Alles ist gutgegangen

Tout s'est bien passé

Frankreich 2021 · 109 min. · FSK: ab 12
Regie: François Ozon
Drehbuch:
Kamera: Hichame Alaouie
Darsteller: Sophie Marceau, André Dussollier, Charlotte Rampling, Hanna Schygulla, Géraldine Pailhas u.a.
Versucht man sich zu helfen oder ist es letztlich nur Eigennutz?
(Foto: Wild Bunch/Alamode/Central)

Der Tod und die Tochter

Gegen unsere Verweigerung: François Ozons Sterbehilfe-Drama führt auf die universale Frage nach dem Recht auf einen freien Tod – und zeigt eine glänzende Sophie Marceau

»Ich finde oft, dass der Tod zum Leben passt, das ein Mensch geführt hat. Die Menschen sterben nach ihrer Façon.«
»Früher gab es mehr Unbe­küm­mert­heit, mehr Freiheit. Ich bin nicht sicher, ob ich die Welt von heute wirklich liebe.«
– Sophie Marceau

Eines Morgens erhält die Verle­gerin Emmanuèle (Sophie Marceau) einen Anruf mit schlechten Nach­richten: Ihr Vater André hatte einen Schlag­an­fall und liegt im Hospital, seine beiden Töchter, die jüngere Emmanuèle und ihre Schwester Pascale (Geraldine Pailhas) müssen sich um ihn kümmern. Denn Andrés Zustand ist schlecht und wird nur sehr langsam ein bisschen besser. Er ist teilweise gelähmt, viele Körper­funk­tionen funk­tio­nieren nicht mehr selbständig. Er wird künstlich ernährt, er muss diverse Therapien über sich ergehen lassen, aber da er alles mit wachem Kopf miterlebt, fühlt er sich auch von allen anderen bevor­mundet; er will das alles nicht. Nicht mehr.

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Wenn man sich nun fragt, ob man so eine Geschichte überhaupt im Kino sehen möchte, kann man beruhigt sein: Dieser Film zieht einen hinein. Er ist nicht nur zurück­hal­tend, nüchtern und wahr­haftig erzählt, sondern trägt para­do­xer­weise immer wieder bis zum Ende ein bisschen auch Züge einer Komödie. Das liegt insbe­son­dere an dem ironisch-selbst­iro­ni­schen Spiel von André Dussol­lier in der Rolle des Vaters; es liegt aber auch an dem sehr gut geschrie­benen Drehbuch Ozons und seiner Vorlage. Denn »Alles ist gut gegangen« ist die Adaption eines Romans von Emmanuèle Bernheim. Bernheim (1955-2017) war auch eine gefragte Dreh­buch­au­torin und als solche lang­jäh­rige Mitar­bei­terin Ozons. Sie schrieb unter anderem an dreien der bekann­testen (und besten) Ozon-Filme mit: Unter dem Sand (2000), Swimming Pool (2003) und 5 × 2 – Fünf mal zwei (2004). Ebenso entstand auch der unge­wöhn­liche und im Gesamt­werk von Claire Denis zu Unrecht ein bisschen verges­sene Film Freitag Nacht (2002) nach einer Roman­vor­lage Bernheims, zu der die Autorin dann selbst das Drehbuch verfasste.
In dem auto­bio­gra­phi­schen Roman Tout s'est bien passé (dies auch der Origi­nal­titel von Alles ist gutge­gangen) beschrieb sie das Sterben ihres eigenen Vaters André Bernheim.

Man muss das in diesem Fall tatsäch­lich alles wissen, um zu verstehen, wie dieser Film tatsäch­lich funk­tio­niert, jeden­falls in Frank­reich.
Die Bernheims sind eine illustre und durchaus ein bisschen schil­lernde, groß­bür­ger­liche und intel­lek­tu­elle Pariser Familie. Sie waren und sind bekannt. In gewissen Kreisen – und über diese hinaus.

Emmanuèle Bernheim war als Person und Autorin bekannt, ebenso ist es ihre (tatsäch­lich fünf Jahre jüngere) Schwester, ebenso ihre Eltern. Ihre Mutter Claude Rosine de Soria (1926-2015). Ihr Lebens­ge­fährte war Serge Toubiana (Film­kri­tiker, lang­jäh­riger Direktor der Ciné­ma­thèque française und seit 2017 Präsident der Unifrance). Es geht hier also nicht um irgend­welche Leute.

