Border

Gräns

Schweden/Dänemark 2018 · 110 min. · FSK: ab 16
Regie: Ali Abbasi
Drehbuch: , ,
Kamera: Nadim Carlsen
Darsteller: Eva Melander, Eero Milonoff, Jörgen Thorsson, Viktor Åkerblom, Matti Boustedt u.a.
Begegnung im Wald

Wenn wilde Trolle tollen

Irgend­etwas stimmt nicht mit dieser Frau, das ist schon früh klar. Aber was genau? Ist Tina einfach nur pott­häss­lich? Unglück­lich ausge­stattet von der Natur mit ihrer gedrun­genen Statur, den deutlich hervor­ste­henden Zähnen ihres Ober­kie­fers, dem sträh­nigen Haar unter dem Rund­schädel, der dicken Nase und den eng stehenden, leicht schie­lenden Augen? Aber woher kommen dann ihre schlechten Manieren, der Schmutz unter ihren Fingernä­geln, ihre ziemlich eklige Art zu essen? Und woher kommt ihr erstaun­li­ches Talent, ihre Geruchs- und Spürgabe, ein sechster Sinn, mit dem diese Frau, die als Poli­zistin als Spezia­listin der schwe­di­schen Grenz­kon­trolle arbeitet, zum Beispiel Drogen­schmuggler entlarvt, aber auch Menschen, die Kinder­pornos über die Grenze bringen wollen?
Kann man tatsäch­lich Gefühle von Menschen riechen? Scham, Schuld, Wut? Tina kann so was spüren.

Irgend­etwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu. Es sind großar­tige Szenen, in denen Tina, deren Alter schwer zu schätzen ist, anfangs die Neuan­kömm­linge an der Grenze zunächst mustert, dann im Wortsinne schnüf­felt und Witterung aufnimmt. Tina scheint mehr Tier als Mensch zu sein.
Dazu passt, dass sie ein inniges Verhältnis zu Tieren hat, besonders gut mit ihnen kommu­ni­zieren kann.

»Als Kind dachte ich, ich wär' was Beson­deres. Hatte tausend Ideen, was ich sein könnte. Aber seit ich erwachsen bin, ist mir klar, dass ich einfach nur ein häss­li­cher Mensch bin.« Tina selbst weiß nicht, was sie ist, sie fühlt sich einfach nicht wohl in ihrer Haut, wird von den Menschen gemieden und gehänselt. Ein Chro­mo­so­men­fehler, sagen ihr alle. Sie ist als Außen­sei­terin stig­ma­ti­siert.

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Bis hierin ist der Film angenehm rätsel­haft. Er lässt uns im Unge­wissen, erschüt­tert und irritiert die Gewiss­heiten des Zuschauers.

Als Film ist Border oder Gräns, wie er im schwe­di­schen Original heißt, von Anfang bis Ende ziemlich banal. Ginge es nicht um Phan­tas­ti­sches, wäre dies ein Para­de­bei­spiel für sozi­al­rea­lis­ti­sche Arte Povera, in der hässliche Menschen hässliche Dinge tun, ohne jeden Glamour – und ich meine hier nicht Stars, sondern jene Aura, die Kamera, Schnitt, Musik, Licht, Farben, kurzum die Haltung des Filme­ma­chers herstellen. Und die natürlich auch der Neorea­lismus eines Rossel­lini oder De Sica und später eines Olmi und Visconti jederzeit hatte. Es geht – bitte hinhören!! – nicht darum, wer und was hier gezeigt wird, sondern wie. Regisseur Ali Abbasi ist (wie auch sein Kame­ra­mann Nadim Carlsen) einfallslos und bieder, er hat ein gutes Thema, er zeigt einfach, und macht sich sonst nicht weiter Gedanken.

