Doch das Böse gibt es nicht

Sheytan vojud nadarad

Iran/D/CZ 2020 · 152 min. · FSK: ab 12
Regie: Mohammad Rasoulof
Drehbuch:
Kamera: Ashkan Ashkani
Darsteller: Ehsan Mirhosseini, Shaghayegh Shourian, Kaveh Ahangar, Alireza Zareparast, Salar Khamseh u.a.
Auch ein Politikum: Der Imker und sein Volk
(Foto: Grandfilm)

Exekutive der Ohnmächtigen

Mohammad Rasoulofs Berlinale-Gewinner Doch das Böse gibt es nicht findet den ästhetischen Ausweg aus der Zensur, während er das Vexierbild einer Gesellschaft in der moralischen Falle zeichnet

Ein karger Raum, Stock­werk­betten, in denen Männer schlafen. Pouya ist kurz vor dem Durch­drehen, er ist schweißü­ber­strömt. Im Waschraum schaufelt er sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht, schaut in den Spiegel, als suche er in seinen fragenden Augen auch gleich­zeitig nach einer Antwort. Geht wieder zurück in den engen Schlaf­raum. Er ist unruhig, eine Seelen­qual treibt ihn um. Die gerade noch geschlafen haben rühren sich jetzt. Beschweren sich über die Unruhe. Da klingelt sein Handy. Seine Freundin. Pouya spricht von der gemein­samen Zeit, die sie verbringen werden. Alles bleibt rätsel­haft: Ist das hier ein Gefängnis? Ist ein Ausbruch geplant?

Der iranische Film Doch das Böse gibt es nicht, Gewinner des Goldenen Bären 2020, ist in vier Episoden erzählt, und jede dieser Episoden trägt in sich die Eigen­schaft, erst allmäh­lich erkennen zu lassen, was sich hier eigent­lich abspielt. Teilweise sind die Szenen von Codes über­schrieben, die wir west­li­chen Zuschauer nur sehr bedingt entschlüs­seln können. So sind die besagten Männer keine Inhaf­tierten, sondern Wehr­pflich­tige, eigent­lich unschwer an ihrer Uniform zu erkennen. Pouya wird aus der Armee deser­tieren, der Ausbruch glückt, was fast schon ironisch von »Bella Ciao«, dem Parti­sa­nen­lied – und der Hymne der Grünen Protest­be­we­gung von 2009 –, besungen wird, während Pouya und seine Freundin mit dem Flucht­auto in die Berge von Teheran fahren. Oder in der ersten Episode: Warum holt Heshmat, der umsor­gende Fami­li­en­vater, sein Monats­ge­halt nicht selbst bei der Bank ab, sondern schickt seine Frau vor?

Mit einem plötz­li­chen Umschnitt am Ende dieser ersten Episode lässt Regisseur Mohammad Rasoulof sein Thema auf scho­ckie­rende Weise in den Film hinein. Alle vier Episoden befassen sich mit der irani­schen Todes­strafe, oder vielmehr mit dem Dilemma, dem diese Exekutive der Ohnmäch­tigen ausge­setzt ist. Es sind Männer, vor allem jene, die im Zuge ihres zwei­jäh­rigen Mili­tär­dienstes gezwungen sind, »den Hocker wegzu­ziehen«, wie sie die Henker­tä­tig­keit lapidar beschreiben, um die Sache nicht beim Namen nennen zu müssen. Sie sind Voll­stre­cker der Todes­ur­teile, und sie haben kaum die Wahl. Als Belohnung winken drei Tage Urlaub.

Rasoulof hat ein äußerst brisantes Thema insze­niert, dabei geht er behutsam vor, wird aber auch sehr deutlich. Es wird gehenkt, weil der Staat es will – diese Aussage formu­liert der Film unmiss­ver­ständ­lich. Doch das Böse gibt es nicht ist keines­wegs so moralisch-amora­lisch, wie der Titel viel­leicht sugge­riert, auch ist hier nicht etwa die »Banalität des Bösen«, das Böse der Mitläufer, gemeint. Um das Böse geht es hier gar nicht, möchte man nach dem Film einwenden. So ist der deutsche (wie auch der inter­na­tio­nale) Verleih­titel verwelt­licht, während der Origi­nal­titel Sheytan vojud nadarad direkt auf den Teufel abzielt: »Scheitan«, das ist der böse Dämon im Koran, mit ihm verlegt sich der Akzent außerhalb des Menschen in die meta­phy­si­sche Sphäre. »Doch den Teufel gibt es nicht« hieße dann im Umkehr­schluss: hier haben wir es mit dem Machwerk des Menschen zu tun. Was durchaus einen anderen Akzent auf den Film legt. Indem der Mensch auf sich selbst zurück­ge­worfen wird, posi­tio­niert er sich jenseits der Moral, jenseits von Gut und Böse. Die Hand­lungen werden nun nach ihrer Wirkung beurteilt, nicht nach ihrer Absicht. Und schon gar nicht nach der etwaigen Schuld der Hinge­rich­teten, wie es die Menschen in dem Film einmal disku­tieren.