Jenseits davon, dass dieser Film als Film wahr­ge­nommen wird und als ein facet­ten­rei­cher Essay über das Thema Ster­be­hilfe, enthält er auch kaum verschlüs­selt eine gewisse voyeu­ris­ti­sche Kompo­nente und befrie­digt die Schaulust des Publikums. Dass für ihn Schaulust ein ganz wesent­li­cher Bestand­teil des Kinos ist, der von diesem den man von diesen nicht wegdenken kann, daraus hat François Ozon niemals ein Hehl gemacht.

Wie in vielen fran­zö­si­schen Filmen ist das Milieu ebenfalls ein bestimmtes, und nicht das der breiten Masse. Es geht es um die gebildete Ober­schicht, Menschen, die in schön einge­rich­teten großen Wohnungen mit großen Bücher­re­galen leben, die Literatur ebenso zu schätzen wissen, wie klas­si­sche Musik, die Ausstel­lungen besuchen, Feri­en­häuser haben und für die Geld kein Problem ist – man will in Frank­reich eben nicht irgend­welche Leute auf der Leinwand sehen, sondern bestimmte. Modelle, Vorbilder. Univer­sale Menschen, die so sind, wie nicht alle sind. Wie nicht alle sein wollen. Aber sein sollen.

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Trotz einiger lustiger oder sarkas­tisch-witziger Momente wird das Geschehen um Andrés Schlag­an­fall in seiner Härte nicht vernied­licht. Sondern es wird kühl und nüchtern geschil­dert. Es bleibt immer klar: Etwas Furcht­bares ist geschehen und geschieht weiter. Man möchte nicht in dieser Lage sein, man möchte das nicht erleben. Auch nicht in der Lage der Töchter. Ozon zeigt, was es bedeutet, ein schwer und unheilbar krankes Fami­li­en­mit­glied zu haben. Er zeigt dies gerade in der nerv­tö­tenden Alltä­g­lich­keit, die schlimmer ist, als Schock und Schmerz: Die ständigen Besuche im Kran­ken­haus; die Gespräche mit den Ärzten, die immer nur Verschlech­te­rungen mitteilen können; die Spazier­gänge durch die langen Flure, die ewig zu dauern scheinen...
Ozon nähert sich dem Schrecken, der Krankheit und dem Sterben kühl und sarkas­tisch. Inkorrekt für manche.

Ob der Film damit schon unkon­ven­tio­nell ist, ist eine andere Frage. Es wird Leute geben, die Ozon vorwerfen, einen konven­tio­nellen Film gemacht zu haben – und im Prinzip macht dieser Regisseur sehr oft konven­tio­nelle Filme, aber er macht sie auf einem hohen Niveau und auf eine Art und Weise, der immer etwas Nicht-Konven­tio­nelles eigen ist.

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Dazu kommen im Film die Rück­blicke. In den Wochen nach dem Schlag­an­fall erinnert sich die Tochter an ihre Kindheit. Etwa 40 Jahre ist das her, Anfang der 80er. Dieser Vater war nicht immer nett. Warum auch? Welche Eltern sind das schon? Und Filme sind nicht dazu da, reale Fami­li­en­ver­hält­nisse zu verkit­schen und zu mythi­sieren. Es waren auch keine Horror­si­tua­tionen, die Emmanuèle passiert sind. Dieser Vater hat seine Töchter schi­ka­niert, wie viele Eltern das tun, weil sie selber immer wieder auch kindisch sind, und egozen­trisch und oft ihre ganz eigenen Probleme haben. Gerade Emmanuèle hat André früher einiges zugemutet. Er hat ihr ein »Stopfst du dich wieder voll?« an den Kopf geworfen, und sie musste auch mit seinen schweren Depres­sionen umgehen, etwas, was das junge Mädchen gar nicht gut bewäl­tigen konnte. Wer kann schon damit umgehen, wenn der eigene Vater sagt: »Wenn ich eine Knarre hätte, würde ich mir das Hirn wegschießen.« Manchmal hasste sie damals ihren Vater. Aber sie liebt ihn auch. Jetzt ist er von ihr abhängig. Und es zeigt sich, dass trotz mancher Verlet­zung ein herz­li­ches Vertrau­ens­ver­hältnis besteht.

