Deutschland/NL/F 2016 · 113 min. · FSK: ab 12 Regie: Asli Özge Drehbuch: Asli Özge Kamera: Emre Erkmen Darsteller: Sebastian Hülk, Julia Jentsch, Hanns Zischler, Sascha Alexander Gersak, Luise Heyer u.a. |
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Faszinierender, spannend inszenierter Psychothriller |
Es ist ein ganz normaler Abend, an dem sich für Karsten alles ändert. Eine Party, Musik und Alkohol, eine unbekannte Besucherin namens Anna. Am nächsten Morgen ist sie tot, und es bleiben Fragen über Fragen:
Wie starb sie?
Warum brauchte Karsten etwas zu lang, um Hilfe zu holen?
Und vor allem: Wer war diese Anna überhaupt? Warum war sie da?
Die unangenehmsten Fragen stellt hier nicht die Polizei, sondern Laura, Karstens Frau; seine Eltern, die beide angesehene Geschäftsleute sind, die mehr als nur ihren guten Ruf zu verlieren haben; sowie die Freude und die Kollegen in der Bank, in der er arbeitet. In der malerisch gelegenen Provinzstadt weiß jeder sofort über alles bescheid.
Besonders Judith, Lauras beste Freundin, glaubt bescheid zu wissen: »Ich frag' mich nur, was ne' verheiratete Frau mit Kind in ner Wohnung von nem fremden Mann will. ... Ich hab alles gesehen: Du hast sie doch von Anfang an angemacht. Frauen sehen besser als Männer. Ich glaub, Du lügst wie ein Weltmeister.«
So ist Karstens Leben »auf einmal« ganz anders geworden.
Karsten ist ein junger Mann aus gutem Hause. Warum sollten wir uns für ihn interessieren? Ejn Sohn, ein sehr wohlerzogener Sohn, erzogen, um ein zukünftiger Chef zu sein. Zu seinen Eltern sagt er irgendwann: »Das Schlimmste: dass ich genauso bin, wie ihr.« Er ist unsicher, er ist – ganz liberal, locker, bürgerlich – geprägt von der Dressur durch die Eltern, und diese Ansprüche, denen er vermeintlich nicht gerecht werden kann. Karsten ist ein Feigling, ein Waschlappen.
Es geht also um Schuldgefühle, um Gerechtigkeit, um bürgerliche Milieus, um Westdeutschland, um Provinz, um Vater-Sohn-Beziehungen, um Institutionen. Um Vertrauen-Misstrauen. Karsten entschuldigt sich auch dauernd selbst. Egal ob es überhaupt etwas zu verbergen gibt – was der Film lange wohltuend offen lässt –, ist er nicht sympathisch.
»Was habe ich verbrochen, dass mir so etwas passiert?« – jammert er, als alles verloren scheint. Ein männlicher Hysteriker, ein Beispiel auch für sehr deutsche Hysterien, für Schuldgefühle, die vielleicht übertrieben sein mögen, und gleichzeitig in ihrer Übertriebenheit akzeptiert und aber doch verdrängt werden. Man fragt sich irgendwann in diersem Film, ob diese Deutschen nicht alle blöde sind, so übertrieben moralisch, so fortwährend die anderen und sich selbst bewertend. »Judgemental«. Ein Russischstämmiger sagt Karsten gegen Ende: »Ihr braucht immer einen Grund.« Und er meint das nicht als Kompliment.
»Man erntet, was man sät.« flüstert ihm Judith später noch doppelsinnig zu. Aber hat Karsten dies alles wirklich gesät? Hat er es verdient?
Der Berliner Filmemacherin Asli Özge ist ein faszinierender, spannend inszenierter Psychothriller gelungen. Alle hier sind irgendwie schuldig geworden.
Im Zentrum steht daher nicht die Krimi-Ermittler-Frage »Wer hat was getan?«, sondern die Erwartungen der Anderen: Karsten soll nämlich irgendwann einmal in die Fußstapfen der Eltern treten. Er soll für seinen Chef ein vorzeigbarer Berater sein.
