|  | Erst letzte Woche haben wir an dieser Stelle das Werkstattkino in
	    höchsten Tönen gelobt - besonders ob seiner vorbildlichen
	    Programmgestaltung. Und schon beweist es wieder einmal aufs Neue,
	    wie hochverdient dieses Lob war:Vom 12. bis zum 28.Juni 98 heißt
	    das Motto "new japanese cult cinema". Und das bedeutet: Es gibt
	    mächtig was auf Augen und Ohren. Denn seit knapp 20 Jahren darf das
	    unabhängige japanische Kino für sich in Anspruch nehmen, zu den
	    aufregendsten und innovativsten der Welt zu gehören.
 Vom
	    hartgesottenen, dreckigen Biker-Klassiker CRAZY THUNDER ROAD über
	    den abartigen Anime GIRL IN THE FREAK SHOW und den
	    Cyperpunk-Alptraum TETSUO - THE IRON MAN bis hin zum surrealen
	    Körperfantasie-Schlachtfest ORGAN streckt sich die Palette.
	    Heftiges Guerrilla-Kino, voller Kraft und Poesie, für alle
	    Entdeckungsfreudigen, die es zu schätzen wissen, wenn Filme tief
	    verstören und Nerven bloßlegen.
 Zwei Werke von Masashi Yamamoto
	    werden im Rahmen dieser Reihe zu sehen sein, CARNIVAL OF NIGHT und
	    JUNK FOOD. Letzteren hat der werte Kollege Suchsland bereits auf
	    der Berlinale gesehen und war so schwer beeindruckt, daß er seither
	    jedem erzählt, daß man sich den unbedingt anschauen muß.
	    Mein Vorschlag: Wir sind alle ganz brav und lesen nun zuerst das
		    Interview, das Herr Suchsland mit Masashi Yamamoto geführt hat, und
	    dann befolgen wir seinen Rat und gehen auf kürzestem Weg ins
		    Werkstattkino.
 Domo arigato.
 Intro von Thomas Willmann Masashi Yamamoto Der 1956 geborene Regisseur ist
	     einer der bekanntesten unabhängigen Filmregisseure Japans. Bereits
	     dreimal war er mit Filmen auf der Berlinale in Berlin vertreten.
	     Sein Film "Junk Food" gehörte zu den besten Beiträgen im Programm
	     des Internationalen Forums auf der diesjährigen Berlinale. Diese
	     Reise in die Welt von Outsidern der japanischen Gesellschaft, von
	     Junkies, Gangstern, Nutten und Fremdarbeitern knüpft mit ihrer
	     Mischung aus dokumentarischem Realismus und eindringlichen,
	     hochpoetischen Bildern an surrealistische Traditionen an (Weitere
	     Informationen über "Junk Food" gibt es hier). Derzeit lebt
	     Yamamoto für ein Jahr in New York. Das Interview wurde im Februar
		    1998 von Rüdiger Suchsland auf der Berlinale geführt. Artechock: Worum geht es in Ihrem Film "Junk Food"?
 Yamamoto: In drei Episoden schildert "Junk Food" einen Tag in der Großstadt
	    Tokio. Es ist eine Art Ballade, die den Outcasts von Tokio gewidmet
	    ist. Junk heißt ja auch Trash. Und das signalisiert mein Interesse
	    für die Outcasts in Japan, gesellschaftliche Außenseiter, die weit
	    abseits der Welt des Mittelklasse-Establishments leben. Ich wollte
	    deren extremes Leben schildern. Andererseits sind diese
	    Extremzustände unter der Heile-Welt-Oberfläche allgegenwärtig. Das
	    beschreibe ich besonders an einer Frauenfigur, die ein Yuppie-Leben
	    führt, aber zugleich ein Junkie ist, und eine Mörderin. Ich hasse
	    diese Atmosphäre des typischen Milieu des japanischen
	    Yuppie-Establishments. Und ich habe die Drogen als Mittel genommen,
	    um die geradezu psychotischen Züge der gegenwärtigen japanischen
	    Gesellschaft darzustellen. In den 80ern fühlten wir uns in Japan
	    von de Mittelklasse erstickt. Die Charaktere meines Films spiegeln
	    das wieder. Sie agieren auf ihre Art die unterdrückten Seiten in
	    der japanischen Gesellschaft aus. 