Ist es Zufall, oder ein etwas guter schlechter Witz, wenn Ozon eine Szene zeigt, in der einen Tourist die Haupt­figur Emmanuèle auf einer Metro-Karte fragt: »Wo sind wir?« Und ihre Antwort lautet: »Stalin­grad« – wie der Name der Metro­sta­tion in Paris. Aber nicht nur.
Dann schneidet Ozon direkt wieder in einen Rückblick: »Kannst du keine Karten lesen?« herrscht der Vater darin die Tochter an.

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Als es dem Vater nicht besser geht, kommt irgend­wann seine entschei­dende Bitte an die Tochter: »Du musst mir helfen, Schluss zu machen. Verstehst du?« Sie versteht.
Aber zunächst verwei­gert sie sich dieser letzten Zumutung. Die auch ein Liebes­dienst ist.

Was tut man da? Obwohl André schwer krank ist, ist er noch bei klarem Verstand und weiß genau, was er seiner Tochter zumutet. So wie Ozon die Vater-Figur darstellt, ist es über weite Strecken des Films so, dass uns Zuschauern (und seinen Töchtern?) nicht klar ist, wie sehr er kämpft und warum er glauben könnte, dass es unbedingt Zeit ist, zu gehen.
So wird aus dem Film das Ster­be­hilfe-Familien-Drama. Das dreht sich zunächst um die zentrale Frage, ob Emmanuèle seinem Wunsch nach­kommen soll. Dieser selbst ist entschlossen und schwankt nur ein einziges Mal kurz, als er seinen Enkel bei einem Klari­net­ten­kon­zert sehen will. Als sich Emmanuèle schließ­lich dazu durch­ge­rungen hat, dem Vater bei seinem Wunsch auf Freitod zu helfen, geht es um prak­ti­sche Fragen. Denn in Frank­reich darf André nicht durch Ster­be­hilfe sterben – für das Gesetz leidet er dafür noch nicht genug.
Darum reist man in die Schweiz.

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Kleiner Exkurs: Die Frage des Rechts auf einen freien Tod – überhaupt oder zumindest in Fällen schweren Leidens – und der der Eutha­nasie (eu-thanatos heißt der schöne, der glück­liche Tod) gehört zu jenen philo­so­phi­schen Grund­satz­fragen, die seit jeher, seit Anbeginn der Geschichte der freien, zivi­li­sierten Mensch­heit kontro­vers debat­tiert werden. Klar ist, dass mit »Recht« hier nur das mora­li­sche Recht gemeint ist, nicht das juris­ti­sche Recht des Staates, und nicht das ethische des einzelnen, für sich handelnden, selbst­be­stimmten Menschen. Das juris­ti­sche Recht des Staates wird hier sehr wohl berührt, wenn ein Staat oder der ihn bestim­mende Teil der Gesell­schaft meint, jenen, deren eigener Freitod fehl­schlägt, für den bloßen Versuch bestrafen zu müssen. Oder in jedem Fall jene, die ihm dabei helfen. Umgekehrt muss der Staat ein solches Recht per Gesetz gar nicht erlauben; das erlauben sich die einzelnen Menschen schon selber.
Die viel­leicht doch fort­schritt­lichste, modernste, an der Selbst­be­stim­mung des Einzelnen, freien Menschen orien­tierte Position haben darin die antiken Philo­so­phen einge­nommen: Im alten Grie­chen­land und im Römischen Reich war das Recht auf Freitod üblich, voll­kommen unab­hängig davon, ob die Gesell­schaft dies per Einzel­fall­prü­fung und Leidens­ab­wä­gung sank­tio­niert hat. Wer nicht mehr leben wollte, durfte sterben. Wer hätte hier mehr Recht und bessere Kenntnis, um alles zu beur­teilen, als allein die Person, die es betrifft.

In der Mensch­heits­ge­schichte seit der Antike wurden diese Fragen zunehmend repressiv behandelt, und insbe­son­dere im christ­lich-abend­län­di­schen Kontext mit Tabus und Verboten und der Androhung von Höllen­qualen belegt.
In privaten Kontexten war die Betrach­tung von Freitod und Ster­be­hilfe immer diffe­ren­zierter, ebenso in allen außer-christ­li­chen Zusam­men­hängen. Oft genug wurde der Freitod in bestimmten Fällen als ehren­volles Verhalten, oder ehren­voller oder zumindest ange­mes­sener Ausweg angesehen. Insofern als ethisch wertvolle zumindest akzep­table Tat.

