11.06.1998

»Ich hasse die Mittelklasse«

Frau im Waschsalon

Ein Interview mit Masashi Yamamoto zu Junk Food

Erst letzte Woche haben wir an dieser Stelle das Werk­statt­kino in höchsten Tönen gelobt – besonders ob seiner vorbild­li­chen Programm­ge­stal­tung. Und schon beweist es wieder einmal aufs Neue, wie hoch­ver­dient dieses Lob war:
Vom 12. bis zum 28.Juni 98 heißt das Motto »New Japanese Cult Cinema«. Und das bedeutet: Es gibt mächtig was auf Augen und Ohren. Denn seit knapp 20 Jahren darf das unab­hän­gige japa­ni­sche Kino für sich in Anspruch nehmen, zu den aufre­gendsten und inno­va­tivsten der Welt zu gehören.
Vom hart­ge­sot­tenen, dreckigen Biker-Klassiker Crazy Thunder Road über den abartigen Anime Girl In the Freak Show und den Cyperpunk-Alptraum Tetsuo – The Iron Man bis hin zum surrealen Körper­fan­tasie-Schlacht­fest Organ streckt sich die Palette. Heftiges Guerrilla-Kino, voller Kraft und Poesie, für alle Entde­ckungs­freu­digen, die es zu schätzen wissen, wenn Filme tief verstören und Nerven bloßlegen.
Zwei Werke von Masashi Yamamoto werden im Rahmen dieser Reihe zu sehen sein, Carnival in the Night und Junk Food. Letzteren hat der werte Kollege Suchsland bereits auf der Berlinale gesehen und war so schwer beein­druckt, daß er seither jedem erzählt, daß man sich den unbedingt anschauen muß. Mein Vorschlag: Wir sind alle ganz brav und lesen nun zuerst das Interview, das Herr Suchsland mit Masashi Yamamoto geführt hat, und dann befolgen wir seinen Rat und gehen auf kürzestem Weg ins Werk­statt­kino.
Domo arigato.

Intro von Thomas Willmann

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Masashi Yamamoto Der 1956 geborene Regisseur ist einer der bekann­testen unab­hän­gigen Film­re­gis­seure Japans. Bereits dreimal war er mit Filmen auf der Berlinale in Berlin vertreten. Sein Film Junk Foodgehörte zu den besten Beiträgen im Programm des Inter­na­tio­nalen Forums auf der dies­jäh­rigen Berlinale. Diese Reise in die Welt von Outsidern der japa­ni­schen Gesell­schaft, von Junkies, Gangstern, Nutten und Fremd­ar­bei­tern knüpft mit ihrer Mischung aus doku­men­ta­ri­schem Realismus und eindring­li­chen, hoch­poe­ti­schen Bildern an surrea­lis­ti­sche Tradi­tionen an. Derzeit lebt Yamamoto für ein Jahr in New York.
Das Interview wurde im Februar 1998 von Rüdiger Suchsland auf der Berlinale geführt.

artechock: Worum geht es in Ihrem Film Junk Food?

Masashi Yamamoto: In drei Episoden schildert Junk Food einen Tag in der Großstadt Tokio. Es ist eine Art Ballade, die den Outcasts von Tokio gewidmet ist. Junk heißt ja auch Trash. Und das signa­li­siert mein Interesse für die Outcasts in Japan, gesell­schaft­liche Außen­seiter, die weit abseits der Welt des Mittel­klasse-Estab­lish­ments leben. Ich wollte deren extremes Leben schildern. Ande­rer­seits sind diese Extrem­zu­stände unter der Heile-Welt-Ober­fläche allge­gen­wärtig. Das beschreibe ich besonders an einer Frau­en­figur, die ein Yuppie-Leben führt, aber zugleich ein Junkie ist, und eine Mörderin. Ich hasse diese Atmo­sphäre des typischen Milieu des japa­ni­schen Yuppie-Estab­lish­ments. Und ich habe die Drogen als Mittel genommen, um die geradezu psycho­ti­schen Züge der gegen­wär­tigen japa­ni­schen Gesell­schaft darzu­stellen. In den 80ern fühlten wir uns in Japan von de Mittel­klasse erstickt. Die Charak­tere meines Films spiegeln das wieder. Sie agieren auf ihre Art die unter­drückten Seiten in der japa­ni­schen Gesell­schaft aus.

