Österreich 2019 · 112 min. · FSK: ab 12 Regie: Marie Kreutzer Drehbuch: Marie Kreutzer Kamera: Leena Koppe Darsteller: Valerie Pachner, Pia Hierzegger, Mavie Hörbiger, Michelle Barthel, Marc Benjamin u.a. |
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»Ich schau an mir herunter
und kann mich gar nicht sehen.
Ich kann mich fortbewegen
und kann nicht richtig gehen.«
Conny in Der Boden unter den Füßen
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Wie ein Tsunami kann ein familiäres Ereignis in das eigene Leben hineinbrechen und eine mittlere oder schwere Katastrophe anrichten. Der Boden unter den Füßen führt dies am Exempel der Top-Unternehmensberaterin Lola vor, die zunehmend an Halt verliert, der die Fäden ihrer Gouvernance, beruflich wie privat, aus der Hand gleiten, die jetzt selbst zu einer Marionette wird – von psychisch wirkenden Mächten. Das unheimliche Machtzentrum ist ihre Schwester Conny, die nach einem Suizidversuch in eine Psychiatrie eingeliefert wird. Ihre Forderungen, Anrufe, Manipulationen dringen lautstark in das eng getaktete Business-Leben ein, Lola erfindet Ausreden, versäumt Meetings, und während sie noch versucht, die Dinge ihrer Schwester zu regeln, gerät ihr eigenes Leben aus den Fugen.
Die Regisseurin Marie Kreutzer, selbst Österreicherin, lässt ihren Film zwischen Wien und Rostock spielen, ihre Hauptfigur Lola pendelt zwischen den beiden Städten. Valerie Pachner spielt Lola zunächst eisern und kontrolliert, als sei sie die Claire Underwood aus »House of Cards«, später wirkt sie zunehmend weich und verletzt. Rostock, das ist die eiskalte Welt der Unternehmensberatung, Lola ist dafür zuständig, das Personal der Ostbetriebe zurückzubauen. Business-Sprech, kurze Nächte im Hotel, der Fitnessraum, schwarze Stöckelschuhe, strenge Kostüme und die Betriebsgeburtstagsfeier, bei der der Kuchen mit der Kalorienangabe überreicht wird, sind die Zutaten ihres erfolgreichen Lebens. Wien hingegen, wo ihre Schwester lebt, ist die Stadt des Tsunamis. Hier bricht alles auf Lola ein, die Verzweiflung, das Leid, der Tod. Pia Hierzegger, die man aus »Der Tatortreiniger« oder jüngst im Kino Womit haben wir das verdient? kennt, spielt ihre Figur mit fahlem Teint, eingefallenem Blick, tonlos.
Der Film wirft einen Blick auf das wohl größte Tabu in der Welt der Erfolgreichen: man darf sich keine Blöße geben, keine Schwäche erkennen lassen, sich nicht angreifbar machen. Falls doch etwas durchsickert, lautet die schnelle Diagnose: Burn-out. »Das Lepra der Unternehmensberater«, sagt Lola, als sie die Diagnose trifft und sich alle von ihr entfernen.
Hoch anrechnen muss man Kreutzers Film, dass sie mit Pia Hierzegger auch die Rolle der Patientin stark gemacht hat. Diese verbalisiert die Sicht der Psychiatrie-Insassen, spricht vom Fixiertwerden, zeigt die Blessuren, beklagt sich über die Medikation und über das wenige Essen. Mit schwer psychotischen Patienten sich das Zimmer zu teilen, befördert wiederum ihre eigene Paranoia. Indem Kreutzer auch die Ärztesicht anklingen lässt, nach der die Patienten die symbolische Ordnung der Psychiatrie durchschauen und die dort wirkenden Kräfte sich zu eigen machen können, durch Anpassung, Manipulation und Scheintherapie, lässt Der Boden unter den Füßen auch das unlösbare Dilemma der Psychiatrie anklingen. Vorurteile treffen hier auf Unsicherheit, Resilienz auf die Therapienotwendigkeit.
Dass das Nebeneinander von Psychiatrie und High-End-Unternehmensberatung auch etliche Parallelen zwischen der Welt der Kranken und der Welt der Erfolgreichen suggeriert (die Uniformiertheit, das absonderliche Benehmen, die Einnahme von Sedativen hier, von Stimulanzen dort), ist natürlich auch ein (naheliegender) Kommentar zu unserer irregewordenen Arbeitswelt. Am Ende erhebt sich Lola aus ihrem Trauma wie ein Roboter, es ist ein Ausgang, der vermuten lässt, dass dies erst der Anfang für eine weitere steile Krankheitskarriere sein könnte.