USA/GB 2018 · 112 min. · FSK: ab 6 Regie: Wash Westmoreland Drehbuch: Wash Westmoreland, Rebecca Lenkiewicz, Richard Glatzer Kamera: Giles Nuttgens Darsteller: Keira Knightley, Dominic West, Eleanor Tomlinson, Denise Gough, Aiysha Hart u.a. |
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Auf dem Weg zu einem neuen Menschen |
Vielleicht mag es ein wenig verfrüht klingen, schon jetzt von der Post-#MeToo-Ära zu sprechen, doch da die Filmindustrie gesellschaftliche Entwicklungen oft schneller verarbeitet als der gemeine Mensch, befinden wir uns vielleicht nicht gefühlt, aber tatsächlich bereits im Übergang von einer Phase des Widerstands und der Analyse zu so etwas wie einer Neupositionierung, die mit einer Reihe von Filmen einen Sog entwickelt, der fast unwiderstehlich ist. Am charakteristischsten an dieser Filmwelle ist vielleicht die Neuschreibung von Geschichte, die AutorInnen in einem völlig neuen Licht bewertet und #MeToo gewissermaßen um ein paar Jahrhunderte oder auch nur Jahrzehnte vordatiert. Ich denke hier an schon in den Kinos laufende oder in Kürze startende Biobics wie Haifaa Al Mansours ein wenig zu konventionelles Porträt über die Autorin von »Frankenstein«, Mary Shelley, oder Marielle Hellers großartige Suche nach der erfolglosen Autorin Lee Israel in CAN YOU EVER FORGIVE ME.
Auch Wash Westmorelands vielschichtiges Biopic Colette über die französische Autorin, Varietékünstlerin und Journalistin Sidonie-Gabrielle Colette (1873-1954) bewegt sich in diesem Fahrwasser. Idealerweise läuft Westmorelands Film zeitgleich mit einem der wenigen fiktiven Filme – also ohne biografische Elemente zur Erhärtung der neuen historischen Positionierung – an. Obwohl ein halbes Jahrhundert vor Björn Runges anlaufender Meg Wolitzer-Verfilmung Die Frau des Nobelpreisträgers spielend, werden in beiden Filmen sehr ähnliche Geschichten erzählt. Was im Grunde nicht weiter überrascht, finden sich doch auch noch heute, weitere 50 Jahre später nicht auszumerzende Genderstereotypen in fast allen Lebenslagen. Erstaunlich dabei ist vielmehr, dass es in Westmorelands Colette der Autorin, die wie in Runges Film ebenfalls für ihren Mann im Geheimen die Bücher schreibt, tatsächlich gelingt, sich zu emanzipieren. Und das nicht nur literarisch, sondern auch auf Beziehungs- und sexueller Ebene.
Anders als Runge, der sich im Kern für ein verdichtetes Kammerspiel entscheidet, bettet Westmoreland sein Coming-of-Age einer Autorin allerdings in weitaus größere gesellschaftliche Bezüge ein. Wir sehen nicht nur Colette und ihren kleinbürgerlichen, ländlichen Hintergrund, sondern werden auch Zeuge des neu anbrechenden Jahrhunderts und seines Versprechens neuer gesellschaftlicher Utopien. Zwar heiratet Colette (Keira Knightley) noch ganz konform den viel älteren Schriftsteller Henry (Dominic West), doch als Gattin eines Autors – und schnell auch Co-Autorin – sozialisiert das Leben der Pariser Bohème auch Colette rasch zu einem neuen Menschen. Erst fügsam, emanzipiert sie sich nicht nur über das Schreiben, sondern auch den Tanz und schließlich auch über Beziehungen, die das klassische Mann-Frau-Bindungsmuster hinter sich lassen.
Westmoreland verfällt dabei jedoch nie propagandistischer Weichzeichnerei. Stattdessen wandelt Westmorelands Colette auf einem ähnlich schmalen Grat zwischen Sieg und Niederlage, Stärke und Schwäche, Selbstbewusstsein und Selbstzweifel wie die Protagonistin seines letzten Films Still Alice (2014). Und ähnlich ambivalent und komplex wie damals Julianne Moore in Still Alice darf auch Keira Knightley ihre Rolle interpretieren und wird damit wohl auch am ehesten der historischen Vorlage gerecht.
Ähnlich differenziert – und das ist vielleicht die eigentliche Stärke an Westmorelands Colette – wird auch der historische Komplex behandelt, wird doch schnell deutlich, dass jedem Öffnen der Gesellschaft für Neuerungen ein Schließen folgt und es damit gar nicht mehr so erstaunlich ist, dass das, was Colette möglich war, Runges Heldin in Die Frau des Nobelpreisträgers verwehrt bleibt.
Den Nobelpreis hat Colette zwar nie bekommen, aber das mag auch nur daran gelegen haben, dass das richtige Leben dieser französischen Schriftstellerin (1873-1954) und Pionierin weiblicher Gleichberechtigung noch aufregender war als jeder ihrer Romane – obwohl viele dieser Romane ziemlich direkte Paraphrasen ihres Lebens waren, vor allem jene insgesamt sechs, in denen ihre Heldin Claudine im Zentrum steht.
