18.10.2018

Lieber Bauer als Laden­be­sitzer

Slamet Rahardjo
»Die Seele einer Nation interessiert auch die übrige Welt, Kopien mag auf Dauer keiner sehen.« – Slamet Rahardjo
(Foto: Axel Timo Purr)

Der indonesische Regisseur, Schauspieler, Produzent und Drehbuchautor Slamet Rahardjo über die religiösen Spannungen in Indonesien, die Seelenlosigkeit des indonesischen Mainstream-Films und die erfolgreiche Strategie, mit der Initiative „Apresiasi FILM Indonesia“ den indonesischen Autoren-Film wiederzubeleben

Das Gespräch führte Axel Timo Purr

Das indo­ne­si­sche Kino musste sich immer wieder neu erfinden und anpassen – sei es durch die Kolo­ni­al­zeit, die japa­ni­sche Besetzung, den natio­na­lis­ti­schen Kurs nach der Unab­hän­gig­keit unter Sukarno oder der strengen Zensur unter Suhartos »New-Order«-Regime. Die nach Suharto 1998 einset­zende »Reformasi«-Bewegung belebte das einhei­mi­sche Kino signi­fi­kant; bis dahin nur schwer durch­setz­bare Themen wie Religion, Ethni­zität und Sexua­lität wurden von zahl­rei­chen Autoren­fil­mern aufge­nommen und umgesetzt. Doch der in den letzten Jahren die indo­ne­si­sche Demo­kratie immer wieder erschüt­ternde Kampf zwischen isla­mi­schen Hard­li­nern und Reformern hat auch die Euphorie des Autoren­kinos wieder gedämpft; es wurde zunehmend von skurrilen Horro­pro­duk­tionen (zu denen westliche Porno­stars als Mitwir­kende einge­laden wurden) und indo­ne­si­schen Groß­pro­duk­tionen verdrängt, die simple Komödien, Liebes­ge­schichten und histo­risch unbe­denk­liche Stoffe verfilmen.
Slamet Rahardjo (*21. Januar 1949) hat in vielen dieser Main­stream-Produk­tionen in Haupt­rollen mitge­wirkt und gilt als einer der bedeu­tendsten Schau­spieler seines Landes. Neben seiner Mitwir­kung in Film­pro­duk­tionen leitet er das legendäre »Teater Populer« in Jakarta, tritt aber auch außerhalb Indo­ne­siens auf, z. B. erst kürzlich in einer malay­ischen Adaption von Shake­speares »King Lear«, in Kuala Lumpur. Sein Wirken als Regisseur hat er nach seinem letzten Film Marsinah (2002) aufge­geben und hat statt­dessen zunehmend als Mentor junger Regis­seure gewirkt.
Rahardjo lebt in Süd-Jakarta, einer von fünf Millio­nen­städten, aus denen sich Jakarta zusam­men­setzt. Für die Fahrt aus Zentral-Jakarta in das Hotel, in dem sich Rahardjo für das Interview treffen will – knapp 20 Kilometer durch ein archi­tek­to­ni­sches Kalei­do­skop aus modernster Hoch­haus­ar­chi­tektur und immer wieder klein­s­täd­ti­schen Struk­turen, über verstopfte Stadt­straßen und ebenso völlig verstaute Auto­bahnen – braucht das Taxi mehr als zwei Stunden.

artechock: Wie überleben Sie bei diesem Verkehr hier?

Slamet Rahardjo: Ehrlich gesagt ist das Problem nicht der Verkehr, sondern die Demo­kratie hier. Wir sind nicht drauf vorbe­reitet. Freiheit bedeutet hier Gren­zen­lo­sig­keit. Damit einher geht der Bildungs­stand, der nicht mit dieser Entwick­lung gleich­zieht.

artechock: Wirkt sich das auch auf andere Bereiche aus?

Rahardjo: Natürlich. Vor allem auf den Glauben. Die Stimmung ist feind­se­liger geworden. Allein schon in Glau­bens­fragen. Und in ideo­lo­gi­schen. Die Lager sind klar verteilt: der Westen ist nicht mehr ein Modell, von dem man lernen kann, es ist eins, das man abzu­lehnen hat. Glück­li­cher­weise sind die, die am lautesten schreien, immer noch eine Minder­heit. Doch es gibt trotzdem beängs­ti­gende Entwick­lungen…

artechock: Welcher Art?