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Eines Tages lernt sie einen Mann kennen. Er heißt Vore, und er ähnelt ihr nicht nur äußerlich, er eröffnet ihr auch das Geheimnis ihrer Herkunft.
Die Erklärung für alles ist so einfach wie phan­tas­tisch: Tina ist tatsäch­lich ein Grenz­wesen, sie ist ein Troll, also jenes Etwas aus der nordi­schen Mytho­logie, das an die Nacht­seite des Mensch­li­chen rührt, sein Verdrängtes nach Außen trägt. Und so erfahren wir von einer Gegenwelt: Trolle gebe es überall, aber die Menschen würden sie ausgrenzen. In Schweden gebe es regel­rechte Lager für Trolle. Das wird mit größter Selbst­ver­s­tänd­lich­keit mit sozi­al­rea­lis­ti­schen Kulissen verknüpft. So erinnert alles auch an ein Märchen. Denn erst im Wald, bei den Tieren entdeckt Tina sich selbst. Realismus und skan­di­na­vi­sche Fantasy verei­nigen sich in diesem schrägen Film, einem seltsamen Werk, das Genre­grenzen über­schreitet, und selbst die Grenzen der Natur auslotet, der Wildheit, der Freiheit, der Zivi­li­sa­tion und dies mit sehr zeit­geis­tigen Fragen nach Identität, Ausgren­zung, Fremdheit und Schönheit verbindet.

Auch Trolle können glücklich sein. Zugleich entfremdet Vore Tina auch den Menschen, mit denen sie bisher lebte: »Du solltest nicht auf das hören, was die Leute sagen. ... Du weißt so vieles nicht. Viel­leicht bist du nicht wie alle anderen. Aber nur weil du besser bist, wie sie.«

An Vore zeigt sich die Arroganz der Trolle, der Anderen, zeigt sich, was viel­leicht eine Schutz­hal­tung ist, aber warum man mit ihnen nicht zusam­men­leben kann: »Humans are parasites« sagt er, »Vengeance is coming«. Seine Rache liegt in der Idee, die Welt der Menschen mit hunderten von Troll-Wech­sel­bäl­gern, soge­nannten Hisits, zu unter­wan­dern.

Wir sollen Tina mögen. Die Einfüh­rung des Themas Kinder­porno wirkt etwas gewollt, wie ein bewusst gewähltes Mittel, damit man die Figur auch wirklich schätzt – und insofern ist das alles kalku­liert und ein bisschen zynisch, auch in seiner stereo­typen Zeichnung der Nicht-Trolle, äh: Menschen.

Insgesamt auch mehr als ein bisschen aufge­setzt. Und im unver­hoh­lenen Verlangen nach Partei­nahme mit der Haupt­figur steckt – maskiert vom Plädoyer gegen die Ausgren­zung von Minder­heiten, gegen die Abweisung des Fremden – das Lob des Häss­li­chen, des Abnor­malen, das schon fast wieder normativ ist in Zeiten, die alles Normale und Normie­rende, die die Existenz von Normen selbst unter Gene­ral­ver­dacht stellen.

Zudem wird hier einmal mehr das elfte Gebot unserer Gegenwart exeku­tiert: Du musst deine Identität finden. Und du musst deiner Identität folgen.
Aber ist »Identität«, die ja, wenn von ihr die Rede ist, immer als kollek­tive gedacht und gemeint ist, eigent­lich etwas anderes, als ein schöneres Wort für »Gott« und »Tradition«, Volk und Blut und Boden?

So oder so: Tina ist das Über-Ich und der Wet-Dream aller Kultur­re­la­ti­visten.

Das Tier in mir

Die Nasen­flügel beben, die Lippen sind gekräu­selt, die Zähne gebleckt – wie ein nach Beute witterndes Raubtier erschnüf­felt Zoll­be­amtin Tina starke negative Emotionen an anderen. Folglich ist sie gut in ihrem Job, aber vers­tö­rend für ihre Mitmen­schen. Doch nicht nur ihre unge­wöhn­liche Gabe isoliert sie von der Gesell­schaft; ihr Äußeres wirkt auf die von tradi­tio­nellen west­li­chen Schön­heits­idealen geprägte Mehrheit der schwe­di­schen Bevöl­ke­rung abstoßend. Nichts an ihr entspricht dem Ideal – sie ist eine kleine, rundliche Frau mit unge­wöhn­lich propor­tio­niertem, aufge­dun­senem Gesicht, schlechten Zähnen und unge­trimmter Körper­be­haa­rung.

