Beijing Bicycle

Shiqi sui de dan che

China/Taiwan/F 2001 · 113 min. · FSK: ab 12
Regie: Xiaoshuai Wang
Drehbuch: , ,
Kamera: Jie Liu
Darsteller: Lin Cui, Xun Zhou, Yuanyuan Gao, Bin Li u.a.
Ja, mir san mi'm Radl da...

Um sein Leben radeln...

Schreien, nur noch Schreien, das sich zu einer einzigen lauten Klage formt. Verzwei­felt klammert sich der Junge an sein Fahrrad. Zuvor hatte man ihn noch gesehen, wie er lachend und gutge­launt über eine der größten Brücken Pekings fuhr: Sonnen­schein, Glück. Bilder wie diese wird man nicht vergessen, auch wenn Wang Xiaos­huais Film Beijing Bicycle schon lange vorbei ist.

Am Anfang erzählt er die Geschichte von Guei (Cui Lin). Der ist einer jener zahllosen Jungen vom Land, die ungelernt in die chao­ti­sche Metropole Peking kommen, um dort ihr Glück zu machen. Als Fahr­rad­ku­rier findet er einen Job. Wang Xiaos­huais Kamera versucht, das Allge­meine in diesem Einzel­schicksal zu zeigen, nimmt sich viel Zeit für den Beginn: Wie beim Militär werden den jungen Männern die Haare geschnitten, steckt man sie in Uniformen, schaltet sie äußerlich gleich. Doch die Diszi­pli­nie­rung geht mit Aner­ken­nung einher. Guei erhält ein Fahrrad, das muss er abbe­zahlen, danach kann er zur Hälfte auf eigene Rechnung arbeiten. Träume, aus eigener Kraft sein Glück zu machen, noch einmal der opti­mis­ti­sche Geist des New Economy-Libe­ra­lismus und ein Mensch, der sich gern zu dessen austausch­barem Material machen lässt, weil gerade dies seine indi­vi­du­elle Chance bedeutet.
Für einen Augen­blick teilt der Zuschauer die Hoff­nungen dieses Schüch­ternen, fast Sprach­losen, der auch nach Wochen, als er sich längst auskennt, mit seinem staunend aufge­ris­senem Blick der Szenerie ganz ausge­setzt ist, große Augen hat für einfach alles – am meisten für eine geheim­nis­volle junge Frau, die er immer am gleichen Fenster beob­achtet, wie sie immer neue schöne Kleider auspro­biert.

Doch bald versteht man, dass Guei gar nicht das Thema ist. Es ist die Stadt selbst, ihre Luft, ihr Staub, das flüchtige Chaos der Begeg­nungen. Wang Xiaos­huais Film ist Auftakt eines Projekts, das Peggy Chiao, eine der besten Film­kri­ti­ke­rinnen Taiwans, initiiert und selbst produ­ziert hat: Sechs Filme von sechs verschie­denen Regis­seuren sollen in den drei Metro­polen der drei chine­si­schen Nationen – Peking, Taipeh, Hongkong – spielen, und so die politisch-soziale Entwick­lung Chinas aus den persön­li­chen Blick­win­keln ihrer Macher wider­spie­geln, Unter­schiede und Gemein­sam­keiten heraus­ar­beiten: Neben Beijing Bicycle stammt auch Betelnut Beauty von Li Cheng-Feng aus dieser Reihe, der noch besser gelungen ist, und hoffent­lich auch bald ins deutsche Kino kommt – beide Filme erhielten bei der letzt­jäh­rigen Berlinale wichtige Preise.
In dem der Regisseur in Beijing Bicycle das Thema von Vittorio de Sicas Neorea­lismus-Klassiker Fahr­rad­diebe wieder aufgreift, und in spar­ta­ni­schen Dialogen von einem erzählt, dessen ganzes Glück an einem Fahrrad hängt, und davon, wie genau dieses Fahrrad irgend­wann weg ist, portrai­tiert er Chinas Haupt­stadt Peking, erzählt von Klas­sen­ver­hält­nissen und indi­vi­du­ellen Träumen, und von der unter­schied­li­chen Bedeutung, die ein Fahrrad haben kann.
Denn die obli­ga­to­ri­sche Suche rückt schnell aus dem Zentrum, der Film folgt nicht Guei, sondern seinem Rad. Das landet bei Jian (Li Bin), einem Schüler, der ein bisschen schnö­selig, aber eigent­lich auch nur ein armes Schwein ist. Er hat es auf einem Flohmarkt gekauft, mit Geld, dass er seinem Vater stahl. Auch für Jian ist das Rad ein großes Vermögen: Mittel, um ein junges Mädchen zu erobern. Und durch den neuen Besitz öffnen sich neue Perspek­tiven, scheint sich sein ganzes Leben zu ändern.

Mit dem Fahrrad greift der Film die Ikone für die Moder­ni­sie­rung des kleinen Mannes, nicht nur in China, auf. Zugleich sind Fahrrad, Nähma­schine und Radio auch in der Volks­re­pu­blik längst nicht mehr alles, richtet sich der Blick auf die Güter der welt­weiten Popkultur. Man sieht das an Jians Mitschü­lern, die sich ganz modischem Punk- oder HipHop-Stil hingeben. Aller­orten geht es in Beijing Bicycle um solche Status­sym­bole, um Ökonomie überhaupt, auch die der Liebes­be­zie­hungen, sowie um ein China inmitten von Hyper­ka­pi­ta­lismus und Verwest­li­chung. Und mit seinen beiden Helden präsen­tiert der Film zwei ener­gi­sche Kämpfer, die auf ihre Art in feind­li­cher Umwelt zu überleben suchen, die beide ein bisschen Outsider sind, weil sie moralisch konse­quenter, grad­li­niger sind, als die meisten um sie herum.
Es dauert nicht lange, da finden sich Land­mensch und Groß­stadt­kind, hin und her wechselt das Fahrrad seinen Besitzer, bis die beiden lange nach dem Zuschauer die Ähnlich­keit ihrer Lage erkennen. Der Kompromiß, der zwischen den beiden Welten ausge­han­delt wird, scheitert, fast zwangs­läufig, an den Verhält­nissen. Eine schöne Metapher gelingt dem Film da, fast zu schön, um wahr zu sein – so wie die präch­tigen, elegi­schen Weit­win­kel­bilder, mit denen Wang Xiaoshuai es seinen west­li­chen Zuschauern arg leicht macht, die Distanz zu wahren.
Manche inhalt­liche Konzes­sionen waren, so darf man vermuten, aus Zensur­gründen nötig. Doch am Schluß wird es der harmo­ni­sie­renden Sicht auf die Dinge schon arg viel: Die mit west­li­cher Popkultur konno­tierte Jugend­gang wird zum Bösewicht. Da weiß man dann, dass sich Verbre­chen und Ameri­ka­nismus nicht auszahlen, und was man zu tun hat, um ein braver, lini­en­treuer Chinese zu sein.

Was man nicht vergißt, ist hingegen anderes: Das Schreien, die beiden Jungen, die jeder auf seine Art um ihr Leben radeln, und die junge Frau am Fenster. Auch ihr Geheimnis, erfährt man, hatte etwas Trüge­ri­sches: Die teuren Kleider, die sie anpro­bierte, gehörten einer anderen, die Schöne, in der man schon ein Sinnbild des modernen China vermutete, war nur das Dienst­mäd­chen.