Rasoulofs Film zeigt exem­pla­risch, wie Menschen zu den Erfül­lungs­ge­hilfen einer ungleich nekro­philen Staats­po­litik gemacht werden. Allein die Statistik ist erschüt­ternd: Mit seinen Hinrich­tungen rangiert der Iran hinter China weltweit auf Rang zwei. Fast täglich wird jemand gehängt, 246 waren es im Jahr 2020, meldet Amnesty Inter­na­tional. Auf der Seite des Auswär­tigen Amts ist nach­zu­lesen, dass der Strang nicht nur bei Kapi­tal­ver­bre­chen droht, sondern auch »für schwere Drogen­de­likte, bewaff­nete Raubü­ber­fälle, schwere Finanz­de­likte und bestimmte Sexu­al­hand­lungen (Geschlechts­ver­kehr außerhalb der Ehe, gleich­ge­schlecht­li­cher Geschlechts­ver­kehr)«. Die Hinrich­tungen wurden in den letzten Jahren kaum weniger, auch Minder­jäh­rige werden getötet, auch öffent­lich, was es sonst nur noch in Nordkorea gibt. Das Thema stellt für den Iran eigent­lich eine große Schlag­zeile dar, und doch muss man erst recher­chieren, um das ganze brisante Ausmaß zu erfassen. Und wie erstaun­lich ist es doch, dass es diesen Film gibt.

Doch das Böse gibt es nicht ist jedoch keines­wegs ein alar­mis­ti­scher Anlie­gen­film, auch, weil er die fakti­schen Details voren­thält. Kunstvoll verknüpft Rasoulof statt­dessen die vier Episoden, was ihm erlaubt, auch vieles unaus­ge­spro­chen zu lassen. Jede Episode wird zum Echo einer anderen, vieles erklärt sich erst aus den nach­fol­genden Erzäh­lungen. Der 49-jährige Rasoulof drehte den Film, während er jederzeit damit rechnete, seine Haft­strafe antreten zu müssen, zu der er wegen »Propa­ganda« und »Gefähr­dung der natio­nalen Sicher­heit« verur­teilt wurde. In Hamburg, wo er bis 2017 lebte, hat er dennoch einen Flucht­punkt gefunden, Schnitt und Post­pro­duk­tion fanden dort statt. In der letzten Episode erzählt er so auch von einem deutsch-irani­schen Schicksal, Baran Rasoulof, seine in Hamburg lebende Tochter, spielt mit west­li­cher Schnö­se­lig­keit Darya, die ihren Onkel im irani­schen Backland besucht. Dieser ist Arzt, darf aber nicht prak­ti­zieren, er fährt Auto, hat aber keinen Führer­schein. Für Darya ist das alles sehr unver­ständ­lich. Wir jedoch ahnen schon, was der Grund sein könnte.

Auf eine iranische Produk­ti­ons­ge­neh­mi­gung hat Rasoulof nicht gehofft. Unter vier verschie­denen Namen bean­tragte er die Dreh­erlaubnis für vier Kurzfilme an unter­schied­li­chen Schau­plätzen. So motiviert sich die Episo­den­struktur des Films vor allem als ästhe­tisch gewonnene Möglich­keit, der poli­ti­schen Zensur zu entkommen. Die einzelnen Teile wirken dabei oftmals gleich­nis­haft, auch didak­tisch, entfalten aber auch unter­schied­liche Tona­li­täten. Während die erste Episode, die über weite Strecken im dichten Straßen­ver­kehr von Teheran in einem Auto spielt, an Jafar Panahis Taxi Teheran (2015) erinnert – Panahi und Rasoulef haben immer wieder zusam­men­ge­ar­beitet –, fühlt man sich in der letzten Episode in die Filme von Abbas Kiaros­tami versetzt. Wenn sich die Nichte aus Hamburg auf der Suche nach dem Mobilnetz auf dem höchsten Punkt der kargen Gesteins­land­schaft posi­tio­niert oder sich das alte Auto des Onkels durch die staubigen Hügel müht, denkt man an Der Geschmack der Kirsche (1997) oder Der Wind wird uns tragen (1999), so präsent sind noch immer Kiaros­t­amis Aufnahmen von den abge­le­genen irani­schen Land­schaften.

Das Pitto­reske fernab der urbanen Zivi­li­sa­tion jedoch trügt damals wie heute. Rasoulofs Film­bilder sind narrative Vexier­bilder, die ihre ganze Bedeutung erst hervor­treten lassen, wenn der Betrachter weiß, wie der Blick auf die verbor­genen Bild­bot­schaften fokus­siert werden muss. Mit seinen kippenden Bildern und den exem­pel­haft wirkenden Episoden folgt Doch das Böse gibt es nicht der starken, oftmals para­bel­haften Tradition des irani­schen Kinos; Rasoulof führt das Poli­ti­sche und das Ästhe­ti­sche höchst plausibel zusammen. Gleich­zeitig wird deutlich, dass es keine Alter­na­tive für das Leben in der Freiheit geben kann. Das gilt auch für die Freiheit der Kreation.