Dann trifft sie Vore, der ihr nicht nur äußerlich ähnelt. Er zeigt ihr, wer sie wirklich ist und hat im Gegensatz zu Tina sein Dasein als Außen­seiter akzep­tiert und prak­ti­ziert seine ganz eigene noma­di­sche Lebens­weise. Parallel dazu wird Tina in Ermitt­lungen zu einem Kinder­schän­der­ring verwi­ckelt, welche von Tinas Selbst­fin­dung an den Rand gedrängt werden; erst gen Ende verbinden sich beide Hand­lungs­stränge mehr oder weniger zu einem sinn­vollen Ganzen.

Border ist nach dem Über­ra­schungs­er­folg So finster die Nacht eine weitere Verfil­mung eines der Werke vom schwe­di­schen Autor John Ajvide Lindqvist. Aller­dings ist hier der Horror weitaus subtiler als im Vorgänger. Regisseur Ali Abbasi macht aus Border so auch ein dunkles Mystery-Märchen mit einge­streuten Krimi-Elementen, das vor allem durch seine dichte unheim­liche Atmo­s­phäre in ruhigen Bildern glänzt.

Dies ist vor allem zu Beginn des Films deutlich, während man sich noch an die Eigen­heiten der unty­pi­schen Haupt­figur gewöhnt und nur darauf wartet, dass etwas Beun­ru­hi­gendes passiert. Diese Erwartung wird teilweise auch erfüllt und gleich­zeitig entschärft, etwa wenn plötzlich ein Elch seelen­ruhig neben Tina steht und sich von ihr berühren lässt oder ein wilder Fuchs sich ihr zutrau­lich nähert. Diese Szenen geben dem Film Tiefe und eine Ästhetik, sie sind Stationen auf dem Weg zu Tinas Selbst­fin­dung.

Auch die Figuren strahlen durch ihre Anders­ar­tig­keit etwas Unheim­li­ches aus. Besonders die Figur des Vore wirkt durch den bedroh­li­chen Gesichts­aus­druck und das raub­tier­hafte, grob­schläch­tige Verhalten zunächst so abstoßend und vers­tö­rend, dass die darauf­fol­gende, sich allmäh­lich entwi­ckelnde, liebe­volle Romanze zwischen ihm und Tina umso mehr über­rascht. Die Beziehung der beiden basiert auf Akzeptanz zwischen zwei Außen­sei­tern, die sich gegen­seitig in ihrer Identität, ihrer Anders­ar­tig­keit bestä­tigen und ermutigen; dadurch entkommt der Film gleich­zeitig dem verlo­ckenden »Die-Schöne-und-das-Biest«-Klischee, das allzu oft einer äußerlich unschein­baren Figur ein attrak­tives Gegen­s­tück als ästhe­tisch-normative Beschwich­ti­gung zur Seite stellt.

Körper­lich­keit und Sexua­lität sind überhaupt wichtige Bestand­teile des Films. Nacktheit und die damit einher­ge­hende nahe Verbin­dung zur Natur wird erfri­schend unauf­ge­regt darge­stellt; Tinas Bad in einem Waldsee wird mit einer nüch­ternen Selbst­ver­s­tänd­lich­keit gezeigt, ohne dabei voyeu­ris­tisch zu werden.

Leider schießt diese lockere Selbst­ver­s­tänd­lich­keit mitunter über das Ziel hinaus; eine recht explizite, vers­tö­rende Sex-Szene etwa, die sehr ins Anima­li­sche abdriftet, hinter­lässt eine unan­ge­nehme Verun­si­che­rung, nach der man mitunter seine eigene Anschauung hinter­fragt; ist man beim Zuschauen verstört, weil die Szene so explizit und tierisch wirkt oder weil sie nicht den konven­tio­nellen geschlecht­s­ty­pi­schen »Normen« entspricht? Doch natürlich ist klar, dass diese Reaktion von Abbasi beab­sich­tigt war.

