1000 Arten Regen zu beschreiben

Deutschland 2017 · 91 min. · FSK: ab 12
Regie: Isa Prahl
Drehbuch:
Kamera: Andreas Köhler
Darsteller: Bibiana Beglau, Bjarne Mädel, Emma Bading, Louis Hofmann, Janina Fautz u.a.
Belagerungszustand Familie

Coming of Age als Locked-in-Syndrom

Kaum ein Alter ist so schwierig zu begreifen wie die Pubertät, und noch schlimmer wird es, wenn es in die Ziel­ge­raden geht, und man jetzt also erwachsen sein soll. Achtzehn. Die junge Filme­ma­cherin Isa Prahl hat sich dieser kompli­zierten Stim­mungs­lage in ihrem beach­tens­werten Filmdebüt ange­nommen. »1000 Arten, den Regen zu beschreiben« ist ihre poetische Formu­lie­rung für diesen Zustand, der zwar wolken­ver­hangen, aber trotzdem nicht eindeutig ist, und hat ihren Film auch gleich so genannt.

1000 Arten Regen zu beschreiben zeigt uns eine Familie, die ausein­an­der­fällt, obgleich sie doch etwas hat, was sie zusam­men­schweißt: ein schwarzes Schaf, ein Problem im Inneren ihres Kerns. Mike wird achtzehn, zu seinem Geburtstag steht die Familie inklusive puber­tie­render Schwester zusammen und singt. Der Kuchen hat brennende Kerzen, alles, wie es sein soll. Nur dass sie während des Ständ­chens vor verschlos­sener Zimmertür stehen. Mike sitzt in seiner Bude und kommt nicht raus.

Prahl macht durch solche Szenen prägnant begreifbar, wie eine Familie an ihre Grenzen stößt. Die Tür zum Kind verschließt sich hier buchs­täb­lich in dem Maße, wie es erwachsen wird, ein schmerz­volles Verlieren, aber auch ein Verlust des inneren Zentrums: Wir erleben im Verlauf des Films, wie die Familie zunehmend in dysfunk­tio­nale Gefilde abdreht. Schwester Miriam (Emma Bading) fühlt sich von ihrem großen Bruder in Stich gelassen, dabei bräuchte sie ihn gerade jetzt so dringend, als Beschützer viel­leicht, auf jeden Fall als jemandem, bei dem sie sich im Vertrauen auch mal ausheulen könnte. Als Gegen­mittel stürzt sie sich in zwei­fel­hafte Abenteuer, als könnte sie stark machen, was sie nicht umbringt.

Auch die Mutter und den Vater nimmt Prahl in den Blick, geschickt insze­niert sie das gesamte Fami­li­en­en­semble. Sehr einfühlsam gelingt ihr dies in der Geschichte der Mutter, die von Bibiana Beglau mit der charak­te­ris­ti­schen kerzen­ge­raden Kopf­hal­tung kongenial verkör­pert wird. Mit stoischer Stärke nimmt sie Tuch­füh­lung zu einem Freund des Sohnes auf, den sie als Ersatz­sohn bemuttert. Als der sich als Ersatz­mann anbietet (aus einem Miss­ver­s­tändnis heraus? Hat sie es heraus­ge­for­dert?), mani­fes­tiert sich der umge­kehrte und familiär ausge­la­gerte Ödipus­kom­plex, der jedoch als voll­kommen natür­liche Entwick­lung aus der vertrackten Fami­li­en­si­tua­tion heraus insze­niert wird.

Der Vater steht dagegen auf verlo­renem Posten. Die Vater-Sohn-Ebene zeigt Isabelle Prahl empa­thisch als das eigent­liche Minenfeld, indem die größten Emotionen ausge­tragen werden. Bjarne Mädel spielt Mikes über­for­derten Vater mit großer Aufrich­tig­keit. Dabei wird es immer wieder auch sehr unan­ge­nehm. Der Vater brüllt, hämmert an die Tür, verbrennt das Skatebord des Sohns in einem verzwei­felten Autodafé. Alles Provo­ka­tionen, die Mike aus seinem Zimmer locken sollen, ihn wütend zu machen, eine Reaktion zu erhalten. Wie die Freundin der Schwester, die auf dem Balkon vor der herun­ter­ge­las­senen Jalousie des Bruder ihr T-Shirt hoch­schiebt und die Brüste zeigt.

Immer wieder gibt es auch Hoffnung, Licht­streifen im Türspalt. Die »1000 Arten, den Regen zu beschreiben« sind unde­chif­frier­bare Botschaften von Mike, die er ab und zu auf einem Zettel unter der Tür hindurch­schiebt. Da steht dann der aktuelle Regen­wet­ter­be­richt drauf. Prahl greift dies aber auch als Bildidee auf, wenn sie alle Fami­li­en­mit­glieder auch mal im Regen nass werden lässt. Der Film lebt insgesamt so auch von den starken, aber nicht über­be­tonten Bildern und von der unauf­dring­li­chen Symbolik offen­ste­hender oder eben verschlos­sener Türen.

1000 Arten Regen zu beschreiben macht begreifbar, wie stark die »Norm­ab­wei­chung« eines Fami­li­en­mit­glieds – sei es wie hier sich abson­dernd im Zimmer, sei es als psych­ia­tri­sche Krankheit oder Depres­sion – eine ganze Familie in Atem halten kann. Sie läuft Gefahr, darüber selbst immer neuro­ti­scher zu werden, bis sie schließ­lich ausein­an­der­fällt. »Regen, der auf Haut fällt, ist der schönste Regen«, schreibt die Schwester an Mike zurück. Um das zu erleben, müsste er aus seinem Zimmer kommen.