Böse Zellen

Österreich/D/CH 2003 · 118 min. · FSK: ab 12
Regie: Barbara Albert
Drehbuch:
Kamera: Martin Gschlacht
Darsteller: Kathrin Resetarits, Ursula Strauss, Georg Friedrich, Marion Mitterhammer u.a.

Zwischen Hyperrealismus und dem Unerklärlichen

Gibt es so etwas wie ein Schicksal? Vorsehung? Steht der Zeitpunkt des Todes fest und kann nicht beein­flusst werden? Und was ist es überhaupt, für dass es sich zu Leben lohnt?

Dieser Film erzählt viele Geschichten, die raffi­niert mit einander verknüpft sind: Schü­ler­liebe, Ehebruch, Todes­sehn­sucht, Einsam­keit, verlorene Mutter oder nie gekannte Vaterdie Suche nach Erklä­rungen im Zwischen­mensch­li­chen und im Über­sinn­li­chen führt nicht immer zu letzten Wahr­heiten, doch oft genug zu Antworten, mit denen die Prot­ago­nisten weiter leben können. Alltäg­liche Menschen, die über Zufälle und Lebens­um­s­tände verbunden sind, und ein Film über die ganz großen Themen des Kinos: den Tod und die Liebe.

Was spek­ta­kulär und weltoffen beginnt ein Urlaub in Rio, ein Flug­zeug­ab­sturz führt uns in den Mikro­kosmos einer niederös­ter­rei­chi­schen Klein­stadt zwischen Einkaufs­zen­trum und Landdisco, Schule und Fernseher. So unter­schied­lich die Prot­ago­nisten, ihre Herkunft und ihre Geschichte auch sein mögen, vom Chaos-theo­re­ti­sie­renden Lehrer, der das Leben nur aus Büchern kennt, zur allein stehenden älteren Frau zwischen Puzzle und Chor, von der verach­teten Mitschü­lerin zum bezie­hungs­un­fähigen Vertre­te­r­alle sehnen sich nach Nähe und Gebor­gen­heit, auch wenn die »klas­si­sche Lösung« der Paar­be­zie­hung vom Rück­zugs­ge­biet schnell zur Falle werden kann.

Zurück­hal­tend und überlegt insze­niert Barbara Albert ihre Geschichten von ganz normalen Leuten, und den seltenen Glücks­mo­menten gilt die gleiche genaue Beob­ach­tung wie den alltäg­li­chen Kata­stro­phen. Meis­ter­haft reduziert ist die Darstel­lung des Flug­zeug­ab­sturzes, wenige Bilder genügen, den Eindruck des Gesche­hens wieder­zu­geben, und auch ein Auto­un­fall kann unspek­ta­kulär und doch nahe gehend gezeigt werden. Dazu beweist sich wieder einmal die hohe Kunst der Tonmi­schung: wie allein auf der Ebene der Geräusche Personen isoliert oder betont werden können, wie Musik Bilder hervor­ruft, weiß die Regis­seurin geschickt einzu­setzen.

Dabei gewinnt der Realismus eine neue Ebene: wenn es um die Perspek­tive aus dem Jenseits geht, um Geis­ter­be­schwö­rung und die Ahnung einer Paral­lel­welt, sugge­riert die Kamera wirk­li­ches Geschehen. Religion ist zu Symbolen geronnen, und die nicht unum­strit­tene Fami­li­en­auf­stel­lung steht mitten zwischen ratio­naler Weltsicht und der Ahnung verbor­gener Abläufe. So stellt der Film eine Versuchs­an­ord­nung dar, zeigt Möglich­keiten, dem Leben zu begegnen und mit Verlusten umzugehen.

Das Öster­reich­bild, das Alberts Film ähnlich wie Ulrich Seidls Hundstage, Jessica Hausners Lovely Rita und Peter Payers Unter­su­chung an Mädeln vermit­teln, ist nicht gerade schmei­chel­haft, doch man sollte sich hüten, die gezeigten Menschen nur in Öster­reich zu vermuten. Klein­bür­ger­li­chen Mief und erstarrte Struk­turen gibt es hier genauso, und die Tatsache, dass Barbara Albert als Öster­rei­cherin einen Film über eine Gesell­schaft macht, die ihr vertraut ist, bedeutet nicht, dass die Charak­tere nicht ebenso in Bielefeld oder Pforzheim leben könnten. Manchmal tut es gut, vorge­führt zu bekommen, worüber man sonst nicht nachdenkt.