Inzwi­schen leben wir in Deutsch­land und erst recht im übrigen Europa in Verhält­nissen in denen – nach neuesten Zahlen, und auf Deutsch­land bezogen – weniger als die Hälfte der Bevöl­ke­rung noch Mitglied in den großen christ­li­chen Kirchen ist, und noch weniger an alle christ­li­chen Gebote glauben. Weder das Gebot »Du sollst nicht ehebre­chen«, noch »Du sollst Vater und Mutter ehren« noch »Du sollst nicht töten« noch »Du sollst nicht lügen« sind Grund­sätze, die von den aller­meisten der halbwegs vernünf­tigen Menschen geglaubt oder auch nur beachtet werden. Alles ist relativ, auch Werte, erst recht christ­liche Gebote.

Inzwi­schen sind der – wie es heißt – »Selbst­mord« und »Beihilfe zum Selbst­mord« in Deutsch­land auch tatsäch­lich nicht mehr strafbar. Was längst nicht alle wissen. Sehr wohl strafbar aller­dings ist die »Tötung auf Verlangen.« denn dies ist die Tötung eines anderen, nicht die Selbst­tö­tung, und deswegen fällt dies juris­tisch unter – je nachdem – Körper­ver­let­zung mit Todes­folge, Totschlag oder Mord. Hierzu gehört auch die soge­nannte Ster­be­hilfe, also die Beihilfe zum Freitod im Fall von Menschen, die dazu selbst­ständig nicht mehr in der Lage sind.
Hier nun wird es kompli­ziert und oft genug, wie mir scheint, unmo­ra­lisch. Genau darum geht der Film. Hat der Staat, haben die Mitmen­schen das Recht, einen geistig autonomen Menschen gegen seinen Willen zum Weiter­leben zu zwingen?

Das ist in allen euro­päi­schen Ländern, auch unserem Land sehr aktuell. Spanien und die Benelux-Länder sind dieje­nigen euro­päi­schen Staaten, in denen es möglich ist, in Absprache mit dem Arzt ein Mittel zu erhalten, das den Tod herbei­führt. Andere Staaten wie die Schweiz sehen zumindest die Beihilfe zum Suizid als Möglich­keit vor, wobei die Handlung von den Ster­be­wil­ligen selbst durch­ge­führt werden muss. Das führt in der Praxis zu kompli­zierten, zum Teil entwür­di­genden Praktiken und so ziemlich viel Heim­lich­tuerei in den letzten Minuten eines mensch­li­chen Lebens – allein damit die Ster­be­helfer juris­tisch auf der sicheren Seite bleiben.

Frank­reich hingegen lässt nur passive Ster­be­hilfe zu, wenn die Behand­lung eines unheil­baren Patienten beendet wird. Salopp gesagt: »den Stecker raus­zu­ziehen« ist erlaubt, ein Medi­ka­ment zu geben nicht.
Wer wie André »nur« schwer in seiner Beweg­lich­keit einge­schränkt ist, aber weiterhin irgendwie und sei es auch noch so kompli­ziert und unzu­mutbar und teuer weiterhin die meisten Aufgaben des (Über-)Lebens erfüllen kann, ist gezwungen, auch gegen seinen Willen, weiter­zu­leben.
Oder man hat genug Geld und Wissen und Hilfe, um in besagte Länder zu gehen und sich dort das Sterben ermö­g­li­chen zu lassen.

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Zu all dem hinzu kommt noch die innere Familien-Dynamik: Unge­klärte Themen der Vergan­gen­heit müssen aufge­ar­beitet werden, insbe­son­dere das Verhältnis zur getrennten, aber noch verhei­ra­teten Mutter (Charlotte Rampling), die André während der Ehe betrogen hat – mit einem Mann. Auch die an sich vertraute Beziehung der beiden Schwes­tern ist berührt. Die schwe­lende gegen­sei­tige Eifer­sucht, wer denn nun die Lieb­lings­tochter des Vaters war und ist, flammt wieder auf – ausge­rechnet über die Frage, wer vom Vater um Hilfe beim Freitod gebeten wurde.
Die Frage, die sich in vielen Momenten immer wieder stellt, ist: Versuchen die Figuren wirklich, einander zu helfen, oder ist es letztlich einfach nur Eigennutz?

