Atlantide

I/F/USA/Q/MEX 2021 · 104 min. · FSK: ab 16
Regie: Yuri Ancarani
Drehbuch:
Kamera: Yuri Ancarani, Mauro Chiarello, Thomas Pilani
Schnitt: Yuri Ancarani, Yves Beloniak
Darsteller: Daniele Barison, Maila Dabalà, Bianka Berényi, Alberto Tedesco, Jacopo Torcellan u.a.
Die Mittel des Kinos erkunden...
(Foto: Rapid Eye Movies/Real Fiction)

Schillernde Unsicherheit, aufregendes Kino

Das echte Leben der Menschen der Lagune: Yuri Ancaranis großartiger Film ist ein seltsam-einmaliger Hybrid der das Mythische in der Gegenwart findet

Ein cooler Anfang; ein Sommer­nach­mittag; Bilder von ca. 12- bis 14-Jährigen in der Sonne, beim Baden, irgendwo am Lido in einer Boots­hal­te­stelle der Peri­pherie. Minu­ten­lang nur Bilder und Musik. Sommer, Jugend, Sex, Spaß, Wonne, Glück, das unend­liche Glück eines endlosen Sommer­nach­mit­tags der Jugend. Schöne Bilder, Herum­hängen.

Primär­farben domi­nieren: Blau, rot, gelb. Dazu gute Musik. Musik von »Sick Luke«; der italie­ni­sche Regisseur Yuri Ancarani entdeckt in seinem wunder­baren Film Atlantide die Schönheit im Unvoll­kom­menen. Oder im Beiläu­figen: Der Ölfleck auf dem Wasser. Die Schatten der Bäume im Sonnen­un­ter­gang.

Theo­re­tisch ist dies ein Doku­men­tar­film. Sehr nahe an seinen Prot­ago­nisten. Er begleitet eine Handvoll Jugend­liche. Die Jungs fahren Speedboot. Gangster werden vorge­stellt, werden freund­lich betrachtet. Drogen werden stolz präsen­tiert, dann knattert man bei der Verfol­gungs­jagd mit der Guardia di Finanza den Poli­zei­booten davon.

Haupt­figur Daniele lebt in Sant'Erasmo, einer Insel am Rande der Lagune von Venedig. Er inter­es­siert sich nur für sein Barchino, sein Motor­renn­boot, mit dem er sich mit anderen jungen Männern in der Lagune Wett­rennen liefert. Jeder will der Schnellste sein. Die Boote werden dafür zu Geschwin­dig­keits­ma­schinen getunt, die wie kleine bunte Raketen durch die Lagune brettern. Und der gefähr­liche Ritt auf ihnen ist ein Flirt mit der Sterb­lich­keit, ein Initia­ti­ons­ritus.

Dazu die Mädchen. Danieles Freundin steht erst um 14 Uhr auf, hängt rum, kaut ihre Fingernägel, lässt sich dann künst­liche aus Plastik machen. Sie weiß nicht, was sie will.

Irgend­wann hat Daniele aber eine neue Freundin. Jetzt ändert sich vieles: Wir sehen beide beim Sex, die Kamera blickt dabei auf ihr Gesicht, aus seiner subjek­tiven Perspek­tive. Alles erinnert an Larry Clark, Harmony Korine. Knutschen und Speedboot fahren. Spring Breakers in Venedig.

Der Film zeigt in all seiner paradox mit Natu­ra­lismus kombi­nierten Künst­lich­keit das echte Leben der Menschen der Lagune.

Das Einzige, was wirklich zählt, ist der Rausch und das Vergnügen.

Regisseur Yuri Ancarani, ein italie­ni­scher Video­künstler und Filme­ma­cher, zeigt testo­ste­ron­ge­trie­bene Männ­lich­keit in Reinform.

Ancarani taucht tief ein, geht mit in diesem Strom, und entfaltet ein nihi­lis­ti­sches Universum aus sonnen­ver­brannten Körpern, flüssigen Land­schaften und Panora­ma­auf­nahmen von Barchino-Rennen.

Mit seinen hypno­ti­schen Bildern aus schim­mernden Farben und Licht lässt Ancarani seine Geschichte langsam über ihren erzäh­le­ri­schen Rahmen hinaus­wachsen. Atlantide ist eine kraft­volle Reise, um die Mittel des Kinos zu erkunden, bereit, das Risiko eines Zusam­men­stoßes einzu­gehen, irgendwo in der pech­schwarzen Nacht der Lagune.

Unterlegt mit einem großar­tigen Sound­track, der Elek­tro­beat, Hip-Hop und große Symphonie zu einem psyche­de­li­schen Rausch vereint, gleiten die neon-beleuch­teten Boote in magischen Bildern durch die Lagu­nen­land­schaft und die erhabene, morbide Schönheit Venedigs.
Mensch und Stadt sind mit der Lagune und dem Wasser verwur­zelt und wie die sagen­hafte, versun­kene Stadt Atlantis werden sie dereinst unter­gehen.
Der meta­pho­ri­sche Titel des Films bezieht sich offen­sicht­lich auf den Mythos einer unter­ge­henden Stadt, kann aber auch als Erwei­te­rung von Pasolinis Bemer­kungen über die Borgate verstanden werden, die nun eine prole­ta­ri­sche Jugend vorfindet, die den Kontakt zu ihrer Umwelt verloren hat.

Wieder mal ist Venedig mit Todes­ah­nung und Morbi­dität verbunden. Ein alter Mann am Anfang spricht es wie ein Omen aus: »Ihr werdet euch noch umbringen mit diesem Speedboot-Fahren«.

Am Schluss aber läuft »Vivere« von Flavio de Luca.

Das Ergebnis ist ein seltsam-einma­liger Hybrid aus Spielfilm und Doku­men­tar­film, ein Film, der das Mythische in der Gegenwart findet.
Schil­lernde Unsi­cher­heit, aufre­gendes Kino.