Der große Twist, die Enthül­lung Tinas wahrer Identität im Gespräch mit Vore, wirkt anti­kli­mak­tisch und beiläufig, ja fast schon ironisch. Man hält sie zunächst für einen Scherz ob ihrer Absur­dität, doch der Film greift diesen Ansatz mit einer würde­vollen Ernst­haf­tig­keit auf. Hier gibt es wohl auf Seiten der Rezi­pi­enten große Unter­schiede je nach kultu­rellem Hinter­grund. Vertraut­heit mit skan­di­na­vi­scher Folklore und Sagen lässt Tinas Identität plau­si­bler erscheinen und leichter akzep­tieren. Im weiteren Verlauf des Films jedoch entspinnt sich eine recht passable Hinter­grund­ge­schichte um ihre Herkunft, die ihre Identität nochmals begründet und festigt, sodass auch Skeptiker dem nicht mehr allzu kritisch gegenüber­stehen dürften.

Denn letzt­end­lich geht es, den vielen Anspie­lungen ans Tierreich und den über­na­tür­li­chen Elementen zum Trotz, um Mensch­lich­keit und die Frage, was sie ausmacht. Die anima­lisch anmutende Tina ist in vielerlei Hinsicht mensch­li­cher als einige ihrer Mitmen­schen. Selbst ihre Gabe, negative Gefühle zu wittern, kann als erhöhte Fähigkeit zur Empathie aufge­fasst werden, die sie benutzt, um krimi­nelle Machen­schaften aufzu­de­cken und Unschul­dige zu schützen. Gerade die Enthül­lung des Kinder­schän­der­rings führt vor Augen, wer hier die »wahren« Raubtiere sind. Vore bringt es, ganz nach Thomas Hobbes, auf den Punkt: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

Mensch oder Nicht-Mensch?

»Ich spüre so was.« Der schwe­di­sche Film Border von Ali Abbasi handelt von der 40-jährigen Tina, die Scham, Schuld, Wut und andere negative Gefühle ihrer Mitmen­schen wahr­nehmen kann. Diese Fähigkeit nutzt sie in ihrem Beruf als Zoll­be­amtin auf einem Schiff voll und ganz aus, ihre Tref­fer­quote bei Schmugg­lern ist unschlagbar. Sogar bei einem riskanten Poli­zei­ein­satz gelingt es Tina durch ihre Spürnase, Kinder­schänder ausfindig zu machen. Doch diese Anders­ar­tig­keit, die sich auch äußerlich durch ein defor­miertes Gesicht zeigt, macht Tina das Leben im normalen Alltag nicht leicht.

Der Film basiert auf einer Kurz­ge­schichte von John Ajvide Lindqvist (»So finster die Nacht«), der, zu Abbasis Faszi­na­tion, einen realis­ti­schen Umgang mit Mythen und Legenden pflegt.

Im Team mit Regisseur Ali Abbasi und Regis­seurin Isabella Eklöf (Holiday) wirkte Lindqvist auch beim Drehbuch mit. Das Auto­ren­team verbindet eine Vielzahl an Genres, wie Krimi, Drama, Fantasy und Liebes­film.

Diese Mischung erzeugt durch mehrere Wendungen eine einzig­ar­tige Spannung, durch die man das Ende weder erraten noch schluss­fol­gern kann. Die beson­deren Genres vermi­schen sich zu einer eigen­ar­tigen Stimmung, in der auch unge­wöhn­li­cher Sex ganz natürlich erscheint. Aus diesem Grund gewann Abbasi mit seinem Film 2018 den »Un certain regard Award« bei dem inter­na­tio­nalen Film­fes­tival in Cannes. Auch sein Debüt-Film Shelley, der erst 2016 erschien, feierte bereits Premiere.