Seine Frau Laura hat besonders viele, besonders widersprüchliche Erwartungen: Er soll irgendwie noch der coole hübsche Junge in Lederjacke sein, mit dem sie bei ihren Freundinnen angeben kann, er soll aber auch Karriere machen; er soll viel
Zeit für sie haben und Geborgenheit bieten, aber bitte auch für materielle Sicherheit sorgen und für eine gedeckte Kreditkarte beim Wochenendshopping.
Karsten soll für alle funktionieren. Doch gerade in der Krise entdeckt er neue Möglichkeiten. Er entdeckt die Wahrheit über die anderen, deren Egoismus, die Verlogenheit und den Opportunismus der Gesellschaft. Etwa sein Chef bei der Bank, der ihn in ein Hinterzimmer versetzt, um die Kunden nicht zu irritieren.
Karsten lernt, dass er sich auf diese Anderen, auf die Gesellschaft nicht verlassen kann. Er lernt aber auch Neues über sich. Seine Grenzen, seine Härte, seinen Willen.
So ist Auf einmal ein sehr facettenreicher Film über einen jungen Aufsteiger, ein künftiges Mitglied jener Klasse, die gesellschaftliches Vorbild zu sein beansprucht, die die Macht möchte – sie sie natürlich nie so nennt: In jenen Kreisen heißt das »Verantwortung« – und wir müssen fast Mitleid haben mit jenen, die diese Last tragen sollen.
Es ist das Portrait eines jungen Mannes, der noch lernen muss, seinen Platz an der Spitze einzunehmen. Und er wird es lernen: »Jetzt komm, nach dem Spiel ist vor dem Spiel.« – die Kindheit eines Chefs. Auf einmal hat zwei Ebenen. Zum einen geht es um diese Hauptfigur. Zugleich aber auch um Gesellschaft, um Provinz, und bürgerliche Gesellschaft in der Provinz erzählen. Das saturierte Deutschland im Kleinen.
Gedreht wurde im malerischen Herbst,
mit seinen rotgelbbraunen Farben. Bis zum Rand des Bildes sieht man Wald, Berge, kaum Himmel. Die Kleinstadt Altena im Sauerland mit ihren verwinkelten Gassen, zeigt mitunter ein fast romantisches Deutschlandbild.
Erzählt wird im Stil der »besseren« »Berliner Schule«. Besser, weil er zwar ruhig erzählt ist, aber offener, ästhetisch undogmatisch, in sich freier. Der Film beginnt fast spröde, jedenfalls aus einer – mitunter überbetonten – Distanz erzählt. Wie ein Film von Christian Petzold. Aber der Film öffnet sich, wird weiter, bekommt Tempo, wird unbekümmerter, als Petzold. Die erste Hälfte ist abstrakter, als die zweite. Die Kamera betont die Enge der Räume, zeigt oft Halbtotalen.
Auch wegen Louise Heyer und wegen Julia Jentsch muss man diesen Film sehen, sie tragen den Film, mit Sebastian Hülk und Hanns Zischler. Asli Özges Film entfaltet ein sehr facettenreiches Fremdgeh- und Misstrauensdrama auf dem Land. Präzise erzählt sie von unserer Gesellschaft und ihren Methoden, damit wir alle funktionieren. Bis zum Ende nimmt ihre Geschichte überraschende Wendungen.
Ihrem Film hat die Regisseurin im Shakespeare-Jahr ein Zitat des großen englischen Dichters vorangestellt: »Denn nichts ist Gut und Böse, Das Denken macht es erst dazu.«
Eine einzige falsche Entscheidung kann ein Leben aus dem Gleichgewicht bringen. Einen Menschen seiner Sicherheiten berauben. All das zerstören, was er sich mühsam aufgebaut hat. Diesen, von Filmemachern gerne verwendeten Topos bemüht auch die türkische Regisseurin Asli Özge in ihrer ersten deutschsprachigen Kinoarbeit, die in das Milieu einer westdeutschen Kleinstadt eintaucht. Eines verwinkelt-idyllischen Ortes, der von Wald und Hügelketten umgeben ist. Immer wieder rückt der Film die Beschaffenheit des Schauplatzes in den Blick und führt dem Zuschauer damit vor allem eines vor Augen: Wir befinden uns hier in einem geschlossenen Mikrokosmos, einer Welt, die erdrückend und beklemmend wirken kann. Besonders dann, wenn sich plötzlich alles gegen einen verschworen zu haben scheint.
