18.03.2010

»Ich wollte keinen Film machen, der nur jammert«

Marta im Call Center
Weggetreten, und doch da
(Foto: Movienet)

Regisseur Paolo Virzì über Das ganze Leben liegt vor DirTutta la vita davanti

Marta (Isabella Ragonese) hat die größten Denker des Abend­lands studiert. Hat dafür von ihren Profes­soren sogar Umarmung und Küsschen bekommen. Aber das Abendland ist auch nicht mehr, was es mal war: Für die junge, hoch­qua­li­fi­zierte Philo­so­phie­stu­dentin hat es grad noch einen Brotjob-Platz im Call­center.
Aus dieser Ausgangs­si­tua­tion macht Tutta la vita davanti aller­dings kein zerknirschtes Sozi­al­drama, sondern eine bunte, märchen­hafte, musi­ka­li­sche, schlaue Komödie. Der Film ist eines der begeis­terndsten Hoff­nungs­zei­chen für einen dringend nötigen, frischen Wind im italie­ni­schen Kino.
Mit dem Regisseur Paolo Virzì sprach Thomas Willmann.

artechock: Wenn jemand aus einem Call­center Sie anruft, wie reagieren Sie?

Paolo Virzì: (Lacht.) Früher habe ich manchmal übel­ge­launt reagiert. Seit ich den Film gemacht habe, versuche ich mit dem Typen ein Gespräch zu führen. Wie alt sind sie? Wieviel verdienen sie in dem Job? Und die sind dann oft verwirrt. (Lacht.)

artechock: Wie kamen Sie zu dem Thema dieses Films?

Virzì: Mich haben schon immer Geschichten aus der Welt der Arbeiter inter­es­siert. Mein erster Spielfilm handelte von der Geschichte einer kleinen Familie während der Krise der Metall­in­dus­trie in einer kleinen Indus­trie­stadt in der Nähe von Livorno. Es war ein Film über das tradi­tio­nelle System der Arbeit in einer Fabrik.

Ich und mein Co-Autor Francesco Bruni fragten uns, wie sich diese Welt verändert hat. Wir begannen mit einer Recherche über die Möglich­keit der jungen Gene­ra­tion heute, einen Job zu finden. Und wir fanden eine Idee, die uns anregte, in einem Buch namens Il mondo deve sapere, geschrieben von einer jungen, gebil­deten Uni-Absol­ventin, Michaela Murgia, die in einem Call­center für ein US-Franchise-Unter­nehmen arbeitete, das Staub­sauger verkauft. Wir waren sehr geschockt von dem geschil­derten Trainings-System: Wie versucht wird, die Arbeiter jeden Morgen singen und tanzen zu lassen, wie in der japa­ni­schen Industrie der 60er. (Lacht.) Wir fanden, dass dieses System und Verhalten sehr ähnlich war wie das in gewissen Fern­seh­sen­dungen à la Big Brother, und dass diese Art der Entwür­di­gung wahr­schein­lich deswegen akzep­tiert wird, weil die jungen Männer und Frauen daran gewöhnt sind, diese Art TV-Sendungen zu schauen und sie sich selbst als Teil der Besetzung einer solchen TV-Sendung fühlen.

artechock: Kennen Sie persön­lich viele junge, best­aus­ge­bil­dete, hoch­in­tel­li­gente Menschen, die trotzdem keine Arbeit finden können?

Virzì: Ja. Das ist die Realität. Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meiner Tochter, die 20 ist. Sie studiert das selbe wie die Haupt­figur des Films, Philo­so­phie. (Lacht.)
Der Film wirkt wie ein Märchen. Aber er ist ein realis­ti­scher Albtraum. Er beruht völlig auf der Wirk­lich­keit. Jeder einzelne Satz der Chefin im Film entspricht tatsäch­lich dem, was laut Michaela Murgia ihre „Team-Leaderin“ zu den jungen Ange­stellten dort gesagt hat. Ebenso dieses System mit den Beloh­nungen und dem Applaus für die erfolg­reichsten Verkäufer – wie in einer „Big Brother“-Sendung.

artechock: Sie sagten schon: Der Film wirkt in gewisser Weise wie ein Märchen. Was ich an ihm großartig finde, ist eben der unge­wöhn­liche Tonfall.

