Deutschland 2019 · 119 min. · FSK: ab 0 Regie: Caroline Link Drehbuch: Caroline Link, Anna Brüggemann Kamera: Bella Halben Darsteller: Riva Krymalowski, Oliver Masucci, Carla Juri, Justus von Dohnányi, Marinus Hohmann u.a. |
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Konsequent inszenierte kindliche Perspektive (Bild: Warner) |
Nach dem großen Erfolg ihres vor einem Jahr gestarteten Films Der Junge muss an die frische Luft (bisher 3.780.000 Besucher) hat sich die Münchner Regisseurin Caroline Link erneut einer Romanverfilmung gewidmet. Diesmal ist es ein durch die Lektüre veranlasster Rückblick auf den Beginn der Naziherrschaft in Deutschland, wie Caroline Link schreibt: »Vor mehr als 35 Jahren habe ich den Roman ‚Als Hitler das rosa Kaninchen stahl’ von Judith Kerr zum ersten Mal in der Schule als Pflichtlektüre gelesen. Damals hat mich die Leichtigkeit der Geschichte überrascht. Das war eine Geschichte über Vertreibung und Flucht aus Nazi-Deutschland, und trotzdem war der Ton optimistisch, fast unbeschwert. Man kann finden, dass dieser subjektive Blick auf Vertreibung harmlos erscheint, aber ich denke, gerade das zeichnet Judith Kerrs Buch aus. Kinder und Jugendliche müssen sich vor dieser Geschichte nicht fürchten. Es ist keine Holocaust-Geschichte, die man jungen Menschen nicht zumuten mag. Und es ist trotzdem die Beschreibung einer Zeit, in der der Verlust von Heimat, Sprache und Wohlstand von einem Tag auf den anderen möglich wurde, nur weil sich der politische Wind gedreht hat.«
Caroline Link hat sich ganz an die Erzählweise der Buchvorlage gehalten, beginnt mit der behüteten Kindheit der neunjährigen Anna Kemper, die mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Max, ihren Eltern und der Haushälterin Heimpi in einem großzügigen Haus in einem Villenviertel in Berlin aufwächst. Doch irritierende Erlebnisse in Schule und Nachbarschaft kündigen ein sich veränderndes gesellschaftliches Klima an. Anna registriert besorgt, dass auch zu Hause eine gespannte Atmosphäre herrscht. Ihr Vater, ein Schriftsteller und Theaterkritiker, dessen Texte jetzt zur Gefahr für ihn und seine Familie werden, liegt mit Grippe im Bett. Der abendliche Anruf eines ihm wohlgesinnten Polizisten, der über den bevorstehenden Passentzug informiert, veranlasst ihn zur sofortigen Abreise, zunächst nach Prag, wie die Mutter den Kindern erklärt. Kurz darauf verlassen auch Mutter und Kinder überstürzt ihr Haus und Heimpi. Die Kinder dürfen nur einen kleinen Koffer mit ihren wichtigsten Sachen und nur eins ihrer Kuscheltiere mitnehmen. Anna fällt die Wahl schwer zwischen dem neuen Hund und ihrem alten rosa Kaninchen und lässt schließlich das rosa Kaninchen zurück mit dem Versprechen, es noch nachzuholen. Einen kritischen Moment gibt es in der Bahn bei der Passkontrolle, erleichtert können sie dann aber die Fahrt in die Schweiz fortsetzen. In Zürich erwartet sie bereits der Vater – endlich in Sicherheit und zusammen überglücklich, aber auch noch in der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr nach Berlin, wenn sich die Verhältnisse wieder normalisiert haben.
Das Ergebnis der Reichstagswahl, aus der die NSDAP gestärkt hervorgeht, macht diese Hoffnung zunichte und sie müssen sich auf eine längere Zeit in der Fremde einstellen. Ihre nächste Bleibe ist ein ländlicher Gasthof oberhalb des Zürichsees. Hier entsteht fast so etwas wie Normalität, Anna geht in die Dorfschule, wo sie zwar unterfordert ist, sich aber mit einigen Kindern anfreundet, auch wenn die so ganz andere Bräuche haben, Max muss auf die höhere Knabenschule nach Zürich. Nur als Anna zehn Jahre wird und wehmütig an die herrlichen Kindergeburtstage zu Hause in Berlin denkt, während sie sich hier auf einem Schiffsausflug mit der Literarischen Gesellschaft zu Ehren ihres berühmten Vaters Arthur Kemper, jetzt allerdings kaum beschäftigter Exilautor, endlos langweilt, überkommt sie eine große Traurigkeit. Trübe ist auch die berufliche Situation des Vaters, der in der Schweiz keine Redaktion finden kann, die seine Texte über die kulturellen und politischen Ereignisse in Deutschland veröffentlicht. In Paris, wo jetzt immer mehr Emigranten aus Deutschland leben, sieht er bessere Arbeitsmöglichkeiten, hat auf seiner Informationsreise schon eine möblierte Wohnung für die Familie gefunden und bald müssen sie sich dort einrichten. Für die Kinder ist zunächst die fremde Sprache eine Barriere, aber Anna ist sichtlich bemüht, Französisch zu verstehen und zu sprechen. Das Leben in der kleinen Wohnung im oberen Stockwerk wird zur Herausforderung für alle, ebenso wie die griesgrämige Concierge unten, die sie ihre Abneigung spüren lässt. Anna kämpft sich durch, sie und ihr Bruder Max machen auch sprachlich Fortschritte. Da bekommt der Vater ein Angebot aus England und wieder heißt es, Sachen packen für die (Weiter-)Reise, diesmal mit dem Schiff über den Ärmelkanal, drüben am anderen Ufer leuchten schon die weißen Kreidefelsen von Dover.