Die vielen Nahauf­nahmen von Tina fordern ein perfektes mimisches und gesti­sches Austa­rieren ihres Charak­ters. Bevor klar wird, wer Tina eigent­lich ist, wird ihre anima­li­sche Ader und ihre Anders­ar­tig­keit von der Schau­spie­lerin Eva Melander sehr gut ange­deutet. Zu Recht wurde sie ein weiteres Mal mit dem Guldbagge ausge­zeichnet. Auch Vore (Eero Milonoff) zeigt sein Talent zum Seltsam- und Anders­sein, durch seinen ebenso unver­wech­sel­baren Charakter. Tina und Vore gehen eine einzig­ar­tige Liebes­be­zie­hung ein und Tina lernt nach 40 Jahren ihr wahres Ich kennen. Ali Abbasi erzählte in einem Interview passend dazu, dass es ihm zum einen um die Darstel­lung großer Gefühle geht und zum anderen darum, »wie es ist, zu entscheiden, wer man sein möchte.«

Dieser unklas­si­sche Film bedient sich teils einer dröhnend und teils einer harmo­nisch klin­genden Musik, die sich perfekt in den Film einglie­dert. Sie unter­streicht die vorherr­schenden Gefühle. Die Hinter­grund­geräu­sche bilden oft die leitende Instanz, die die Ästhetik des Films bestimmt. Der andau­ernde laute Atem von Tina, der sich beim Friedhof ihrer verstor­benen Eltern zu einer Atemnot steigert, oder die nackten Füße, die das Knirschen des Schnees produ­zieren, bewirken die Beachtung der Details. Die Wich­tig­keit der Familie und die Natur­ver­bun­den­heit treten hier in den Vorder­grund.

Tina ist von Beginn an mit der Natur verbunden. Eine Heuschrecke setzt sie vorsichtig an ihren Platz zurück, ein Fuchs und ein Elch zeigen sich liebevoll vertraut. Der Wald­land­schaft ist ein stilles Vibrieren zu eigen, was die sacht dynamisch geführte Hand­ka­mera einfängt.

Zwei Stränge teilen Tinas Leben: Da ist ihr Beruf beim Zoll, ihr dementer Vater im Pfle­ge­heim und ihr Freund Roland. Und da ist Vore. Ihn lernt sie durch einen Zwischen­fall beim Zoll kennen. Mit ihm geraten die Welten ins Wanken, weil sie plötzlich inein­an­der­greifen und Tinas Leben auf den Kopf stellen. Dies wird durch die Unschärfe der Bilder bei dem Gespräch von Tina mit Vore deutlich. Er gesteht ihr, dass er nicht der ist, für den sie ihn hält.

In der Szenen­kom­po­si­tion stehen stillen Situa­tionen action­reiche und ener­gie­ge­la­dene Sequenzen gegenüber. Beispiels­weise sind über einen längeren Zeitraum nur Tinas Finger zu sehen, wie sie ihren Bauch strei­chelt oder ihre Hand in einen Bach taucht. Starke kontrast­reiche Szenen mit der anima­li­schen Verfol­gung Vores durch Tina im Wald oder das Fletschen von Tinas Zähnen zeigen den Zwiespalt, in dem Tina steckt.

Diese Zwei­sei­tig­keit von Tina, äußert sich auch bei der Betrach­tung der ersten und letzten Szene: die Heuschrecke wird anfangs mit Achtung von Tina bewundert, am Schluss sind keinerlei heuschre­cken­freund­liche Gefühle zu sehen. Tina nimmt das Tier und verwendet es als Mahlzeit.

Dieser Film zeigt, dass im Kino nicht alles in eine Kategorie hinein­passen muss. Beim Mischen von Genres, Charak­teren und Ästhe­tiken entsteht etwas Neues und Einzig­ar­tiges, das zuvor noch nicht zu sehen war.