Eine solche Erfahrung macht in Auf einmal der Protagonist Karsten (Sebastian Hülk), der in einem denkbar ungünstigen Augenblick nicht so handelt, wie man normalerweise handeln würde: Nach einer Party in seiner Wohnung bleibt der Banker allein mit Anna (Natalia Belitski) zurück, die er erst wenige Stunden vorher kennengelernt hat. Man unterhält sich. Es werden vielsagende Blicke ausgetauscht. Dann auch Küsse. Plötzlich ein Schnitt. Und wir sehen Karsten durch dunkle Straßen hetzen. Auf schnellstem Weg zur örtlichen Klinik, die – das provinzielle Setting lässt grüßen – nachts geschlossen hat. Kurz darauf die grausige Gewissheit: Anna liegt tot auf dem Boden seiner Wohnung.
Von diesem Moment an seziert Özge, die auch das Drehbuch zum Film verfasste, wie Karstens Umwelt auf das tragische Ereignis reagiert und welche Auswirkungen die dramatische Erfahrung auf den bislang sorgenlosen jungen Mann hat. Schlägt ihm anfangs noch eine Welle des Mitleids entgegen, sieht er sich plötzlich mit misstrauischen Fragen konfrontiert: Warum ist er zum Krankenhaus gelaufen, anstatt sofort einen Notarzt zu rufen? Weshalb weist die Tote blaue Flecken auf? Und war er auf der Party nicht die ganze Zeit bemüht, Anna anzumachen? Polizeiliche Ermittlungen kommen in Gang, spielen für die weitere Handlung aber nur eine untergeordnete Rolle. Freunde stehen Karsten seltsam skeptisch gegenüber. Seine Partnerin Laura (stark: Julia Jentsch), die bei der Feier nicht anwesend war, rückt zunehmend von ihm ab. Und auch auf der Arbeit wird er fürs Erste degradiert, bis sich die Aufregung gelegt hat. So die Ansage des Chefs.
Auf einmal entwirft ein Horrorszenario für den angesehenen Wohlstandsbürger, der sich nur schwer ausmalen kann, wie sein eigenes Leben entgleist. Nicht zufällig greift Özge wiederholt auf schaurige Impressionen – etwa eine Straße in bedrohlich rot schimmerndem Licht – und thrillerartige Momentaufnahmen zurück. Hinzu kommt eine unheilvolle Musikuntermalung, die uns deutlich zu verstehen gibt, dass es so schnell nicht wieder aufwärts gehen wird. Und das, obwohl Karsten zumindest von einer Seite tatkräftige Unterstützung bekommt. Sein Vater (Hanns Zischler), der dem Ort eng verbunden ist und als lokaler Mäzen auftritt, greift dem ins Straucheln geratenen Sohnemann unter die Arme. Sitzt bei jedem Anwaltsgespräch dabei. Wirkt wie ein übermächtiger Schatten. Ist vor allem um den Ruf der Familie besorgt. Und scheut nicht davor zurück, die Tote zu diskreditieren.
Während Özge all dies präzise beobachtet und den Zuschauer in eine heuchlerische Welt entführt, in der sich jeder selbst der Nächste ist, schält sich mit Blick auf die Hauptfigur ein spannender Entwicklungsprozess heraus. Hinterfragt Karsten sein Handeln anfangs verunsichert, versinkt er irgendwann in Selbstmitleid, um dann doch einen erstaunlich effizienten Weg aus der Krise zu finden. Einen Weg, der zu einem bitterbösen Finale führt. Im dritten Akt darf Hauptdarsteller Sebastian Hülk sein ganzes Können abrufen und das Bild eines eiskalten Psychopathen zeichnen, der sich wohltuend abhebt von all den überzogen-klischierten Thriller-Kollegen. Selten hat man in einem deutschen Film eine eigentlich harmlose Abschlussszene gesehen, die den Betrachter derart erschaudern lässt wie hier. Angesichts der Wucht, die das abgründige Drama zum Ende hin entfaltet, verzeiht man Auf einmal bereitwillig, dass gerade im Anfangsdrittel einige Dialoge hölzern klingen und die Symbolik mancher Bilder etwas plump ausfällt.