Rahardjo: Denken Sie nur an die Frau, die sich kürzlich über eine zu laute Moschee in ihrer Nach­bar­schaft beschwert hat und deshalb zu einer Gefäng­nis­strafe verur­teilt wurde….

artechock: Und über dieses viel zu hohe Strafmaß haben sich dann selbst die musli­mi­schen Führer im Land beschwert, es schade dem Ansehen des Landes usw.…

Rahardjo: Genau, was nur das stark gestörte Gleich­ge­wicht zeigt… Ich komme aus einer reli­giösen Familie, mein Großvater war eine gewich­tige religiöse Instanz, aber auch ein Javanese, dieser Graben ließ sich spielend über­brü­cken. Heute sprechen wir nur noch von arabi­schen Iden­ti­täten, Abstu­fungen des Glaubens und der Libe­ra­lität. Ein Dialog zwischen den Extremen ist jedoch sehr schwer zu bewerk­stel­ligen, was wiederum das Bildungs­di­lemma ins Spiel bringt.

Siti

Neues indo­ne­si­sches Autoren-Kino: Siti (2017)

artechock: Nicht anders als im Westen, denke ich, nur die andere Seite der gleichen Medaille. Aber gucken wir doch mal zurück. Als Sie 1991 artechock-Kollegin Christel Strobel für die Kinder-Jugend-Film Korre­spon­denz zu ihrem Film inter­viewt hat, war das alles noch nicht vorher­sehbar. Könnten Sie einen Film wie Langitku Rumahku (Der Himmel ist mein Haus, 1989), in dem es ja auch um den Graben zwischen Reich und Arm geht, auch heute wieder machen?

Rahardjo: Auf jeden Fall. Wir würden die Geldgeber finden und wir würden auch eine ähnliche Geschichte finden. Solange es Menschen gibt, wird es Reiche und Arme geben. Die Schat­tie­rungen ändern sich, nicht aber der Kern. Und gleich­zeitig sind es alles Menschen und unter­scheiden sich kaum vonein­ander. Und es ist einfach auch so, das so ein Film wieder Platz hier hätte, weil es ein Film mit einer klaren Botschaft ist. Und schon damals, unter ganz anderen Vorsätzen, ging es mir wie heute um so etwas wie die Rück­ge­win­nung unserer Identität. In den letzten Jahren sind Filme mit einer Botschaft selten geworden. Der Einfluss des südko­rea­ni­schen Films und die Macht des ameri­ka­ni­schen Kinos sind einfach unüber­sehbar und haben viel verändert. Sie reden alle nur über sich selbst, aber nicht über die anderen, nicht über die Gesell­schaft. Sie sind Indi­vi­dua­listen geworden. Diese Entwick­lung wurde natürlich auch noch einmal dadurch verstärkt, dass sich keiner an dem hier so gefähr­li­chen Thema der Religion aufreiben will. Mach bloß keinen reli­giösen Film! Sonst ergeht es dir viel­leicht wie dem vorletzten Gouver­neur von Jakarta: wegen eines mehr­deu­tigen Satzes über den Koran sitzt er jetzt zwei Jahre im Gefängnis. Das zeigt den schmalen Grad, auf dem wir uns bewegen.

artechock: Da bleibt nicht viel übrig…

Rahardjo: Mehr als man denkt. Vor kurzem habe ich einen Film über Sukarno gesehen. Tolle Kamera, super Sound, alles besser als früher. Aber inhalt­lich?

Turah

Neues indo­ne­si­sches Autoren-Kino: Turah (2014)

artechock: Warum machen Sie keine Filme mehr, warum stehen Sie statt­dessen nur noch vor der Kamera?

Rahardjo: Ich habe noch Telegram (2000) und Marsinah (2002) gemacht. Aber Marsinah war ein Problem. Ich dachte damals, wir wären schon so weit, wir wären eine neue Gesell­schaft und könnten politisch brisante Themen verkraften. Aber weit gefehlt. Einen Film über uns wollte keiner sehen. Die Wahrheit inter­es­sierte niemanden. Die Leute sagten mir: das ist alles zu grausam, das erträgt keiner. Wofür also dann Filme machen, in denen es um die Wahrheit geht? Aber gerade in den letzten Jahren tut sich wieder etwas. Gibt es wieder kleine Filme, die etwas wagen …

artechock: Also Filme abseits der Horror­filme, zu denen westliche Porno­stars einge­laden werden, Rollen zu spielen? Wie werden diese Filme produ­ziert?

Rahardjo: Privat, es gibt kaum Förderung von Seiten der Regierung oder den wirklich großen Geld­ge­bern. Es ist hier beim Filme­ma­chen wie in unserem Schul­system. Es gibt nur Ankreuz­tests, es geht nichts mehr in die Tiefe. Das ist dann der Main­stream, das ist das kopierte Kino, das ist Korea und Amerika. Aber es gibt, wie schon gesagt, neue Filme, andere Filme; Filme, die es wieder mit der Wahrheit versuchen.

artechock: Welche Filme sind das und wer zeigt sie, welche Kinos sind bereit dazu?