Hard Cuts

Die Öster­rei­cher haben immer wieder ein beson­deres Händchen dafür, den inneren Schwei­ne­hund auf die Bühne zu bringen. Selbst wenn sie sich ihr Produk­ti­ons­budget aus umlie­genden Ländern zusam­men­klauben und ein »DÖS«-Film daraus wird, in dem Deutsch­land und die Schweiz dem »Ö« unter die Arme greifen. Böse Zellen ist ein Statio­nen­drama, das Momente aus dem Leben verschie­dener Figuren neben­ein­ander erzählt. Nein, das ist nicht ganz richtig: Über­ein­ander. Rückwärts gestapelt und durch­ge­schüt­telt. Das Rezept von Memento geklaut und mit öster­rei­chi­scher Tristesse verfei­nert.

Momente der Beob­ach­tung: In irgend­einem neu erbauten Einkaufs­center des Alpen­staates kehren Putz­frauen bunte Müllreste der Einwei­hungs­feier zusammen. Was noch heil ist an den kleinen Plas­tik­mas­kott­chen des Bauspar­un­ter­neh­mens wird verstohlen in die weiten Taschen der Arbeits­kluft gesteckt. Die trost­losen Figurinen sind eine Kreuzung aus Vogel­küken und Monster und waren am Vortag das Gimmick einer mona­te­lang mit wildem Coupon­s­am­meln erwar­teten Verlosung, als deren Haupt­preis das Einfa­mi­li­en­fer­tig­haus winkt: Es könnte einen aus der subur­banen Hölle befreien.

Ganz ähnlich wie in ihrem Film Nordrand inter­es­siert sich die Jung­gre­gis­seurin und gebürtige Öster­rei­cherin Barbara Albert für das Mosaik, im dem die Figuren zusam­men­finden und ihre Hundstage verleben. Der Beischlaf oft nur ruckelndes Gesto­chere, die Einsam­keit groß, das Glück abwesend. Verlas­sene Teenager, die viel zu früh die Bedeutung von Schuld erfahren. Eine alte Rentnerin, die ihre ganze Hoffnung in den glatz­köp­figen Poli­zisten aus dem Kirchen­chor setzt. Menschen, die mitein­ander schlafen, obwohl sie das lieber nicht sollten. Der Staub­sau­ger­ver­treter und seine schi­zo­phrene Frau. Es sind kleine öster­rei­chi­sche Exis­tenzen, deren Abgrund der Film vorführt. Und einige Momente der Hoffnung, der zärt­li­chen Umarmung gibt es auch.

Doch was soll das ganze? Der Vorspann von Böse Zellen beginnt in Rio de Janeiro, wo sich Manu sogleich auf die Abreise macht. Das Flugzeug stürzt ab, und es kann so etwas Minimales wie der Flügel­schlaf eines Schmet­ter­lings gewesen sein, der sich über dem Golf von Mexiko in einen Tornado verwan­delt. Denn die Welt ist ein Gefüge, und auf jede Aktion folgt eine Reaktion. So spielt der Rest der Geschichte sechs Jahre später in der öster­rei­chi­schen Heimat, wo Manu, die einzige Über­le­bende des Unglücks, inzwi­schen Ehemann, Tochter und einen Job als Kassie­rerin hat. Und wo manch gute Zelle von einer bösen über­wu­chert, aus der Bahn geschleu­dert, betrogen wird.

Böse Zellen nimmt sich vor, die Verspon­nen­heit mensch­li­cher Existenz in ihrer vollen Dialektik zu erfassen – eine wuchtige Last, die dem Film nicht immer gut tut. Womit wir auch schon bei einem Problem wären, was Episo­den­filmen generell anhaftet: Es muss immer ein mehr oder minder waghal­siges Motto geben, unter dem sich die Zusam­men­fas­sung der Episoden recht­fer­tigen lässt, damit das Ganze zumindest formell nicht in schierer Bedeu­tungs­lo­sig­keit versinkt. Das Motto bei Böse Zellen ist die Freakshow im Equi­li­brium des chaos­theo­re­ti­schen Diktums Edward Lorenz'. Nun dann. Die Oscar-Kommis­sion hat bei ihrer Wahl zum besten auslän­di­schen Film von dieser Einrei­chung eher weniger Notiz genommen. Doch wer sich nicht an den ultra­harten Schnitten stört, den erwarten 90 Minuten zünftige Kost.