Asche ist reines Weiß

Jiang hu er nü

China/F/J 2018 · 136 min. · FSK: ab 12
Regie: Jia Zhang-Ke
Drehbuch:
Kamera: Eric Gautier
Darsteller: Zhao Tao, Liao Fan, Xu Zheng, Casper Liang, Feng Xiaogang u.a.
Ein ikonischer Moment, der Qiao ins Gefängnis bringt

Wo immer es Menschen gibt, gibt es Mafia

Eine Spiel­hölle. Männer spielen Mahjong. Gewalt steht unsichtbar, aber spürbar im Raum. Nur eine einzige Frau bewegt sich souverän in dieser Männer­welt, sie heißt Qiao und ist jederzeit ganz Herrin der Situation. Das fällt ihr leicht, denn Bin, der Boss dieser Mafiarunde, ist ihr Freund. Kurz darauf gibt es Streit: Einer will gelie­henes Geld von einem anderen, der leugnet, dass er es je lieh. Bin fragt nach, lässt den Leugner dann vor der alten Krieger-Statue schwören. Daraufhin sagt dieser die Wahrheit. Die alten Mythen funk­tio­nieren noch, erzählt diese Szene. Aus dem Off fällt im Gespräch das Datum: 2. April 2001.

Im Streit zog der Leugner drohend eine Waffe. Die kassiert Bin ein – da kommt jene Pistole her, die Qiao später zum Verhängnis werden wird. Danach erst folgen die Anfangs­titel: Zur Musik von John Woos The Killer, die in China offenbar auch zwölf Jahre später nach wie vor ein Hit ist. Und viel­leicht auch eine subtile Anspie­lung über das Entste­hungs­jahr dieses Films: 1989 war das Jahr des Tiananmen-Massakers. Zur Titel­se­quenz sehen wir die Jungs der Mafia beim Feiern. »Wir sind alle Brüder«, rufen sie – China ist im Aufbruch.

Asche ist reines Weiß zeigt eine Frau in einer Männer­welt. Eine Mafia­b­raut. In den ersten Minuten wird sie schnell charak­te­ri­siert: Qiao kommt aus der Provinz, ihr Vater ist ein Gewerk­schafts­führer, der einen aussichts­losen Kampf für die Minen­ar­beiter führt. Qiao ist hart, sie kann kämpfen. Ohne Waffen. Und sie kämpft für ihren Freund, den Gangs­ter­boss Bin. Aber sie hat eher konven­tio­nelle Träume, sie will eine Familie mit Bin, will Sicher­heit, aus der Stadt heraus­ziehen.

Der erste Teil des Film ist idyllisch, roman­tisch. Getränkt in die Nostalgie der Jahre des Aufbruchs und der Unschuld. Die doch auf Blut gebaut sind. Seit dem 4. Juni 1989.
Wir sehen Menschen zu »YMCA« in einer Disco tanzen. Wir sehen zwei Handvoll Gangster einen Film anschauen. Es könnte sich um John Woos The Killer oder A Better Tomorrow II handeln, es ist aber Tragic Hero von Taylor Wong – so oder so eine Erin­ne­rung des cine­philen Regis­seurs an den Charme und die Grazie der alten Hongkong-Filme. Wir erleben, wie die Mafia mit Immo­bi­lien handelt, und bekommen eine vage Ahnung vom Boom jener Jahre. Wir sehen Qiao und Bin, wie sie sich bei einem Spazier­gang unter­halten. Es wird das entschei­dende Gespräch dieses Films. Sie blicken über ein Tal auf einen Vulkan. Ob der wohl noch aktiv sei, fragt sie, und wieder­holt, dass sie aufs Land ziehen möchte. »Genieß den Moment«, rät er. Sie reden über die Waffe. Bin weiß: »Männer mit Waffen sterben zuerst.« Aber er ist sich auch im Klaren: »Für Leute wie uns heißt es immer nur töten oder getötet werden.« Was das sein soll: »Leute wie uns«, will sie wissen. Darauf er: »Jianghu – Unterwelt. Wo immer es Menschen gibt, gibt es Mafia.«
Dann kommt der Tag, der ihr Leben ein für allemal verändert, der Tag, an dem sie doch einmal, um Bin bei einem Angriff vor dem sicheren Tod zu retten, die Waffe zieht und dreimal in die Luft schießt. Dies wird ihr Verhängnis – sie bekommt fünf Jahre Haft für illegalen Waffen­be­sitz. Dies ist auch ein Einschnitt in diesem Film. Regisseur Jia Zhangke erzählt danach davon, wie Qiao sich ihr Leben, oder was davon übrig blieb, zurück­holt. Wie aus der, die nie eine Mafiafrau sein wollte, eine wird. Und viele Jahre später, nach dem Frau­en­gefängnis und nach einem harten Wieder­auf­stieg in der Freiheit, unter hohen Risiken, sagt sie: »Jetzt bin ich Jianghu«. Sie hat gelernt, dass ihr nichts geschenkt wird. Die chine­si­sche Lektion.

Jia Zhangke, mit 48 Jahren immer noch jung, ist eine der profi­lier­testen Stimmen des chine­si­schen Gegen­warts­kinos. Bereits vor zwölf Jahren gewann er in Venedig den Goldenen Löwen. In seinem neuen Film erzählt Jia von einem kühlen, nur halb glückenden Amour fou, der sich über einen Zeitraum von achtzehn Jahren erstreckt und so zu einem sensiblen, facet­ten­rei­chen Portrait der Zeit­ge­schichte Chinas wird. Zudem ist Jia auch ein sehr guter Doku­men­tar­film­re­gis­seur. In diesem Film arbeitet er wieder einmal semi-doku­men­ta­risch, vor allem im zweiten Teil mit einer suchenden Kamera und langen doku­men­ta­ri­schen Passagen. Zudem kehrt Jia hier wieder an den »Dreischluchten-Staudamm« zurück, den Schau­platz eines seiner größten Erfolge, Still Life.

Im Einzelnen ist Asche ist reines Weiß ein Film, der er vom rohen Kapi­ta­lismus erzählt, der bekannt­lich nicht nur in China dominiert. Indem er 2001 beginnt, und 2018 endet, zieht er eine Summe der ersten zwei Dekaden unseres Jahr­hun­derts und führt zugleich in dessen bereits sehr unter­schied­liche Phasen und Facetten zurück.