Italien 1959 · 176 min. · FSK: ab 18 Regie: Federico Fellini Drehbuch: Federico Fellini, Tullio Pinelli, Ennio Flaiano, Brunello Rondi Kamera: Otello Martelli Darsteller: Marcello Mastroianni, Anita Eckberg, Anouk Aimée, Yvonne Furneaux, Alain Cuny u.a. |
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Am Ende – in einer Welt voller Leere... | ||
(Foto: STUDIOCANAL) |
»Die Dummheit der anderen fasziniert mich, aber ich ziehe meine eigene vor.«
– Ennio Flaiano, Filmkritiker, Drehbuchautor, Co-Autior von »La dolce vita«
Am Anfang schwebt zur unvergesslichen Musik von Nino Rota eine riesige Christus-Statue über Rom – am Hubschrauber hängend. Spiritualität und Technik, diese zwei Elemente, und die Mischung aus ihnen, aus Mythos und Moderne, Realismus und Romantik bestimmen diesen Film.
In dem zweiten Hubschrauber folgen Reporter Marcello Rubini (Marcello Mastroianni) und sein ständiger Begleiter, der schussbereite Photograph Paparazzo, der den Paparazzi seitdem den Namen gab, um von dem Transport des fliegenden Christus eine knallige Reportage zu machen. Plötzlich aber stoppt der Flug: Die Besatzung hat in einem Swimmingpool unter sich einige Bikini-Schönheiten entdeckt.
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La Dolce Vita von Federico Fellini ist ein Klassiker des Weltkinos.
Dieser Film ist das, was man seinerzeit, im Entstehungsjahr 1959, »ein Sittengemälde« nannte: Das krasse, grelle, episodenhaft erzählte Bild einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft. Mit viel Musik, Sex und Lebenslust, mit Tabubruch, moderner Moral und Zukunftsoptimismus. Also all dem, was wir heute im puritanischen Gegenwartskino vermissen.
Regisseur Federico Fellini stellt hier genau die Welt vor, in der er selber die ersten 15 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg verbrachte, als Drehbuchautor von Rossellini und De Sica, am Rande des »Hollywood am Tiber« in Cinecittà, als »junger Mann« der Neorealismus genannten Neuerfindung des europäischen Kinos: Die Welt der Stars und Sternchen, der Künstler und Intellektuellen, der Neuankömmlinge aus anderen Ländern, für die Italien ein Jungbrunnen war, um doch noch ihr Glück zu machen.
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Fellini zeigt auch die dekadenten Züge der Nachkriegszeit: die Schickeria, eine parasitäre Klasse, die in diesen ersten Nachkriegsjahren überhaupt erst aufkam, die Reichen und ihre Mitläufer, die Halb-Künstler, die Nachtschwärmer, die Skandalpresse.
Sie alle bewegen sich den ganzen fast dreistündigen Film lang rund um die Via Veneto in Rom. Im Zentrum steht ein unscharfer Charakter, der fast wie eine Nebenfigur wirkt, ein Klatschkolumnist, der sich immer wieder am Leben anderer festsaugt und unermüdlich den mehr oder weniger hohlen Sensationen des Tages nachjagt, dabei innerlich teilnahmslos und müde ist, und der es genau durch seine Passivität schafft, dass alle anderen sich ihm öffnen: Marcello Mastroianni spielt – zum ersten Mal bei Fellini – diesen charming boy, der nur oberflächlich betrachtet vollkommen ohne Skepsis ist.
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Eine der vielen Anekdoten, die sich durch den ganzen Film ziehen, ist die Geschichte von der Gottesmutter Maria, die zwei armen Kindern angeblich erscheint. Der Ort wird sofort zum Ort für Wallfahrten und einen grausigen pseudoreligiösen Rummel, hervorgerufen von ein paar armen Leuten, die aus Geldgier ihre Kinder zu der Lüge anhalten, sie hätten religiöse Visionen. Fellini mischt die Darstellung eines religiösen Wahns mit einer scharfen Analyse der Manipulierbarkeit der Massen.
86 Schauspieler und Laien treten in zwölf Episoden auf. Fellini inszenierte noch einmal die Begebenheiten, die den Lesern von Groschen-Blättern und Millionen-Illustrierten vertraut sind: den barfüßigen Cha-Cha-Cha der Anita Ekberg, die Ohrfeigen-Szene auf der römischen Flanierstraße Via Veneto.
Schließlich geht es auch um das vorbildliche Leben eines Intellektuellen namens Steiner, der wiederum Cesare Pavese nachempfunden ist und der sich plötzlich, ohne erkennbaren Grund, aus dem Nichts tötet.
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Als La Dolce Vita in Italien herauskam, erregte er heftigste Skandale, der Vatikan forderte ein Verbot, und als das nicht zustande kam, verbot er braven Katholiken den Besuch des Kinos.
Ein Schlüsselfilm der fünfziger Jahre und ein Klassiker des italienischen Kinos. Der Film ist der größte Erfolg in der Karriere von Fellini – 1960 gewann La Dolce Vita in Cannes die Goldene Palme. Jurypräsident war der Schriftsteller Georges Simenon, mit dem Fellini bald eine enge Freundschaft verband, ein weiteres Mitglied der Jury war Henry Miller.