	     Es gibt eine enge Verbindung von Sex und Gewalt in ihrem Film.
	     Manche europäische Beobachter haben den Eindruck, daß man in Japan
	     ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu diesen Themen hat. Stimmt
	     das? Was interessiert Sie an diesem Thema?
 Nun, Sex mögen wir alle, ich mag es, Sie mögen es, und Ihre Leser
	    bestimmt auch. Und zur Gewalt: ich denke, daß gerade
	    Unterprivilegierte, die keine Macht, und kein Geld haben, sich
	    dafür durch Gewalt ausdrücken. Diese Form von Gewalt ist
	    Selbstexpression, Selbstrepresäntation. Ich glaube im Übrigen, das
	    jede persönliche, individuelle Gewalt grundverschieden ist zur
	    Gewalt von Instititionen und Organisationen. Institutionalisierte,
	    organisierte Gewalt hat nichts zu tun mit Gewaltausbrüchen
	    Einzelner. Im Allgemeinen haben die Japaner eine andere
	    Beziehung zum Sex, als Europäer. Schauen Sie sich die japanische
	    Sex-Kultur an. Zur Zeit gibt es in Japan eine riesige,
	    prosperierende Sex-Industrie. Sehr viele Menschen sind ganz geil
	    und verrückt darauf, und sind als Kunden, Käufer oder Eigentümer
	    involviert.
 Europäer haben ein unbeschwerteres, kühleres
	    Verhältnis zum Sex. Diese Differenz spiegelt einen grundsätzlichen
	    Unterschied zwischen der westlichen und der japanischen Tradition
	    wieder.
 Was die Gewalt angeht, fällt es mir schwer, die
	    japanische Vorstellung von Gewalt zusammenzufassen. In meinem Film
	    wollte ich gewohnte Darstellungsformen sprengen. Mir scheint die
	    Realität aber viel schlimmer zu sein, als meine Bilder im Film. Und
	    um die eingefahrenen Ansichten über die Realität zu provozieren,
	    will ich immer die üblichen Grenzen von Gewaltdarstellung
	    überschreiten.
 
	     Ihr Film beschwört den Schauplatz der Großstadt. Sie kommen
	     selbst aus Tokio, und leben jetzt gerade für ein Jahr in New York.
	     Können sie etwas über Gemeinsamkeiten und Unterschiede sagen?
 New York ist ja tatsächlich dieser melting pot. Man hat es als
	    Fremder relativ einfach. Und es ist angenehm an der
	    US-Gesellschaft, daß hier die verschiedenen Gruppen einander recht
	    leicht begegnen können. Andererseits ist das Tokio der
	    Gegenwart für mich sehr interessant und verlockend. Die Stadt wird
	    mehr und mehr multi-national und multi-ethnisch. Noch ist Tokio
	    eine asiatische Stadt. Doch die Idee was Asien eigentlich bedeutet,
	    wird immer vielfältiger und unklarer, besonders bei der jungen
	    Generation in Japan. Nehmen Sie diese Haltung, die auch für Tokio
	    typisch ist: "Oh, es ist okay, no problem, mach, was Du willst."
	    Dies wird in der Jugend immer populärer.
 Und darauf basierend
	    wird Tokio immer kosmopolitischer. Ich weiß nicht, ob in Zukunft
	    aus Tokio vielleicht zum zweiten New York wird. Aber ich hoffe, daß
	    Tokio eine kosmopolitische Stadt neuen Typs wird, anders, als New
	    York.