Rahardjo: Es gibt zunehmend privat orga­ni­sierte Film­gruppen, Idea­listen, die sich um eine Auffüh­rung kümmern, im kleinen Rahmen. Und genauso sind diese Filme auch produ­ziert. Da wird rumge­gangen und Geld gesammelt: Du bist mein Freund, Du magst doch gute Filme, also gib mir ein bisschen Geld für meinen Film. Die Gemein­schaft ist hier alles. So sind inzwi­schen schon tolle Filme entstanden. Zum Beispiel Eddie Cahyonos SITI , in dem es einfach nur um die Unfähig­keit eines Paares geht, mitein­ander zu reden. Ein anderer ist Wicaksono Wisno Legowos TURAH, und dann ist da Purba Negaras ZIARAH. Und nicht zu vergessen Kamila Andinis SEKALA NISKALA Groß­ar­tige Filme. Und diese Idea­listen, die diese Arten von Filmen machen, in Sumatra, in Jogja, in Makassar auf Sulawesi und anderswo, die sind meine Hoffnung. Es sind Filme über sie selbst. Über Makassari und Bugis. Und sie gewinnen auch Preise, Sikala Niskala hat gleich mehrere Preise gewonnen, nicht nur in Asien, sondern auch in Berlin. Und für mich bleibt immerhin noch, ihr Mentor sein zu dürfen. Es sind meine Studenten. Denn um genau diese Filme reali­sieren zu können, haben wir uns entschlossen, eine Initia­tive zu gründen, einen infor­mellen Verbund, der Workshops fürs Filme­ma­chen anbietet – „Apresiasi FILM Indonesia“. Und über die dort statt­fin­denden Workshops geben wir ihnen eine Idee, was Cine­ma­to­grafie im besten Sinne ist und sein kann. Denn mal ganz ehrlich: was wir brauchen, sind Bauern, die säen, die pflanzen, um etwas ganz Neues zu schaffen, aber nicht noch weitere Läden, die alles mögliche verkaufen.

Sekala Niskala

Neues indo­ne­si­sches Autoren-Kino: Sekala Niskala (2017)

artechock: Seit wann gibt es diese Initia­tive?

Rahardjo: Uns gibt es zwar schon seit 2012, aber seit zwei Jahren, seit das Bildungs­mi­nis­te­rium tatsäch­lich begonnen hat, uns im kleinen Rahmen zu fördern, wird es zunehmend profes­sio­nell, könnten wir auch die ersten Früchte wie die eben genannten Filme, ernten.

artechock: Also doch ein wenig Staat. Wie ist es denn zu der staat­li­chen Förderung gekommen?

Rahardjo: Na ja, der Minister für Bildung hat mich gefragt, was Sie mich gefragt haben: warum machst du keine Filme mehr? Und ich sagte: ich mache Filme, aber ich mache Filme über andere, weil ich lieber andere unter­s­tütze, um Filme zu machen, bessere Filme, als es sie im Moment gibt, Filme, die das indo­ne­si­sche Kino wieder erneuern sollen. Dabei hilft mir natürlich, dass ich einer der bekann­testen Schau­spieler im Land bin – erst kürzlich habe wieder einen dementspre­chenden Preis erhalten. Das Verrückte dabei ist, dass ich diese Ehrungen für Filme erhalte, die ich im Grunde nicht wert­schätze, damit aber gleich­zeitig Filme fördern kann, die ich wert­schätze. Und was ich an dieser Arbeit vor allem mag, ist das Infor­melle. Ich mag keine Schulen, ich mag situative Pädagogik.

artechock: Und wie konkret sehen diese pädago­gi­schen Prozesse aus?

Rahardjo: Wir kriegen eine Anfrage von film­be­geis­terten jungen Leuten und schicken dann Experten, erklären ihnen, wie eine Kamera funk­tio­niert, und wie die Beleuch­tung, wie der Sound. Das ist das eine. Und dann bieten wir Workshops an, machen wir prak­ti­sche Übungen: ich sage, geht zum Markt, redet mit Leuten, schreibt die Ergeb­nisse auf, macht daraus Material für eure Filme. Während sie also im Markt ausschwärmen, warte ich in einem Café in der Nähe, in dem wir uns nach ihren Erkun­dungen treffen und drüber reden. Wir überlegen uns, wie man eine Situation, wie etwa die Frau im Markt, deren eigene Söhne ihr das Portmonee stehlen, am besten filmisch auflöst. Ich möchte dann auch keine Synopsis, sondern sie sollen gleich in die Praxis gehen, eben diese Szene umsetzen.

artechock: Wie finan­zieren Ihre Studenten das?

