Ava

Frankreich 2017 · 101 min. · FSK: ab 12
Regie: Léa Mysius
Drehbuch: ,
Kamera: Paul Guilhaume
Darsteller: Noée Abita, Laure Calamy, Juan Cano, Tamara Cano, Ismaël Capelot u.a.
»Das« Ereignis bei den Film­fest­spielen von Cannes...

Das Beben der Nasen­flügel als Ereignis

Ein Strand, Urlauber zur Haupt­saison, Zivi­li­sa­tion trifft Hedo­nismus. Mitten in die bunte Ausge­las­sen­heit schlei­chen sich über die Tonspur Misstöne ein. Archai­sche Laute, wie von einer Bambus­flöte, gemischt mit Streich­in­stru­menten. Ein schwarzer Hund, mehr ein Wolf streunt zwischen den Bade­gästen. Er führt uns zur Titel­heldin.

Ava liegt einfach so da, als wir sie zum ersten Mal sehen, im Badeanzug in der Sonne, die Musik setzt aus, dafür bellt der Hund. Es gibt Streit an der anderen Seite des Strandes, das Tier ist beteiligt, Ava sieht zu und weiß von diesem Augen­blick an: »Ich will einen Hund!«
Dann kommen berittene Gendarme und schon ist man mitten­drin in diesem Film. Der Mikro­kosmos eines Urlaubs­ortes, irgendwo in Frank­reich. Hier geht das Leben jenseits der Urlaubs­gäste einfach weiter.

Ava ist 13, und am nächsten Tag, als sie den Arzt besucht und mit großen braunen Augen in ein Licht blickt, wissen wir auch: Bald wird sie nacht­blind sein und danach wird sie ihr Augen­licht immer mehr und schließ­lich ganz verlieren. So ist dies ein Film über das Sehen, und über ein Erkennen, das die Fähig­keiten der Sinne über­steigt.

Blindheit und Erblin­dung sind natür­liche Themen für das Augen-Medium Kino. Dabei kommt dieser Film komplett ohne Kitsch à la »Blinde sehen mehr« aus. Eher steht er auf der Seite der bockigen Haupt­figur, die ganz im Hier und Jetzt des pracht­vollen Sommers lebt und mit 13 wirklich etwas Besseres zu tun hat, als sich ums Blind­werden zu kümmern.

In einer Epoche, die sich dem Körper­li­chen und seiner Opti­mie­rung verschrieben hat, in der ein Kult des Leibes zele­briert wird, in der angeblich »der Leib« oder »die Haut« klüger sind als das Hirn, handelt dieser Film von der Dummheit des Körpers, von der Beschränkt­heit und Hinfäl­lig­keit des Leib­li­chen, sinnlich Fassbaren und von der Kraft des Verstandes, sich über sie zu erheben und von ihr zu befreien.
Solche Befreiung funk­tio­niert in Ava aber nicht, wie zu erwarten und wie es »typisch fran­zö­sisch« wäre, über Worte, über Technik, über Zivi­li­sa­tion, sondern über eine Rückkehr zur Natur, in eine Wildheit, in der die wahre Freiheit mit dem Mytho­lo­gi­schen in eins fällt, mit dem Exzess und dem utopi­schen Abwerfen aller Grenzen.

Auf die Nachricht, dass Ava viel schneller erblinden muss als gehofft, reagiert die Mutter mit Ignoranz. Sie will ihrer Tochter den schönst­mög­li­chen Sommer bereiten, bevor das Unver­meid­liche eintritt. Ava ist anders. Sie will den großen schwarzen Hund vom Vortag, der aber einem anderen gehört, dem Zigeu­ner­jungen Juan. Ava stiehlt ihn und damit, wie sich heraus­stellt, Juan gleich mit.

Ava ist ein enorm reich­hal­tiger und dabei origi­neller Film: Gewiss will er auf die Üblich­keiten des Coming-of-age-Movies nicht verzichten – Selbst­ent­de­ckung, erste Liebe, Eman­zi­pa­tion von den Eltern – aber das Erwach­sen­werden muss hier eben ein vorzei­tiges und endgül­tiges sein, der Abschied von der Kindheit ist auch einer vom Augen­licht.
Und indem die erste Liebe einem Flücht­ling gilt, erzählt die Regis­seurin Léa Mysius auch von dem Drift in faschis­ti­sche Menta­litäten und Gefühls­lagen, der in der Mitte vieler europäi­scher Gesell­schaften bemerkbar ist.

Der erste Spielfilm der Französin Léa Mysius war »das« Ereignis bei den Film­fest­spielen von Cannes. Das liegt auch an Noée Abita in der Titel­rolle der Ava. Spätes­tens mit diesem Film wurde sie zum Shooting-Star des inter­na­tio­nalen Auto­ren­films. Bald ist sie in dem kana­di­schen Film Genesis von Philippe Lesage zu sehen, der beim Festival von Locarno Furore machte. Abita ist charis­ma­tisch; eine so aufre­gende Darstel­lerin, dass bei ihr selbst das Beben der Nasen­flügel zum Ereignis wird.

Dies ist ein sehr musi­ka­li­scher Film, nicht nur in der Wahl seines Scores, und der atmo­s­phä­ri­schen Tonspur. Auch die klaren, auf 35mm gefilmten Bilder haben etwas Fließendes.
Das passt zu diesem glei­cher­maßen fließenden Film. Denn Ava erzählt zwar von etwas Traurigem, aber er tut es voller Übermut. Trotz, Lust und Neugier schieben sich über den diffusen Fata­lismus. Und die Sinn­lich­keit des Augen­blicks: Die Meeres­wellen, Eis in der Waffel, Sex, Brat­würste, Fett, Schweiß, der raue Beton alter Welt­kriegs­bunker, die passio­nierten Sätze in Avas Tagebuch. Dazu kommt eine surreale Ebene: Die großar­tigen, wunderbar bizarren Träume Avas, Gewalt- und Horror-Phan­ta­sien und andere Utopien, von denen ein paar hier auch in die Tat umgesetzt werden.

Das Leben als Abenteuer. Ava wird blind, aber sie sieht nun etwas anderes.