Virzì: Der war sehr schwer zu finden. Es war mir wichtig, eine tragische Frage auf humo­ris­ti­sche Art zu erzählen. Ich wollte keinen Film machen, der nur jammert, kein poli­ti­sches Pamphlet. Ich versuchte, die apoka­lyp­ti­sche Atmo­sphäre eines histo­ri­schen Moments zu erzählen: Das Klima des Endes einer histo­ri­schen Epoche – als eine Art bitteres Musical. Wo die Leute verrückt sind. Gestresst von dem Druck, die Zukunft zu igno­rieren. Ziel des Films war, das Tragische und das Komische zu vermi­schen. Ich weiß nicht, ob es eine Komödie ist – es ist wohl eine dunkle Komödie.

artechock: Der Film scheint mir sehr wahr­haftig, ohne „realis­tisch“ im ästhe­ti­schen Sinne des Neo-Realismus zu sein...

Virzì: Er ist neo-neo-realis­tisch. (Lacht.) Das System, von dem wir erzählen, von der Arbeit und dem Training, basiert auf realer Recherche. Aber der Erzähl­stil ist anders – wir benutzen Weit­win­kel­ob­jek­tive, wie die Kamera bei Terry Gilliam, um diese Geschichte nicht im Stil einer Doku­men­ta­tion sondern im expres­sio­nis­ti­schen Stil eines großen, tragi­schen Märchens zu erzählen.

artechock: Auch die Rollen­ver­tei­lung von Helden und Böse­wichte ist keines­wegs eindeutig. Ich denke, im italie­ni­schen Kino vor zwei Gene­ra­tionen wäre der Typ von der Gewerk­schaft immer der klare Held gewesen.

Virzì: Ja. Es gibt keine Helden. Das italie­ni­sche Plakat des Films war eine Art lustige Repro­duk­tion eines berühmten Gemäldes namens „Il quarto stato“(„Der vierte Stand“) von Pellizza da Volpedo – das ein Symbol der tradi­tio­nellen Arbei­ter­klasse war. Wir haben versucht, dieses Gemälde zu parodieren. Indem wir da diese jungen Manager mit ihren pinken Krawatten rein­ge­macht haben, die Chefs und die Arbeiter zusammen – als wären sie dieselben Opfer des Systems. Selbst der Chef des Call­cen­ters im Film, Claudio, ist ein weiteres Opfer. Ich kann in einer solchen Situation nicht die Guten und die Bösen erkennen, denn sie sind alle Opfer.

artechock: Aber wenn es keine Helden gibt, gibt es auch keine klare Lösung des Problems, oder?

Virzì: Natürlich. (Lacht.) Ich weiß keine. Das gehört zur Atmo­sphäre dieses Moments, dass es nur die Angst vor der Zukunft gibt.
Wir müssen das System ändern, die Art des Konsu­mie­rens und Produ­zie­rens. Aber das ist eine sehr schwere Frage für einen armen, kleinen Filme­ma­cher, der einfach nur Geschichten erzählt. (Lacht.)

artechock: Marta hat im Film ihre Theorien darüber, was Heidegger über Big Brother gesagt hat. Was, glauben Sie, hätte er wirklich davon gehalten?

Virzì: (Lacht.) Das war nur so eine Art Witz. Marta ist eine junge Philo­so­phin, und sie trans­for­miert das, was sie erlebt, in einer Art Metapher. Uns hat die Vorstel­lung Spaß gemacht, dass die Autorin einer Arbeit über „Heidegger und Arendt“ an Big Brother und dem Call­center-System inter­es­siert wäre, um etwas über das SEIN zu sagen.

artechock: Aber irgendwie sagt das ja tatsäch­lich etwas Wesent­li­ches über zumindest unser heutiges Dasein aus – wie Ihr Film ja beweist...