Realität und Fantasie

»Ich möchte niemandem schaden. Ist es mensch­lich, so zu denken?« – Border

Die Zoll­be­amtin Tina, gespielt von Eva Melander (Flocken, 2015), wirkt mit ihrem groben, wie geschwollen ausse­henden Gesicht, dem kräftigen Körper und dem stechenden Blick unnahbar. Sehr zurück­ge­zogen und ruhig versucht sie, unauf­fällig zu bleiben, wo sie sich doch äußerlich deutlich von den anderen Menschen unter­scheidet. Bei ihrer Arbeit an der schwe­di­schen Grenze hilft ihr ihr über­mensch­li­cher Geruchs­sinn, all die Menschen zu wittern, die nach Schuld, Scham oder Wut riechen. So kann sie jeden Schmuggler oder andere Unge­setz­mäßig­keiten sofort erkennen. Als sie durch ihre Fähigkeit auf einen Kinder­por­no­ring stößt, macht sich die Polizei diese zunutze und zieht Tina zu den Ermitt­lungen hinzu.

In ihrer Arbeit beim Zoll wirkt sie genauso einge­klemmt wie in ihrer Uniform und den drückenden Gängen des Gebäudes, und auch zuhause, wo ihr Freund oder wohl doch eher ihr Mitbe­wohner Roland sich mit seinen Hunden ausge­breitet hat, kann sie sich nicht ganz entspannen. Nach der Arbeit macht sie erstmal barfuß einen Spazier­gang durch den Wald um ihre Hütte herum. Dieser Wald, der in seinen verbor­genen Tiefen eine ganz eigene Geschichte zu erzählen scheint, die die Menschen zum größten Teil nicht sehen können. Aber Tina ist nicht »die Menschen«, sie ist anders. Denn sie kann sich dem Fuchs hinter ihrem Haus nähern, ohne ihn zu verschre­cken, und sie strei­chelt nachts einen wilden Elch, bei der Vertraut­heit zwischen den beiden ist es vermut­lich nicht das erste Mal. Es scheint fast so, als wäre sie eine von den Bewohnern des Waldes.

Dann begegnet ihr eines Tages bei der Arbeit Vore (Eero Milonoff). Mit ihm stellt Tina mit der Zeit außer einer frap­pie­renden physio­gno­mi­schen Ähnlich­keit immer mehr gemein­same Dinge fest. Doch obwohl er sofort sowohl Tinas Interesse als auch ihren Spürsinn weckt, kann bei ihm außer einer mit Larven gefüllten Dose nichts Verdäch­tiges gefunden werden. Tina und Vore freunden sich an, kommen sich näher und sind von Anfang an Vertraute in einer Welt, in der sich beide nicht voll­kommen zuhause fühlen.

Bei Vore kann sie sie selbst sein und er zeigt ihr ein Leben, in dem das möglich ist. Auf einmal ist sie nicht mehr einge­zwängt von der Beziehung zu ihrem Schma­rotzer-Freund Roland und dessen Kampf­hunden, jetzt ist sie frei, in der Natur, läuft mit Vore nackt durch den Wald, sie gehen im Regen schwimmen, sie lieben sich (auf doch eher atypische Weise) im Wald. Doch Vore, so gut er Tina auch tut, ist voller Wut und genau wie sie undurch­schaubar. Trotz aller Gemein­sam­keiten ist er in seiner anima­li­schen Fremdheit auch für Tina voller Rätsel. Und er ist nicht nur ihr Verbün­deter…

Mit dem Film »Border« insze­niert Regisseur Ali Abbasi (bekannt für das Drama »Shelley«, 2016) eine Mischung aus Märchen, Liebes­ge­schichte und Nordic Noir, die genauso vers­tö­rend wie fesselnd-faszi­nie­rend ist. Als Vorlage für den Film dient die Geschich­ten­samm­lung »Gräns« von Horror-Autor John Ajvide Lindqvist, der unter anderem für den 2008 von Tomas Alfredson verfilmten Roman »So finster die Nacht« bekannt ist. Nicht nur in Schweden gewann er zahl­reiche der begehrten Guldbagge-Preise, sondern bekam auch in Cannes den »Un Certain Regard«-Award 2018 verliehen. Mit dem ständig präsenten Wald, der Natur und den Bezügen zur alten schwe­di­schen Mytho­logie zeigt »Border« eine Welt, in der die Natur noch voller Geheim­nisse ist und über­na­tür­liche Wesen nicht nur schöne Fantasie sind.