Bestimmte Elemente wie die Geschichte der Familie und die Kindheit des Vaters in der Shoah, oder auch seine homo­se­xu­ellen Affären, wirken etwas aufge­setzt. Doch sie kommen bereits im Roman vor und die Infor­ma­tionen über die realen Figuren und Ozons lang­jäh­rige Freund­schaft mit ihnen, die im Abspann des Films noch einmal beschrieben werden, vertiefen all dies im Nach­hinein.
Tout s'est bien passé ist damit nicht nur eine Darlegung des Dilemmas des Sterbens, sondern auch eine Mani­fes­ta­tion an eine Freund­schaft und ein letzter Freund­schafts­dienst, an eine wichtige Mitar­bei­terin.

Was auch immer gewisse Schwächen sein mögen, Alles ist gut gegangen findet einen bewe­genden Schlussakt, der in dem einfachen, aber verhee­renden Moment aufs Schwarz schneidet.

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François Ozon (u.a. 8 Frauen, Frantz) ist der wohl produk­tivste unter den fran­zö­si­schen Autoren­fil­mern der Gegenwart. Auch nach 25 Jahren dreht er weiterhin Filme wie am Fließband: Es vergeht kein Jahr, in dem er nicht mindes­tens einen, manchmal sogar zwei Filme fertig­stellt. Sie sind durchweg von einer typischen Hand­schrift und großem tech­ni­schen Können geprägt und laufen auf den großen Festivals der Welt.
In diesem Fall gelingt Ozon eine viel­schich­tige und erstaun­lich heitere Betrach­tung von Sterben und Tod. Der Regisseur wagt den Blick in die unan­ge­nehmen Seiten unseres Lebens, die wir alle gern verdrängen. Er nähert sich dem Schrecken, und erzählt doch auch eine »typisch fran­zö­si­sche« Fami­li­en­ge­schichte, die lustvoll und gebildet ist. Getragen von vielen hervor­ra­genden Schau­spie­lern, zu denen auch die Deutsche Hanna Schygulla in einer knappen Rolle als Schweizer Ster­be­hel­ferin gehört, bleibt vor allem die großar­tige Leistung der Haupt­dar­stel­lerin Sophie Marceau im Gedächtnis.

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Mit 12 und viel­leicht auch noch mit 15 war ich in Sophie Marceau verliebt. La Boum – Die Fete natürlich, wie viele in meinem Alter. Dann, 1985 beim Sprach­auf­ent­halt in Tours hatte ich einen unver­gess­li­chen Kinoabend mit Maurice Pialats klas­si­schen Krimi­nal­film Police, in dem Marceau die Haupt­rolle spielt. Die Sexszenen mit Gerard Depardieu fand ich ziemlich hässlich. Seitdem habe ich mich immer wieder gefragt, ob ich Marceau nur mag, weil ich sie attraktiv und begeh­rens­wert finde, oder auch, weil sie eine gute Schau­spie­lerin ist? Sie macht immer wieder gute bis sehr gute Filme, aber nicht besonders viele, sie macht Fehler, die sie freimütig zugibt. Sehr lesens­wert ist dazu das schöne Gespräch, dass Johanna Adorjan mit Marceau für das SZ-Magazin geführt hat. Darin sagt Marceau einen schönen Satz über ihren frühen Ruhm und die Tatsache, dass alle Männer noch heute in sie verliebt sind, und alle Frauen dieser Genera­tion sich in ihr spiegeln: »Wenn man schon bekannt ist, dann doch besser so. Bei mir ist es wie bei Spiderman: Ich wurde sehr früh gestochen, ich war erst 13, noch nicht fertig entwi­ckelt. Ich bin halb Sophie Maupu und halb Sophie Marceau. Das ist Teil meiner Genetik.«
Wir hören auch die absurde Anekdote, dass Regisseur Francois Ozon tatsäch­lich in La Boum 2 als Statist mitge­macht und kurz zu sehen ist. Und dann noch: »Ich war mir viel­leicht über die Bedeutung, die La Boum für so viele hatte, nicht klar. Früher gab es mehr Unbe­küm­mert­heit, mehr Freiheit. Ich bin nicht sicher, ob ich die Welt von heute wirklich liebe. Aber jetzt klinge ich wie eine alte Frau von gestern. Sagen wir so: Wandel gehört zum Leben, und im Moment erleben wir einen großen gesell­schaft­li­chen Wandel.«
Aber das alles wirklich nur nebenbei.