Auch für Judith Kerr (geboren am 14. Juni 1923 in Berlin) war England, d.h. London, die letzte Station ihrer Flucht. Hier lebte die Tochter des jüdischen Theaterkritikers und Schriftstellers Alfred Kerr, dessen Werke bei der Bücherverbrennung 1933 vernichtet wurden, seit 1935. Während ihre Eltern nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland zurückkehrten, blieb sie in
London und war als Schriftstellerin und Illustratorin tätig. Ihr autobiografisches Buch Als Hitler das rosa Kaninchen stahl mit ihren Kindheitserinnerungen, die sie für ihren achtjährigen Sohn aufgeschrieben hatte, war 1971 das erste Buch, das für Kinder die Geschichte der Vertreibung einer jüdischen Familie aus dem nationalsozialistischen
Deutschland erzählt. 1974 erhielt Judith Kerr dafür den Deutschen Jugendliteraturpreis. Zwei weitere Bände – Warten bis der Frieden kommt (1.Aufl. 1975) und Eine Art Familientreffen (1.Aufl. 1979) – folgten und liegen als Trilogie
vor. Judith Kerr schrieb ihre Romane – obwohl sie gutes Deutsch sprach – in englischer Sprache und ließ sie übersetzen.
Wenn sie angesprochen wurde auf die furchtbare NS-Zeit, antwortete sie ohne Hass, ohne Verbitterung: »Es war ein unglaublich erfülltes und glückliches Leben, aber es hätte so leicht nicht so sein können. Wenn da nicht die Voraussicht meiner Eltern gewesen wäre, wenn dieses Land uns keinen Schutz gegeben hätte.« Caroline Links fertigen Film konnte sie
nicht mehr sehen, sie starb 96-jährig am 22. Mai 2019 in London.
Was für die Verfilmung Als Hitler das rosa Kaninchen stahl einnimmt, ist die konsequent inszenierte kindliche Perspektive. Wir erleben mit der Zehnjährigen Gefühle wie Abschiedsschmerz, wenn Anna vor dem Verlassen ihres Zimmers sich von einzelnen Gegenständen auf ungewisse Zeit verabschiedet, was sich später, in der Schweiz, als endgültiger Abschied herausstellt, als auch den Kindern klar wird, dass sie nicht mehr nach Berlin zurückkehren werden. Durch einen Anruf von Heimpi aus Berlin erfuhren sie, dass die Nazis ihre gesamte Einrichtung konfisziert und aus dem Haus geschafft haben, daher ja auch der Buchtitel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl.
Oder Empörung über die deutsche Urlauberfamilie im Schweizer Gasthof, die ihren Kindern das Spielen „mit den jüdischen Kindern“ Anna und Max verbieten – eine Konfrontation, die in dieser vordergründigen Idylle die politische Realität sicht- und spürbar macht. Ebenso das Gefühl der Verunsicherung, als Anna mithört, was Onkel Julius, zu Besuch bei der Familie am Zürichsee, über einen bekannten jüdischen Professor berichtet, der verhaftet und in einem Konzentrationslager furchtbar gedemütigt wurde. Solche Situationen sind im Buch stärker umschrieben und beschäftigen Anna gedanklich noch mehr.
Auch wenn die eine oder andere Episode im Film wie ein Abenteuer wirkt oder die Szene auf dem Eiffelturm am Kitsch vorbeischrammt, bleibt insgesamt der Ernst dieser Geschichte gewahrt. Und was auch dieser Film wieder zeigt: Caroline Links Stärke liegt in der exzellenten Inszenierung der Kinder, dafür hat sie ein untrügliches Gespür – und mit Riva Krymalowski auch eine rundum überzeugende Anna-Darstellerin, während Carla Juri in der Rolle der Mutter eher unpersönlich wirkt.
Eine Anmerkung zum Schluss: Für die Musik fehlte diesmal leider Caroline Links „Hauskomponist“ Niki Reiser im Team und leider dominierte diesmal ein gefühliger Streicher-Sound statt einer eigenen originellen Note. So bleibt die Hoffnung auf den nächsten Film von Caroline.
Astrid van Nahl:
Judith Kerr – Die Frau, der Hitler das rosa Kaninchen stahl (2019)
https://www.wbg-wissenverbindet.de/15644/judith-kerr