böse, Himmel und Hölle anzu­bieten scheint? Oder kann uns wenigs­tens die Psycho­logie Erklä­rungen dafür liefern, warum Menschen handeln, wie sie handeln? Moretti gibt auf diese Fragen keine Antworten. Eine Katharsis im aris­to­te­li­schen Sinn kann sich so nicht einstellen, denn wir wissen nicht, wofür das Leiden gut ist oder was es ausgelöst hat. Und so bleibt nach dem Abklingen der Narkose wenig übrig außer einer Menge Fragen. Warum ist die Vater-Sohn-Beziehung derart krass geschei­tert, warum kann sich die Mutter nicht für ihren Sohn entscheiden? Woher kommen die über­großen Ängste des Vaters vor dem Miss­brauch seiner Tochter? Und so weiter. Reicht es, mensch­li­ches Unglück und seine Folgen einfach nur abzu­filmen? Reicht es, Figuren wie Perlen einer Kette hinter­ein­ander aufzu­fä­deln, anstatt die Verflech­tungen deut­li­cher heraus­zu­ar­beiten?

Moretti selbst sagt dazu, dass er mehr an den Folgen der Krisen inter­es­siert war als an den Krisen selbst und er deshalb – im Gegensatz zum Roman – im Drehbuch die zwei Zeit­s­prünge von jeweils fünf Jahren eingefügt hat. Das ist natürlich ein anderer Ansatz, als der, zu versuchen, Krisen und Fehl­ent­wick­lungen zu erklären.

Zu seiner gesell­schaft­li­chen Deutung seines Filmes sagt er: »In dieser Geschichte beob­achten wir die Tendenz zur Isolation, zur Entfrem­dung von einer Gemein­schaft, die wir entweder nicht wahr­nehmen oder deren Offenheit wir nicht erkennen. […] Der Film will uns dazu auffor­dern, offen zu werden für die Welt außerhalb unserer vier Mauern. Es ist unsere Entschei­dung, ob wir uns in eine dieser drei Etagen zurück­ziehen.« Zu dieser Auffor­de­rung zur Offenheit passt sicher die Figur der Dora, welche sich am stärksten weiter­ent­wi­ckelt und bei der sich eine Eman­zi­pa­tion von ihrer eher unter­wür­figen Ehefrau­en­rolle und eine eigen­s­tän­dige Position ihrem Sohn gegenüber abzeichnet. Auch die durch die Stadt tanzenden Tango­paare am Ende des Filmes zeigen einen öffnenden Blick aus den drei Etagen des Hauses, laden zu einer spie­le­ri­schen Sicht auf die Dinge ein, verleihen dem ernsten Film einen Hauch von Poesie.

Die Konzep­tion des Filmes ist aus Morettis Sicht also durchaus schlüssig, keine Frage. Manchen mag sie aber nicht über­zeugen, weil die Geschichten insgesamt recht will­kür­lich oder gar nicht verknüpft erscheinen, weil man über die Beob­ach­ter­rolle nicht hinaus­kommt, weil man zusehen, aber nicht verstehen kann. Die Emotio­na­lität bleibt distan­ziert, aseptisch. Wer über die Verknüp­fungen, Hinter­gründe und inneren Kämpfe zum Thema der Schuld­ver­stri­ckung mehr erfahren will, dem seien die Filme von Alejandro González Iñárritu ans Herz gelegt, z. B. 21 Gramm (2003) oder Babel (2006).