 
	     Wieso? Was gefällt Ihnen denn nicht an New York?
 Nun, alle Städte haben derzeit Probleme. Verglichen mit dem New
	    York vor zehn Jahren ist das New York von heute schrecklich
	    geordnet. Und zwar aus der WASP-Perspektive der eingesessenen
	    weißen Amerikaner. Ich selbst lebe im East Village, das bekanntlich
	    sehr freizügig und vielfältig ist. Doch auch dort ist jetzt alles
	    sehr sauber, sehr geordnet. Das ist ein Reflex auf den
	    amerikanischen Wirtschaftsboom, und die Tatsache, daß Amerika heute
	    eine viel konservativere Gesellschaft ist. Man kann diesen
	    Zusammenhang auch gut an den Independent-Filmen erkennen: Alle
	    sehen aus wie Mini-Hollywood-Filme. Vor zehn Jahren war das ganz
	    anders. 
	     In japanischen Filmen, auch in Ihrem wird zunehmend eine
	     Situation der Dekadenz, der Amoral und des Verbreches
	     thematisiert. Hier geht es ja nicht nur darum, mit diesen Themen
	     zu unterhalten. Wie schätzen sie die gegenwärtige Lage in Japan
	     ein. Ist das eine stabile Situation, oder eine instabile?
 Tokio und Japan als Ganzes hat ein sehr konservatives
	    Gesellschaftssystem und dieses System ist nach wie vor sehr
	    mächtig. Viele Menschen haben Angst voreinander. Sie trauen sich
	    nicht, ihren eigenen Weg zu gehen, und individuell zu sein. Die
	    japanische Gesellschaft ist nach wie vor geprägt von der
	    Agrartradition und der Kultur der Reisfelder. Und im Unterschied
	    zur Stadt gibt es auf dem Land eine enge Verbundenheit zwischen den
	    Menschen. In dieser Art von Gesellschaft fallt es einerseits
	    leichter, so etwas wie Konsens und Harmonie zwischen
	    herauszubilden. Andererseits und das ist sehr schlecht- empfindet
	    niemand eine eigene, persönliche Verantwortung. Die Menschen teilen
	    keine gegenseitige Verantwortung, sie überlassen alles den Anderen.
	    Diese Haltung ist weit verbreitet, und natürlich ziemlich
	    konservativ.  
	     Japan und der asiatische Raum erleben gerade eine ökonomische
	     und soziale Krise. Kann man sagen, daß ihre Arbeiten auch ein
	     Reflex auf diese Krise sind?
 Mir gefällt dieser gegenwärtige Wirtschaftsboom ganz und gar
	    nicht. Ich hoffe darauf, daß Japan wirtschaftlich vor die Hunde
	    geht. Die allgemeine wirtschaftliche Lage in Japan, diese Banker
	    und Bürokraten, die immer reicher und reicher werden, und auf der
	    anderen Seite diejenigen, die immer ärmer werden, das ist alles
	    ziemlich widerlich. Und global betrachtet: verglichen mit den
	    wirtschaftlich verwüsteten Ländern in Afrika und Lateinamerika ist
	    Japan nach wie vor geradezu in anstößiger Form Weise wohlhabend.
	    Um ehrlich zu sein: Ich verstehe nicht, was sich da wirklich
	    gerade in Asien ereignet. Wenn es der asiatischen Wirtschaft immer
	    schlechter geht, wird es auch schwieriger, Filme zu machen. Aber
	    das ist trivial. Wir sollten in größeren wirtschaftlichen Maßstäben
	    denken. Wichtiger ist, daß es in dieser Situation riesige
	    Unterschiede zwischen Armen und Reichen gibt. Für manche stellt
	    sich die Frage, wie sie überhaupt überleben sollen.
 Mit dem
	    Herzen bin ich in Asien, auch wenn ich in New York lebe. Meine
	    Vorfahren waren Fischer aus dem Süden Japans. Ich selbst bin immer
	    arm gewesen, und weiß, wie es ist, um sein Überleben zu kämpfen.