artechock: Es gibt eine enge Verbin­dung von Sex und Gewalt in ihrem Film. Manche europäi­sche Beob­achter haben den Eindruck, daß man in Japan ein grund­sätz­lich anderes Verhältnis zu diesen Themen hat. Stimmt das? Was inter­es­siert Sie an diesem Thema?

Yamamoto: Nun, Sex mögen wir alle, ich mag es, Sie mögen es, und Ihre Leser bestimmt auch. Und zur Gewalt: ich denke, daß gerade Unter­pri­vi­le­gierte, die keine Macht, und kein Geld haben, sich dafür durch Gewalt ausdrü­cken. Diese Form von Gewalt ist Selbst­ex­pres­sion, Selbst­re­presän­ta­tion. Ich glaube im Übrigen, das jede persön­liche, indi­vi­du­elle Gewalt grund­ver­schieden ist zur Gewalt von Insti­ti­tionen und Orga­ni­sa­tionen. Insti­tu­tio­na­li­sierte, orga­ni­sierte Gewalt hat nichts zu tun mit Gewalt­aus­brüchen Einzelner.

Im Allge­meinen haben die Japaner eine andere Beziehung zum Sex, als Europäer. Schauen Sie sich die japa­ni­sche Sex-Kultur an. Zur Zeit gibt es in Japan eine riesige, prospe­rie­rende Sex-Industrie. Sehr viele Menschen sind ganz geil und verrückt darauf, und sind als Kunden, Käufer oder Eigen­tümer invol­viert.
Europäer haben ein unbe­schwer­teres, kühleres Verhältnis zum Sex. Diese Differenz spiegelt einen grund­sätz­li­chen Unter­schied zwischen der west­li­chen und der japa­ni­schen Tradition wieder.

Was die Gewalt angeht, fällt es mir schwer, die japa­ni­sche Vorstel­lung von Gewalt zusam­men­zu­fassen. In meinem Film wollte ich gewohnte Darstel­lungs­formen sprengen. Mir scheint die Realität aber viel schlimmer zu sein, als meine Bilder im Film. Und um die einge­fah­renen Ansichten über die Realität zu provo­zieren, will ich immer die üblichen Grenzen von Gewalt­dar­stel­lung über­schreiten.

artechock: Ihr Film beschwört den Schau­platz der Großstadt. Sie kommen selbst aus Tokio, und leben jetzt gerade für ein Jahr in New York. Können sie etwas über Gemein­sam­keiten und Unter­schiede sagen?

Yamamoto: New York ist ja tatsäch­lich dieser melting pot. Man hat es als Fremder relativ einfach. Und es ist angenehm an der US-Gesell­schaft, daß hier die verschie­denen Gruppen einander recht leicht begegnen können.

Ande­rer­seits ist das Tokio der Gegenwart für mich sehr inter­es­sant und verlo­ckend. Die Stadt wird mehr und mehr multi-national und multi-ethnisch. Noch ist Tokio eine asia­ti­sche Stadt. Doch die Idee was Asien eigent­lich bedeutet, wird immer viel­fäl­tiger und unklarer, besonders bei der jungen Gene­ra­tion in Japan. Nehmen Sie diese Haltung, die auch für Tokio typisch ist: »Oh, es ist okay, no problem, mach, was Du willst.« Dies wird in der Jugend immer populärer.
Und darauf basierend wird Tokio immer kosmo­po­li­ti­scher. Ich weiß nicht, ob in Zukunft aus Tokio viel­leicht zum zweiten New York wird. Aber ich hoffe, daß Tokio eine kosmo­po­li­ti­sche Stadt neuen Typs wird, anders, als New York.

artechock: Wieso? Was gefällt Ihnen denn nicht an New York?

