Caught by the Tides

Feng liu yi dai

China 2024 · 111 min. · FSK: ab 12
Regie: Jia Zhang-Ke
Drehbuch: ,
Kamera: Eric Gautier, Nelson Lik-wai Yu
Darsteller: Zhao Tao, Li Zhubin, Zhou You, Changchu Xu, Hu Maotao u.a.
Caught by the Tides
Humanoid heißt auch: nicht menschlich. Begegnung mit der Zukunft
(Foto: Rapid Eye Movies)

Traumfänger

Jia Zhang-ke lässt noch einmal die Schauspielerin Zhao Tao durch zwanzig Jahre seines Werks schreiten. Dabei ist mit schmerzhafter Melancholie zu sehen, wie China in den Kapitalismus aufbrach

Tröst­liche Eska­pismen durch­ziehen das Werk des Chinesen Jia Zhang-ke, der uns viele Jahre lang mit harten Gangster-Geschichten über das China im neoka­pi­ta­lis­ti­schen Wandel erzählt hat. Jetzt kommt Caught by the Tides ins Kino, der eine Sonder­stel­lung einnimmt. Nicht wirklich ein neuer Film, wirkt er beim Sehen wie ein ferner Gruß aus einer anderen Zeit, ist zugleich herme­tisch und sehr verfüh­re­risch. Caught by the Tides ist, bis auf eine kleinen Teil neuge­drehter Szenen in der Jetztzeit, ein Kompi­la­ti­ons­film von Jias eigenen Filmen seit den 2000er Jahren. Die Kraft der Bilder wirkt noch immer, lässt sich beim erneuten, kontext­losen Sehen fest­stellen. Heraus­gelöst aus den Filmen und von der titel­ge­benden »Ebbe und Flut« erfasst wurden Emotionen und Szenen von zwanzig Jahren Film­schaffen, die Jia mit denselben Schau­spie­le­rinnen und Schau­spie­lern insze­niert hat. Sie wurden mit der Zeit älter, so kann sein Rückblick mit einemmal wie eine Lang­zeit­do­ku­men­ta­tion wirken, sie sind auch Träger eines großen narra­tiven Bogens, wie etwa bei Richard Linklater. Nur deshalb ist dieser Film jetzt überhaupt möglich; er offenbart viel von Jias Arbeits­weise.

In der Rückschau lässt sich der Regisseur – und auch der Zuschauer, die Zuschauerin – von Melan­cholie erfassen. Zu sehen ist noch einmal, als wäre dies nicht schon getane Arbeit, ein China im Umbruch, als der alte Zusam­men­halt der Menschen ausein­an­der­brach. Es ist die Phase der Wander­ar­beiter, der kargen Unter­künfte, der Mahjong-Spieler und -Spie­le­rinnen. Der Drei­schluchten-Damm wird gerade erst noch gebaut, die Bewohner umge­sie­delt. Szenen aus Still Life (2006) zeigen den Abbruch der Häuser, Yin, die Prot­ago­nistin, geht noch einmal durch die Straßen, sieht noch einmal das Verschwinden der unwie­der­bring­li­chen Zeit. Wieder spielt Zhao Tao diese Yin, sie ist eine Wieder­keh­rerin aus Platform (2000), als Jia Zhang-ke mit seinen Erzäh­lungen über die Menschen im aufbre­chenden China und seiner großen Werkphase begann. Der Film hat ihn bekannt gemacht als Doku­men­ta­risten des Wandels, und als epischen Erzähler zutiefst melan­cho­li­scher und auch sehr poeti­scher Filme.

Caught by the Tides sammelt nun diese Melan­cholie wie durch einen Traum­fänger ein. Das Poetische erhält er, die viele Musik seines Werks, die Karaoke-Nummern, die Disco-Tänze, die Musi­cal­ein­lagen, die in seine dysto­pi­schen Filme immer wieder hinein­bre­chen dürfen. Er lässt Zhao Tao noch einmal durch das chine­si­sche Hinter­land gehen, an den Indus­trie­an­lagen und Kohle­werken vorbei, während sie die Jacke mit beiden Händen über ihren Kopf hält, als wäre die ein Cape, das Super­kräfte verleiht.

Jia folgt Yin, seiner Heldin, quer durch die Filme. Dabei aber suspen­diert er deren Erzäh­lungen, man flottiert losgelöst von den Geschichten durch die Zeit, wird rein- und raus­ge­spült in die Bilder. Am Schluss ist man in der Jetztzeit angelangt, wird mit den Maßnahmen gegen die Covid-Pandemie und einem Super­markt-Roboter, einer Art Einkaufs­as­sis­tenz, mit einer neuen Realität konfron­tiert.

Destil­liert wird dabei das werks­ty­pi­sche Neben­ein­ander aus Spiel­film­hand­lung und dem Doku­men­tieren einer von Emotionen gesät­tigten Wirk­lich­keit. Am meisten, so wird es im Schnell­durch­lauf durch die Zeit deutlich, ist Jia am echten Leben gelegen, an der Arbei­ter­schaft, den Verlo­renen, den Träu­menden. Über sie wollte er immer erzählen, nur deshalb überhaupt gibt es seine Fiktionen, teilt sich unter­schwellig mit.

So nimmt sich Caught by the Tides wie das poeto­lo­gi­sche Ende seines Werks aus. Wenn die Hoffnung und die Träume aus den Menschen gewichen sind, als Sprung­bretter in die Imagi­na­tion, gäbe es im neuen China keine Geschichten mehr zu erzählen. Weil der Umbruch vorbei ist, und mit ihm sogar die Trauer über das Verschwinden einer Zeit.