Rahardjo: Sie müssen nichts dafür zahlen. Ich gebe ihnen mein Wissen weiter, so gut ich kann und wann ich kann. Ich versuche, sie an die Seele unserer Nation heran­zu­führen, an die Seele, die wir in den letzten Jahren mehr und mehr verloren haben. Denn die Seele einer Nation inter­es­siert auch die übrige Welt, Kopien mag auf Dauer keiner sehen.

artechock: Ziemlich genau das, was Netflix in seine Produk­ti­ons­ab­läufe inte­griert…

Rahardjo: Exakt. Sei kein Laden­be­sitzer, sei der Bauer, sei der Hersteller. Nur dadurch kannst du den Markt am Ende beherr­schen, so funk­tio­niert doch die Markt­wirt­schaft.

Ziarah

Neues indo­ne­si­sches Autoren-Kino: Ziarah (2017)

artechock: Ich frage mich nur, wie Sie mit diesen Filmen, die ja nicht ganz so einfach wie der Main­stream zu rezi­pieren sind, beim großen Publikum ankommen? Leiden Sie nicht auch hier an dem Dilemma, das kleine Länder wie Rumänien und die Ukraine mit ihren Film­pro­duk­tionen haben: auf den inter­na­tio­nalen Festivals gern gesehen, in den Kinos des eigenen Landes jedoch verschmäht?

Rahardjo: Ich sehe das Problem schon, aber die über das ganze Land verteilten Filmclubs helfen uns sehr. Und dann gewinnt auch die Bildung im Land eine immer größere Bedeutung, werden Hier­ar­chien mehr und mehr abgebaut. Man sehe sich nur die Schluss­ze­re­monie der gerade zu Ende gegan­genen, hier in Indo­ne­sien veran­stal­teten „Asian Games“ an. Joko Widodo, unser Präsident, umarmte dort tatsäch­lich die Sieger einiger Wett­be­werbe und übertrat damit Grenzen, die noch vor Jahren felsen­fest einge­brannt schienen. Er vermit­telte ein Bild, das wichtig ist: zusammen sind wir stark, zusammen können wir mehr erreichen, wir sind Brüder und Schwes­tern und das nach all den Jahren der Zerris­sen­heit, der Graben­kämpfe zwischen Ideo­lo­gien – man denke nur an 1965!

artechock: Sie meinen den vor einigen Jahren von Joshua Oppen­heimer in The Act of Killing und The Look of Silence doku­men­ta­risch aufge­ar­bei­teten Völker­mord an den Kommu­nisten im Land...

Slamet Rahardjo: Ja, genau, ich meine – wir waren bezüglich unserer Ideo­lo­gie­fes­tig­keit im Grunde immer sehr kreativ, gerade auch 1965. Es ist ja bekannt, wie viele und auf welche Art und Weise vermeint­liche Kommu­nisten getötet wurden, aber viel weniger, wie viele auch gerettet wurden: Ich denke da an ein Dorf auf Bali, dessen Dorf­vor­steher die Gefahr hat kommen sehen und in einer Nacht- und Nebel­ak­tion alle Dorf­be­wohner „isla­mi­siert“ hat, so dass die Häscher, als sie dann wie erwartet im Dorf eintrafen und die Listen der Partei­mit­glieder einfor­derten, keine Partei­mit­glieder der Kommu­nisten mehr vorfanden, sondern statt­dessen ein vereintes, völlig apoli­ti­sches Dörfchen. Das ist einem Fremden schwer vers­tänd­lich zu machen, diese unsere Fähigkeit, Ideo­lo­gien innerhalb von Minuten, Stunden einfach so zu verwerfen. Meine Mutter z.B. sprach Hollän­disch und kam aus einer sehr intel­lek­tu­ellen Familie. Und mein Vater stammt aus reli­giösen, staats­tra­genden Verhält­nissen, mein Großvater war nicht nur der Gouver­neur von Banten, sondern, wie vorhin schon erwähnt, auch reli­giöses Oberhaupt. Diese beiden Extreme sind auch in mir angelegt, ohne dass es zu allzu großen Konflikten deswegen käme. Ich kann genauso aus dem Koran rezi­tieren wie auch über Kunst und Literatur reden. Und beides birgt Schön­heiten, die sich gerade über die Künste ausdrü­cken lassen. Mit dem Film ist es ähnlich. Ich akzep­tiere die gute hand­werk­liche Qualität des seelen­losen Main­stream-Films und spiele dort meine Rolle, versuche aber gleich­zeitig meine bäuer­liche Aufgabe im Auge zu behalten und Keime zu fördern, die ein neues Gleich­ge­wicht schaffen. Und damit erreiche ich, so scheint es mir, fast mehr, als wenn ich weiterhin versuchen würde, meine eigenen Filme zu reali­sieren. Und wenn ich dann die jungen Leute, die ich unter­richtet habe, in Jogja, auf Sulawesi und Sumatra besuche, dann sehe ich die Saat aufgehen. Sie denken nicht mehr an ein mögliches Ziel­pu­blikum, an die Quoten, haben aber trotzdem ihre Anhänger und ihre Fans. Das Kino lebt!