Jeden­falls wirkt auf mich die Karriere von Sophie Marceau so, als würde sie, obwohl sie in Frank­reich ein Star ist, doch zwischen den Deneuves, Binoches und Cotil­lards immer etwas unter Wert wahr­ge­nommen und betrachtet, so als könnte das fran­zö­si­sche Kino bis heute nicht richtig frei mit ihr umgehen. Undenkbar, dass Desplechin, Bonello, Denis oder Assayas mit ihr drehen. Warum eigent­lich?

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In dieser Haupt­rolle brilliert Marceau und beweist, dass sie eine ausge­zeich­nete Charak­ter­dar­stel­lerin ist. Damit ragt sie noch hinaus über den Rest dieses guten Films.

Die Frage des Vaters ist universal und wird in der einen oder anderen Weise uns allen einmal bevor­stehen. Ozons Film beschäf­tigt sich auch mit unserer Verwei­ge­rung, uns solchen Problemen und der eigenen Sterb­lich­keit zu stellen.

Jenseits des Melodrams

François Ozon schafft einen meisterhaft gestalteten Film über ein sehr ernstes Thema und ist dabei weder rührselig noch zu leichtfertig

Ein Anruf, der einen aufschreckt, der brutal in den Alltag eindringt: er erreicht Emmanuèle (Sophie Marceau) an ihrem Schreib­tisch zu Hause, sie sitzt vor ihrer mit edlen Klas­si­ker­aus­gaben voll­ge­spickten Bücher­wand am Laptop beim Arbeiten an einem Text. Der Anruf lässt sie über­stürzt aufbre­chen. Es dauert ihr zu lange, bis der Aufzug herauf­kommt, sie eilt die Treppe hinunter, die Stufen verschwimmen vor ihren Augen, sie bemerkt, dass etwas nicht stimmt, sie kehrt um, vor dem Bade­zim­mer­spiegel setzt sie hastig ihre Kontakt­linsen ein.

Sie macht sich auf den Weg ins Kran­ken­haus, in das ihr Vater André (André Dussol­lier) nach einem Schlag­an­fall vom Notarzt einge­lie­fert wurde. Die unver­mu­tete Konfron­ta­tion mit dem Unaus­weich­li­chen trifft auch die Zuschauer*innen heftig, und im Film wird man dieser Begegnung mit Krankheit und Sterben bis zum Ende auch nicht auskommen. Doch in der Art und Weise, wie Ozon das hier behandelt, muss man keine Furcht davor haben. Und das nicht, weil er die Sache nicht ernst genug nehmen und das Thema baga­tel­li­sieren würde. Sondern weil er sie fast mit Leich­tig­keit und unver­krampfter Natür­lich­keit angeht.