Virzì: In gewisser Weise ist die Philo­so­phie nützlich für Marta, um sich selbst zu schützen. Sie ist stärker als etwas Sonia, ihre Mitbe­woh­nerin. Weil sie gebildet ist. Sie kann ihre dialek­ti­schen Fähig­keiten anwenden und das, was sie sieht, in eine Art plato­ni­sches Gleichnis verwan­deln. Wenn der Film etwas nahelegen will, dann dass huma­nis­ti­sche Kultur nützlich ist. (Lacht.)

artechock: Wie war die Reaktion in Italien?

Virzì: Ziemlich gut. Der Film hat eine große Diskus­sion ange­stoßen, auch politisch. Er lief ganz gut an den Kino­kassen. Ich habe viele Preise bekommen. (Lacht.) Manche waren auch reichlich sauer – die Chefs vieler Call­center etwa versuchten, mich ins Gefängnis zu bringen. (Lacht.)

artechock: Wurden Sie verklagt?

Virzì: Nein. (Lacht.) Ich wurde in Zeitungen ange­griffen. Die Manager von Vodafone behaup­teten, ich würde nicht die Wahrheit zeigen. (Lacht.) Nach dem Film haben auch Ange­stellte eines Call­cen­ters einen Prozess gegen ihren Arbeit­geber gewonnen. Darauf waren wir sehr stolz.

artechock: Am Ende des Films steht eine Utopie: Drei Gene­ra­tionen vereint am Esstisch.

Virzì: Ja, die Vorstel­lung einer Art von Soli­da­rität unter Frauen verschie­dener Gene­ra­tionen: Ein kleines Mädchen, das von der Philo­so­phie als eine Art Märchen­er­zäh­lung träumt; eine junge, gebildete Frau; eine junge Mutter die keine Ahnung hat, wie ihre Zukunft aussieht, und eine alte Dame, verzwei­felt wegen des Verlusts ihres Neffen, zusammen an einem Tisch mit Grill­hühn­chen, die ein Doris Day-Lied singen. (Lacht.)

artechock: Wo wir grade von Frauen sprechen: Wie haben Sie die wunder­bare Isabella Ragonese gefunden?

Virzì: Durch eine ganze Menge Vorspre­chen. Wir haben hunderte junge Schau­spie­le­rinnen gesehen. Ich wollte ein Mädchen mit einem normalen Gesicht. Sie sollte nicht berühmt sein. Ich habe dann diese junge sizi­lia­ni­sche Schau­spie­lerin gefunden, die zuvor im Kino nur eine kleine Rolle gespielt hatte in Nuovo­mondo von Emanuele Crialese – ein sehr schöner Film über italie­ni­sche Immi­granten in Amerika. Dann hat sie schließ­lich vorge­spro­chen, und sie war für mich die leib­haf­tige Figur.
Der andere Teil der Besetzung ist in Italien ziemlich bekannt: Sabrina Ferilli, die die Team­chefin Daniela spielt, Massimo Ghini als Claudio, Valerio Mastandrea, Elio Germano – mit denen hatte ich in meinen vorhe­rigen Filmen zusam­men­ge­ar­beitet. Und ich entdeckte auch Micaela Ramaz­zotti, die junge Schau­spie­lerin, die Sonia spielt. Sie war eine Fernseh-Schau­spie­lerin, jetzt spielt sie viel im Kino.
Ich liebe diese Besetzung. Ich habe sogar eine von ihnen gehei­ratet! (Lacht.)

artechock: Wen?

Virzì: Micaela. (Lacht.) Ich liebe sie also auch... (Lacht.)

artechock: Ganz offen­sicht­lich! Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.