Yamamoto: Nun, alle Städte haben derzeit Probleme. Verg­li­chen mit dem New York vor zehn Jahren ist das New York von heute schreck­lich geordnet. Und zwar aus der WASP-Perspek­tive der einge­ses­senen weißen Ameri­kaner. Ich selbst lebe im East Village, das bekannt­lich sehr freizügig und viel­fältig ist. Doch auch dort ist jetzt alles sehr sauber, sehr geordnet. Das ist ein Reflex auf den ameri­ka­ni­schen Wirt­schafts­boom, und die Tatsache, daß Amerika heute eine viel konser­va­ti­vere Gesell­schaft ist. Man kann diesen Zusam­men­hang auch gut an den Inde­pen­dent-Filmen erkennen: Alle sehen aus wie Mini-Hollywood-Filme. Vor zehn Jahren war das ganz anders.

artechock: In japa­ni­schen Filmen, auch in Ihrem wird zunehmend eine Situation der Dekadenz, der Amoral und des Verbre­ches thema­ti­siert. Hier geht es ja nicht nur darum, mit diesen Themen zu unter­halten. Wie schätzen sie die gegen­wär­tige Lage in Japan ein. Ist das eine stabile Situation, oder eine instabile?

Yamamoto: Tokio und Japan als Ganzes hat ein sehr konser­va­tives Gesell­schafts­system und dieses System ist nach wie vor sehr mächtig. Viele Menschen haben Angst vorein­ander. Sie trauen sich nicht, ihren eigenen Weg zu gehen, und indi­vi­duell zu sein. Die japa­ni­sche Gesell­schaft ist nach wie vor geprägt von der Agrar­tra­di­tion und der Kultur der Reis­felder. Und im Unter­schied zur Stadt gibt es auf dem Land eine enge Verbun­den­heit zwischen den Menschen. In dieser Art von Gesell­schaft fallt es einer­seits leichter, so etwas wie Konsens und Harmonie zwischen heraus­zu­bilden. Ande­rer­seits und das ist sehr schlecht- empfindet niemand eine eigene, persön­liche Verant­wor­tung. Die Menschen teilen keine gegen­sei­tige Verant­wor­tung, sie über­lassen alles den Anderen. Diese Haltung ist weit verbreitet, und natürlich ziemlich konser­vativ.

artechock: Japan und der asia­ti­sche Raum erleben gerade eine ökono­mi­sche und soziale Krise. Kann man sagen, daß ihre Arbeiten auch ein Reflex auf diese Krise sind?

Yamamoto: Mir gefällt dieser gegen­wär­tige Wirt­schafts­boom ganz und gar nicht. Ich hoffe darauf, daß Japan wirt­schaft­lich vor die Hunde geht. Die allge­meine wirt­schaft­liche Lage in Japan, diese Banker und Büro­kraten, die immer reicher und reicher werden, und auf der anderen Seite dieje­nigen, die immer ärmer werden, das ist alles ziemlich widerlich. Und global betrachtet: vergli­chen mit den wirt­schaft­lich verwüs­teten Ländern in Afrika und Latein­ame­rika ist Japan nach wie vor geradezu in anstößiger Form Weise wohl­ha­bend.

Um ehrlich zu sein: Ich verstehe nicht, was sich da wirklich gerade in Asien ereignet. Wenn es der asia­ti­schen Wirt­schaft immer schlechter geht, wird es auch schwie­riger, Filme zu machen. Aber das ist trivial. Wir sollten in größeren wirt­schaft­li­chen Maßstäben denken. Wichtiger ist, daß es in dieser Situation riesige Unter­schiede zwischen Armen und Reichen gibt. Für manche stellt sich die Frage, wie sie überhaupt überleben sollen.

