A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe

Deutschland/Frankreich 2022 · 104 min. · FSK: ab 6
Regie: Nicolette Krebitz
Drehbuch:
Kamera: Reinhold Vorschneider
Darsteller: Milan Herms, Sophie Rois, Udo Kier, Nicolas Bridet, Lilith Stangenberg u.a.
Blick auf ein neues Leben
(Foto: Port-au-Prince/24 Bilder)

Liebe lernen, Leben lieben

Nicolette Krebitz' ungewöhnlicher und aufregender Film-Hybrid ist auf der Berlinale unprämiert geblieben. Zu Unrecht.

Vice, Virtue. It’s best not to be too moral. You cheat yourself out of too much life. Aim above morality. If you apply that to life, then you’re bound to live life fully. – Maude in Harold and Maude

Schon in ihrem letzten Film, Wild (2016), einem unter­grün­digen, faszi­nie­renden Stück von »Urban Nature Writing«, hat Nicolette Krebitz deutlich gemacht, dass sie Konven­tionen und erst recht konven­tio­nelle Bezie­hungen nicht inter­es­sieren. Ist ihre junge Darstel­lerin Ania (Lilith Stan­gen­berg) damals eine Beziehung mit einem Wolf einge­gangen, so ist es in A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe ganz anders und doch bleibt es unge­wöhn­lich. Denn dieses Mal ist es die schon 60-jährige Anna, die dem aus den Gleisen geratenen 17-jährigen Schüler und Waisen­kind Adrian (Milan Herms) Sprech­un­ter­richt geben soll, damit er sich nicht nur schulisch wieder fängt. Aus den Unter­richts­stunden entsteht eine Nähe und dann auch Liebe und schließ­lich eine Liebe auf der Flucht.

Krebitz entwirft diese Beziehung, die weit vom üblichen Sugar-Mama-Stereotyp entfernt ist, mit viel Zärt­lich­keit und einem wilden, poeti­schen Hand­strich, der wie etwa in der wunder­vollen Vogel-Szene nicht nur über­rascht, sondern beide Figuren zu integren, sich über die Beziehung mitein­ander selbst­er­mäch­tigten, lernenden Indi­vi­duen macht. Keiner fühlt Schuld, keiner fühlt Scham, beide fühlen die Liebe und sind dennoch ganz bei sich selbst, gemeinsam einsam, aber nicht in der sonst in dieser Phrase liegenden defä­tis­ti­schen Mutlo­sig­keit. Im Gegenteil, es ist der wilde, unbe­re­chen­bare Mut, der hier über allem steht und die Charak­ter­ent­wick­lung voran­treibt.

Diese charak­ter­liche Eman­zi­pa­tion innerhalb einer Alt-Jung-Dyade ist natürlich nicht wirklich neu, doch meist waren und sind es im Film wie im Leben die älteren Männer, die mit jungen Frauen neue Grenzen fixiert haben. Eine der wenigen Ausnahmen ist der erst zehn Jahre nach seinem Erscheinen zum Kult-Klassiker avan­cierte Hal Ashby-Film Harold and Maude (1971), in dem sich der 20-jährige Harold auf die 79-jährige Maude einlässt und nicht nur die erste Liebe, sondern ein neues Leben erfährt.

Nicht viel anders ergeht es auch Adrian, dessen klein­kri­mi­nelle Energien durch die Beziehung zu Anna ein neues Gewand erhalten. Mit dieser Trans­for­ma­tion verändert sich auch der Film, nimmt Krebitz Anleihen aus der Nouvelle Vague auf, werden Ziga­retten so cool wie damals geraucht, erlauben sich Kamera und Montage immer wieder aufre­gende Kapriolen, dürfen wir uns bei den Flucht­mo­menten an Klassiker wie Außer Atem erinnert fühlen und wird Adrian plötzlich ganz zum jungen Tom Ripley Patricia Highs­miths, so wie er 1960 von Alain Delon in René Cléments Nur die Sonne war Zeuge verkör­pert wurde.

Doch im gleichen Moment entzieht sich Krebitz diesen Motiven, Anleihen und Zitaten und eman­zi­piert sich genauso, wie ihre Prot­ago­nisten sich eman­zi­pieren und zu neuen Menschen werden. Das funk­tio­niert nicht nur über unge­wöhn­liche Dialoge und Narrative, etwa die Rahmen­hand­lung des Verhörs mit einem fran­zö­si­schen Poli­zisten, sondern auch über Neben­dar­steller wie Udo Kier als Haus­be­sitzer Michel, der mit wenig Worten die psychisch labile Anna zu erden und damit gleich­zeitig mit spär­lichsten Andeu­tungen ganze Lebens­li­nien nach­zu­zeichnen vermag.

Und dann ist da natürlich die völlig umwer­fende Sophie Rois selbst, die in dieser »Alters­rolle«, in diesem Psycho­gramm aus Schwäche und Stärke, Aufgabe und Selbst­er­mäch­ti­gung eine schau­spie­le­ri­sche Komple­xität bietet, die sich durchaus an Isabelle Huppert in vergleich­baren Rollen wie etwa dem ebenfalls auf der dies­jäh­rigen Berline gezeigten À propos de Joan von Laurent Larivière messen kann.

Dass Krebitz' Film trotz all dieser Stärken und einer nicht nur im deutschen Film so seltenen »Ungleich­be­zie­hung«, die so jugend­lich, frisch und unver­braucht daher­kommt wie die jugend­liche Liebe in dem zeit­gleich anlau­fenden Press Play and Love Again, auf der Berlinale völlig leer ausge­gangen ist, ist gerade im Vergleich mit dem beton-mora­li­schen Berlinale-Sieger Andreas Dresen und seinem Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush fast schon ein Skandal. Umso schöner ist es daher, dass Krebitz' Film, der neben allem was er ist, auch ein wunder­schöner Sommer­lie­bes­film ist, nun ausge­rechnet im Sommer in die deutschen Kinos kommt.