Zugleich markiert der Film den Übergang seines Kinos vom Neorealismus der Nachkriegszeit zu etwas anderem. La Dolce Vita unterscheidet sich schon komplett von jenem Kitsch über die Kraft der einfältigen Herzen und der unbedingten Liebe, in dem der studierte Doktor der Rechte Fellini gemeinsam mit seiner Gattin Giulietta Masina in den Filmen La Strada und Die Nächte der Cabiria geschwelgt hatte. Doch auf den Palmen-Sieger folgte jene Selbstzweifel-Sackgasse, die Fellini dann in 8½ noch höchst poststrukturalistisch versiert beschrieb, aber nie wirklich überwand, sondern in »fellinesken« Fett-, Grotesk- und Bildorgien erstickte.
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Nie wieder war Fellini so; und nie wieder so gut. La Dolce Vita war deshalb so welterfolgreich, weil er spöttisch war, sarkastisch, liebevoll zugleich, von jener Mischung aus Lust an der Anekdote, scharfer Beobachtung, zynischer Coolness und flirrender Lust am Hier und Jetzt getrieben, wie sie auch das Treiben und die Produkte der Klatschreporter kennzeichnet, die Fellini hier porträtiert.
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Mit dieser Rolle wurde Marcello Mastroianni über Nacht ein Weltstar. Ebenso Anouk Aimee als die reiche gelangweilte Erbin Maddalena.
Ein junger Rock'n'Roller namens Adriano Celentano ist genauso in einer Nebenrolle zu sehen, wie das deutsche Model Nico, die später zur unvergesslichen Leadsängerin von »Velvet Underground« wurde.
Der Tarzan und spätere Old Shatterhand Lex Barker spielt hier das, was er ist: Einen amerikanischen Schauspieler, der nicht ganz den großen
Durchbruch geschafft hat.
Und natürlich Anita Ekberg. Neun Tage dauerten allein die Aufnahmen jener ikonischen Szene mit der ehemaligen Miss Malmö im Brunnen Fontana di Trevi. Ekbergs Bad ist ein geradezu mythisches Sinnbild: Diana im Bade, die Nymphe, die aus dem Wasser kommt, und Botticellis berühmtes Gemälde »Die Geburt der Venus« verschmelzen zu einer Metapher auf die ungenierte Freizügigkeit der Jahre um 1960.
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Es gibt Seitenblicke und Seitenhiebe auf alles: Auf die Sandalen-Filme, die gerade in der Cinecittà vor den Toren Roms gedreht wurden, auf die neue italienische Literatur, auf Moravia, Morante, Ginsburg und Pasolini.
Immer wieder mischte Fellini hier Wirklichkeit und Fiktion: echte Pressekonferenzen mit echten Römern und tatsächlich existierenden Journalisten mit seinen Figuren. Die Gäste im Salon des traurigen Schriftstellers Steiner waren wohlbekannte Gesichter der Kunst und Literaturszene der Hauptstadt.
Nicht zuletzt, sondern vor allem ist La Dolce Vita ein großartiger Rom-Film – vielleicht der großartigste von allen. Das Leben in der Via Veneto, die Schriftsteller und Filmemacher, die in einem Café sitzen, die Halbwelt, die Amerikaner, die sich in Rom amüsieren und aufführen wie antike Eroberer, sie alle sind ein unvergängliches Kapitel italienischer und europäischer Kulturgeschichte.
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Marcello, das könnte eine Gestalt von Alberto Moravia sein, der hier genauso wie viele andere einen Kurzaufenthalt hat, ein »Müßiggänger« und »Gleichgültiger«, der nach Rom aufbricht, um ein ernsthafter Schriftsteller zu werden. Doch inzwischen sind seine Illusionen und Ambitionen längst begraben, er hält sich als Klatschreporter über Wasser und berichtet über Treiben und Exzesse der römischen High Society. Dabei gerät er immer mehr in den Sog dieser Szene. Er nimmt die Schauspielerinnen und Sternchen mit, die sich anbieten, er erlebt die nächtlichen Eskapaden einer Hollywood-Blondine im Trevi-Brunnen.
Am Ende, nach der wilden Partynacht, steht er dann mit der verkaterten Gesellschaft am Strand von Ostia, distanziert zwar, weil er alles durchschaut, bleibt aber doch dazugehörend.
Es ist ziemlich genau die Stelle in Ostia, an der 15 Jahre später Pasolini ermordet werden sollte. Ein Fischer zieht einen Riesenkraken an Land. Ein Meeresungeheuer.
Und das Mädchen Paola, das er zuvor in einer Strandbar kennengelernt hatte, ruft Marcello einige Sätze zu, die aber im
Meeresrauschen untergehen: Der junge Skandalreporter versteht die verschlüsselten Zeichen der Hoffnung nicht, die sie verkörpert. Stattdessen sieht er um sich herum nur eine Welt voller Leere, Sinnlosigkeit, Vergnügungssucht, Oberflächlichkeit, Eitelkeit und Dummheit.
Das letzte Bild gilt dem Blick der Jungen auf ihn, gilt der Hoffnung und Zukunft, die Paola verkörpert.