»Claudine – das bin ich!« sagt Colette auch im Film des Engländers Wash Westmoreland über dieses schillernde Roman-Alter-Ego. Colette, das zur Erinnerung, war eine Sensation der Belle Epoque. Eine Vorkämpferin des Feminismus und der Frauenrechte, eine Bestseller-Autorin, aber keineswegs eine Charlotte Roche ihrer Zeit, sondern eher deren Gegenteil: Ihre Claudine-Romane waren zwar höchst libertär, eine Art gehobener Schulmädchenreport, aber aus dem Blickwinkel eines »bösen Mädchens«, das die herrschenden Normen infrage stellt und herausfordert – rebellisch, und dabei sehr dezent und sensibel in der Schilderung weiblichen Begehrens.
Der Film Colette erzählt, wie es zu diesen Büchern kam, die den Ruhm der jungen Frau begründeten. Denn wie viele Frauen ihrer Generation floh die 19-Jährige 1892 vor dem strengen Elternhaus in eine Ehe mit einem wesentlich älteren Mann – und damit in eine Volljährigkeit, die aber zugleich mit der neuen Abhängigkeit vom Gatten erkauft wurde. Colette war allerdings keine, die sich wie ein Vogel im goldenen Käfig halten ließ, und ihr Mann, der Schriftsteller Henry Gauthier-Villars auch keiner, der das wollte. »Ich möchte an allem teilhaben, und nicht wie eine kleine Hausfrau behandelt werden«, sagt die Colette dieses Films. So war diese Partnerschaft im Gegenteil über fünfzehn Jahre eine für ihre Zeit durchaus gleichberechtigte und vor allem libertäre Ehe, in der beide Seiten das Leben und die Freiheit der Bohème im Fin-de-Siècle genossen. Und Gauthier-Villars erkannte das Talent seiner Frau und ermunterte sie zu Schreibversuchen. Davon profitierte nicht zuletzt auch er selbst: Denn Colette begann als Autorin, deren Werke um die prüde Jahrhundertwende anfangs unter dem Namen ihres Mannes erscheinen mussten. Bald ließ sie sich aber nichts mehr von anderen sagen und setzte sich in der von Männern bestimmten patriarchalen Welt durch – wie zur selben Zeit nur wenige andere Frauen.
Keira Knightley spielt die Colette als moderne, heutige, ebenso kesse wie intelligente junge Frau, die ihr Recht und stellvertretend das aller Frauen auf erotische und künstlerische Selbstverwirklichung einfordert. Dazu gehörte eine Existenz als Salonlöwin, wo Colette unter anderem zu Marcel Proust, Paul Valéry und André Gide Kontakte knüpfte. Dazu gehörten freizügige Auftritte als Tänzerin und Schauspielerin in Varieté-Shows und in frühen Stummfilmen.
Dazu gehörte aber erst recht ein offen bisexuelles Liebesleben: Colette verließ ihren Mann und hatte im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg Beziehungen zu der Amerikanerin Georgie Raoul-Duval (Eleanor Tomlinson) und der adeligen »Crossdresserin« Mathilde de Morny (Denise Gough), die als »Missy« für einige Jahre auch ein Pariser Theaterstar war – ein Kuss zwischen Colette und Missy auf der Bühne des »Moulin Rouge« war 1906 Pariser Stadtgespräch. Noch vor 1914 heiratete Colette erneut, bald darauf hatte sie sich dann endgültig auch als Künstlerin durchgesetzt: 1920 schlug man sie zum »Ritter der Ehrenlegion«, und bis zu ihrem Tod lebte Colette anerkannt und wohlhabend durch eigenes Einkommen.
All das bildet den bunten, aber eben auch hochinteressanten Hintergrund dieses ebenso unterhaltsamen wie intelligenten Films. In mancher Hinsicht ist Colette zwar auch eine weichgespülte Darstellung dieses Frauenlebens, gehobenes Wellnesskino für überwiegend weibliche, nicht mehr ganz junge Zuschauer. Und thematisch unter anderem auch ein Zeichen für die Folgen von »#Me Too« und die geschärfte Aufmerksamkeit mancher Kreise für Frauenschicksale in patriarchalen Welten.
Stilistisch ist dieser Film ähnlich wie Colettes Romane keine revolutionäre Kunst: Eher gekonntes Kunsthandwerk als eine Infragestellung oder wenigstens Irritation unserer Lebens- und Denkweise, aber um so interessanter als Zeitgeistphänomen. Man sieht eine schreibende Frau – das, was man in der heutigen Marketingsprache dann eine »starke Frau« nennt – in einer Männerwelt und großbürgerlichen Kunstszene, und man begegnet einer Umwelt, die das nicht sieht, nicht sehen will oder sehen kann.
Die Colette dieses Films ist wie ihr reales Vorbild auch eine ganz unzeitgemäße Heldin: Eine Rebellin, die nichts und niemanden für das eigene Schicksal verantwortlich macht, außer sich selber. Lebenslange Selbstbescheidung, Frust und Leid oder Schuldzuweisungen an die Umwelt, wie sie einem in dem Film Die Frau des Nobelpreisträgers in Form der Glenn-Close-Figur begegnet, sucht man hier vergebens. Das macht ihn zu einem außergewöhnlichen Film und Colette zu einer hochinteressanten Frauenfigur, einem Vorbild auch für unsere Zeiten. Colette war eine Selfmade-Frau, eine, die sich zeitlebens nichts sagen ließ.