Der Schlag­an­fall hat bei André zu einer Lähmung der rechten Seite geführt, er muss zunächst künstlich ernährt werden, er hat Beein­träch­ti­gungen beim Sprechen und Sehen. Doch er ist sich sehr klar bewusst, wie es um ihn steht. So klar, dass er der Tochter seinen Wunsch mitteilt, sie möge ihm helfen, mit dem allen hier ein Ende zu machen. Er bittet sie ganz konkret und direkt um Ster­be­hilfe, fordert dies gar vehement ein. Emmanuèle ist scho­ckiert. Und das ist das eigent­liche Thema des Films. Wie Emmanuèle und ihre ältere Schwester Pasquale (Géraldine Pailhas) mit diesem Wunsch des Vaters umgehen und was er auslöst. Nach anfäng­li­cher Weigerung, darauf einzu­gehen, lassen sie sich darauf ein und stellen bald fest, so einfach kann das nicht durch­ge­führt werden. In Frank­reich jeden­falls nicht, ohne dass sie sich strafbar machen würden. Der Vater müsste dazu in die Schweiz reisen. Wie und ob sie das umsetzen können, erzählt der Film auf durchaus auch spannende und immer wieder nahe­ge­hende Weise. So bessern sich seine Beschwerden, er kann auch wieder vom Bett aufstehen und längere Zeit sitzen, Fort­schritte, die die Töchter hoffen lassen, er könne von seinem Vorhaben wieder Abstand nehmen. Doch die Beharr­lich­keit, mit der er seinen Entschluss aufrecht­erhält, ist groß; eine Sorge bei ihm ist lediglich, dass er die Klarheit und die Mündig­keit einbüßen könnte, die die Voraus­set­zung für die selbst­be­stimmte Durch­füh­rung des Aktes auch in der Schweiz sind. Emmanuèle muss in dieser Entschlos­sen­heit auch einen Egoismus und eine Rück­sichts­lo­sig­keit des Vaters wieder­erkennen, die ihr seit der Kindheit schon zu schaffen machten. So brechen hier alte Konflikte auf, auch zwischen den Schwes­tern, die der Vater auszu­nutzen versucht.

Ozon hält sich in seinem Drehbuch sehr eng an den auto­bio­gra­phi­schen Bericht der 2017 verstor­benen Schrift­stel­lerin Emmanuèle Bernheim, die selbst an den Dreh­büchern für die früheren Ozon-Filme Unter dem SandSwimming Pool und 5 × 2 – Fünf mal zwei mitge­wirkt hat. Die tatsäch­li­chen Namen der Figuren werden auch im Film nicht verändert. Diese verbürgte Echtheit trägt sicher dazu bei, dass der Film authen­tisch wirkt, kann aber nicht allein die Eindring­lich­keit erzeugen, mit der einen dieser Film packt.

Das Buch Bernheims ist in der Ich-Form geschrieben und proto­kol­liert im Präsens das Erleben Emma­nuèles sehr direkt und unver­mit­telt. Ozons Film nutzt glück­li­cher­weise kein Voice-Over, um die Ich-Form irgendwie für den Film zu bewahren. Er wählt eine gefasste, fast schon distan­zierte Erzähl­weise, die dicht am Geschehen bleibt, nichts beschö­nigt, aber auch nichts künstlich drama­ti­siert oder aufbauscht. Ozon verleiht den banalen Details, und auch den unan­ge­nehmen Wirk­lich­keiten eine ganz eigene Dignität, allein die Aufmerk­sam­keit, die er der Realität in seiner Insze­nie­rung gewährt, würdigt sie im wahrsten Sinne des Wortes. So entsteht eine anrüh­rende Ernst­haf­tig­keit, die keine emotio­nale Erpres­sung oder falsche Senti­men­ta­lität benötigt, um die Zuschauer und Zuschaue­rinnen zu bewegen. Man mag es Handwerk, Routine, oder auch ganz einfach höchste Meis­ter­schaft in der Hand­ha­bung der filmi­schen Mittel nennen, die Ozon zu Gebote stehen. Ozon braucht nichts neu zu erfinden, er ist gewiss einer der großen Regis­seure, denen die Konven­tionen des Kinos zur zweiten Natur geworden sind; er kann sie so einsetzen, als wären sie voll­kommen unver­braucht und frisch; nichts wirkt hier abge­griffen. Und er kann mit diversen Genre­for­meln so umgehen, dass er sich letzten Endes einer Zuordnung zu einem Genre entzieht: er arbeitet in Tout s'est bien passé mit Mitteln des Melodrams, zielt aber nicht auf die Exzesse und Effekte des Melodrams, sondern versucht einfach dem Thema gerecht zu werden, und das gelingt ihm hervor­ra­gend. Und das nicht nur aufgrund des Stoffes der Buch­vor­lage, sondern auch dank einer souver­änen Insze­nie­rung zusammen mit den Schau­spie­lern und Schau­spie­le­rinnen in den Haupt­rollen wie Sophie Marceau und André Dussol­lier. In Neben­rollen tragen auch Hanna Schygulla, Charlotte Rampling und Jacques Nolot entschei­dend zu diesem Meis­ter­werk bei, in dem es alle zusammen geschafft haben, die höchste Kunst voll­kommen unan­ge­strengt aussehen zu lassen.