Mit dem Herzen bin ich in Asien, auch wenn ich in New York lebe. Meine Vorfahren waren Fischer aus dem Süden Japans. Ich selbst bin immer arm gewesen, und weiß, wie es ist, um sein Überleben zu kämpfen. Und ich bin mir immer bewußt, daß diese Herkunft ein Teil meiner selbst ist.

artechock: Viele gegen­wär­tige Regis­seure ziehen sich auf unpo­li­ti­sche Position zurück, und behaupten, ihr Film habe keinerlei poli­ti­sche Bedeutung. Wie ist da Ihre Position? Es scheint, daß sie jeden­falls ganz bewußt über­deut­liche nationale Symbolik meiden, wie man das bei anderen japa­ni­schen Filmen der letzten Zeit durchaus gesehen hat.

Yamamoto: Ja, ja, und früher bei Oshima, da sieht man immer nur: Flagge, Flagge, Flagge. In Junk Food gibt es eine Szene, einer der inten­sivsten Momente als der paki­sta­ni­sche Arbeiter seine japa­ni­sche Freundin tötet. Blut und Milch fließen zusammen. Es gibt die Behaup­tung mancher Kritiker darüber, nämlich, daß sich das auf die japa­ni­sche Natio­nal­flagge bezieht roter Kreis auf weißem Grund. Aber das ist eine völlige Legende, ich wollte nur einen Moment der Poesie erzeugen in der Wildheit. Nein, ich will nichts in meinem Film, das irgendwie eindeu­tige poli­ti­sche Meinungen trans­por­tiert. Denn ich denke, daß der Versuch etwas in ober­fläch­li­chen, eindeu­tigen Bildern auszu­drü­cken, allzu naiv ist. Viel­leicht war das in der Ära von Nagisa Oshima ange­messen, in den 60er und 70er Jahren. Aber heute ist das zu platt.

Ich denke aber zugleich, daß viele Filme­ma­cher, indem sie sich auf die Darstel­lung eines privaten Alltags konzen­trieren, sich nur auf ihre eigene, persön­liche Position beziehen, ohne eine größere, weiter gespannte Perspek­tive auf Alltäg­lich­keiten zu richten. Diese Sorte von Filmen ist nicht sehr kreativ. Die Regis­seure trans­for­mieren nichts, sie bejahen ganz kritiklos die Wirk­lich­keit, die sie umgibt, sie machen keinerlei Anstren­gung, eine eigene Wirk­lich­keit zu erzeugen. Darum ist die Welt in diesen Filmen so geschlossen und lang­weilig.

Tatsäch­lich sind aber indi­vi­du­elle Wirk­lich­keiten und Erleb­nis­weisen ganz verschieden. In meinen Filmen möchte ich weiterhin diese Diver­sität des Alltags wieder­spie­geln. Mir selbst erzeugen Filme immer irgend­eine roman­ti­sche Vorstel­lungen der Welt, egal ob es sich im einzelnen um eine kaputte oder eine ganz wunder­volle Welt handelt. Es ist immer ein poeti­scher Blick­winkel. Aber man kann nicht nur Filme machen, die davon erzählen, was ein Büro­an­ge­stellter nach 17 Uhr in seiner Freizeit macht, wie er in die Disco geht, und sich in ein hübsches Mädchen verliebt.

artechock: Welches Thema ist für Sie inter­es­santer: Macht oder Schönheit?

Yamamoto: Schönheit ist viel inter­es­santer. Macht ist ziemlich dämlich. Macht will ich immer zerstören. Bei Schönheit ist das ganz anders. Schönheit empfindet jeder auf eigene Weise. Ich liebe zum Beispiel die Feuer, die die Obdach­losen auf der Straße anzünden. Das finde ich sehr schön. Andere Leute fühlen sich davon erschreckt. Diese Idee spiegelt indi­vi­du­elle Empfin­dungen von Schönheit wieder, die so verschieden sind. Viele Leuten mögen Blumen sehr gern. Mich inter­es­siert das gar nicht, aber für mich ist besonders inter­es­sant, wie verschieden die Vorstel­lung der Menschen darüber ist, was schön sei.