Schweiz 2000 · 83 min. Regie: Kaspar Kasics Drehbuch: Kaspar Kasics Kamera: Pierre Mennel |
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Das Ende eines Menschen |
Durch das Visible Human Project in den USA hat man im Internet die Möglichkeit, einen menschlichen Körper in allen anatomischen Einzelheiten zu betrachten, geradezu durch ihn hindurch zu sehen und in seinem Inneren umher zu reisen. Es wird von verschiedenen medizinischen Studienprojekten als Datenbasis genutzt und bietet einen bis dato unmöglichen Einblick in einen wirklichen menschlichen Körper.
Als »Datengrundlage« der Digitalisierung wurde ein gesunder, unverletzter Mann in den besten Jahren benötigtein großes Problem, denn gesunde Menschen sterben im fraglichen Alter selten ohne Verletzungen. Es bedurfte zweijähriger Recherche, bis die Leiter des Projektes sich darauf verständigen konnten: der ideale Kandidat ist ein Mann, der kontrolliert umgebracht wird, ein zum Tode Verurteilter. Mittels ausgeklügelter Technik konnten die Wissenschaftlern hauchdünne Scheiben ihres Präparates herstellen, fotografieren und ein dreidimensionales Menschenmodell als anatomischen Atlas veröffentlichen.
Entgegen der ursprünglichen Absicht kommt schon bald die Identität des »Visible Man« ans Licht: Es handelt sich um den am 5. August 1993 hingerichteten Joseph Paul Jernigan, der als »Massenmörder« durch die sensationsheischenden Medien gemangelt wird. Zum Schrecken seiner Familie, die wie der Verurteilte selbst davon ausgegangen war, dass die Unterschrift, mit der Jernigan seinen Körper der Medizin widmete, einer Organspende dienen sollte. Zwölf Jahre lang wurde um den Widerruf des Todesurteils, dass auf fragwürdige Weise zu Stande gekommen war, gerungen – nach der Vollstreckung ist diese mediale Aufmerksamkeit das letzte, was die Angehörigen sich wünschen.
Als der Schweizer Dokumentarist Kaspar Kasics durch eine Reportage von Erwin Koch auf die Geschichte Jernigans aufmerksam wird, dauert es deshalb lange, die Familie des Toten ausfindig zu machen und insbesondere seinen Bruder Bobby als Interviewpartner zu gewinnen. Was der, seine Schwägerin und deren Tochter erzählen, wirft ein ganz anderes Bild auf die Geschichte von Tat und Täter als der Bericht des Staatsanwaltes über Verbrechen und Urteilsfindung.
Daraus ist ein packender Film entstanden. Unkommentiert montiert Kasics die technischen Erläuterungen der Wissenschaftler, die Einschätzungen der Juristen und die Eindrücke der Angehörigen zu einem faszinierenden Bild über die Hintergründe des Visible Man und wirft dabei Fragen um Moral, Ethik und Gedenken auf, die niemals mit vordergründigen Antworten abgefunden werden. Ist dem Einbrecher, der einen alten Mann brutal tötete, die Hölle gewiss oder hat eine Gesellschaft dabei versagt, einem benachteiligten Menschen eine faire Chance zu gebendie Ohnmacht vor der Maschinerie der Justiz und der Technizität der Medizin erschüttert gleichermaßen.
Der Zufall will es, dass der vom Verleih festgelegte Starttermin von einer ähnlichen Diskussion überholt wurde: Hat Körperwelten-Schausteller von Hagen hingerichteten Chinesen plastiniert? Woher stammen seine Präparate? Ohne diese Kontroverse vertiefen zu wollen: die Einstellung eines in Heidelberg gegen von Hagens Firma eröffneten Verfahrens ist keine Antwort auf die moralischen Fragen, mit denen Anatomie von jeher zwischen Sensations- und wissenschaftlichem Wert schwankend zu ringen hatte.