	    Und ich bin mir immer bewußt, daß diese Herkunft ein Teil meiner
	    selbst ist.
 
	     Viele gegenwärtige Regisseure ziehen sich auf unpolitische
	     Position zurück, und behaupten, ihr Film habe keinerlei politische
	     Bedeutung. Wie ist da Ihre Position? Es scheint, daß sie
	     jedenfalls ganz bewußt überdeutliche nationale Symbolik meiden,
	     wie man das bei anderen japanischen Filmen der letzten Zeit
	     durchaus gesehen hat.
 Ja, ja, und früher bei Oshima, da sieht man immer nur: Flagge,
	    Flagge, Flagge. In JUNK FOOD gibt es eine Szene, einer der
	    intensivsten Momente als der pakistanische Arbeiter seine
	    japanische Freundin tötet. Blut und Milch fließen zusammen. Es gibt
	    die Behauptung mancher Kritiker darüber, nämlich, daß sich das auf
	    die japanische Nationalflagge bezieht roter Kreis auf weißem
	    Grund. Aber das ist eine völlige Legende, ich wollte nur einen
	    Moment der Poesie erzeugen in der Wildheit. Nein, ich will nichts
	    in meinem Film, das irgendwie eindeutige politische Meinungen
	    transportiert. Denn ich denke, daß der Versuch etwas in
	    oberflächlichen, eindeutigen Bildern auszudrücken, allzu naiv ist.
	    Vielleicht war das in der Ära von Nagisa Oshima angemessen, in den
	    60er und 70er Jahren. Aber heute ist das zu platt.Ich denke
	    aber zugleich, daß viele Filmemacher, indem sie sich auf die
	    Darstellung eines privaten Alltags konzentrieren, sich nur auf ihre
	    eigene, persönliche Position beziehen, ohne eine größere, weiter
	    gespannte Perspektive auf Alltäglichkeiten zu richten. Diese Sorte
	    von Filmen ist nicht sehr kreativ. Die Regisseure transformieren
	    nichts, sie bejahen ganz kritiklos die Wirklichkeit, die sie
	    umgibt, sie machen keinerlei Anstrengung, eine eigene Wirklichkeit
	    zu erzeugen. Darum ist die Welt in diesen Filmen so geschlossen und
	    langweilig.
 Tatsächlich sind aber individuelle Wirklichkeiten
	    und Erlebnisweisen ganz verschieden. In meinen Filmen möchte ich
	    weiterhin diese Diversität des Alltags wiederspiegeln. Mir selbst
	    erzeugen Filme immer irgendeine romantische Vorstellungen der Welt,
	    egal ob es sich im einzelnen um eine kaputte oder eine ganz
	    wundervolle Welt handelt. Es ist immer ein poetischer Blickwinkel.
	    Aber man kann nicht nur Filme machen, die davon erzählen, was ein
	    Büroangestellter nach 17 Uhr in seiner Freizeit macht, wie er in
	    die Disco geht, und sich in ein hübsches Mädchen verliebt.
 
	     Welches Thema ist für Sie interessanter: Macht oder Schönheit?
 Schönheit ist viel interessanter. Macht ist ziemlich dämlich.
	    Macht will ich immer zerstören. Bei Schönheit ist das ganz anders.
	    Schönheit empfindet jeder auf eigene Weise. Ich liebe zum Beispiel
	    die Feuer, die die Obdachlosen auf der Straße anzünden. Das finde
	    ich sehr schön. Andere Leute fühlen sich davon erschreckt. Diese
	    Idee spiegelt individuelle Empfindungen von Schönheit wieder, die
	    so verschieden sind. Viele Leuten mögen Blumen sehr gern. Mich
	    interessiert das gar nicht, aber für mich ist besonders
	    interessant, wie verschieden die Vorstellung der Menschen darüber
	    ist, was schön sei. |