25.11.1999

Der Film-Coup des Jahrhunderts

Dan Myrick und Eduardo Sanchez
Die Blair Witch- Macher: Dan Myrick und Eduardo Sanchez

Gespräch mit Daniel Myrick, einem der beiden Regisseure von The Blair Witch Project

Von Rüdiger Suchsland

Der Horror­film erlebt ein Comeback. Nach der abeb­benden Welle der Slas­her­filme setzen neuere Produk­tionen – wie Tim Burtons gerade in den USA gestar­teter Sleepy Hollow – wieder mehr auf kalten Schauder, als auf liter­weises Blut­ver­gießen.
In diese Reihe gehört auch The Blair Witch Project, ein Anti-Hollywood-Film der beiden ehema­ligen Film­hoch­schul­kol­legen Daniel Myrick und Edward Sanchez aus Florida, der an diesem Donnerstag in die deutschen Kinos kommt. Produ­ziert für die vergleichs­weise lächer­lich geringe Summe von rund 30.000 Dollar entstand eine Art ameri­ka­ni­scher Dogma-Film: Gedreht im Halb­dunkel ohne künst­li­ches Licht, mit wacke­liger Hand­ka­mera und nur drei Schau­spie­lern, die während des acht­tä­gigen Drehs über den Hand­lungs­ver­lauf im Unklaren gelassen wurden, um diesen spontan zu erleben.
Im Stil einer Doku­men­ta­tion erzählen Mayrick und Sanchez von drei Amateur­fil­mern, die einer alten Hexensage auf die Spur kommen wollen. Mit dem cinéma vérité-Anspruch der Regis­seure und der gothic-Atmo­sphäre der Bilder mischt sich viel Ursprüng­lich­keits-Romantik: Über den Fluß und in die Wälder geht es auch zurück ins Unterholz des ameri­ka­ni­schen Traums.

Wirklich inter­es­sant wird The Blair Witch Project in erster Linie durch seine modisch gestylte und außer­or­dent­lich geschickt orches­trierte Internet-Kampagne. Schon lange vor Filmstart richtete man eine eigene Website ein (www.blair­witch.com). Dort konnte man nicht nur 16 Stunden Material ansehen; diverse, pseudo-authen­ti­sche Zusatz­in­for­ma­tionen sorgten dafür, dass an den Tagen vor dem Start kaum noch einer wußte, was an The Blair Witch Project tatsäch­lich wahr und was erfunden war. Die Folge: In den ersten drei Tagen nach dem US-Start Mitte Juli spielte der Film fast 30 Millionen US-Dollar ein. Damit wurde er nicht nur der – gemessen an den Produk­ti­ons­kosten – mit weitem Abstand erfolg­reichste US-Film aller Zeiten, er übertraf sogar Star Wars: Episode Ium 19 Prozent. Und zum ersten Mal wurde der Kassen-Erfolg eines Films wesent­lich über Internet-Vermark­tung erzeugt.

artechock: Wird ihr Erfolg Hollywood verändern?

Dan Myrick: Hollywood ist ein Geis­tes­zu­stand. Man tut sich dort schwer, überhaupt Impulse von Außen aufzu­nehmen. Aber durch den Erfolg der Marke­ting­kam­pagne für The Blair Witch Project wird man sicher neu über das eigene Marketing nach­denken. Die großen Unter­nehmen haben jetzt begriffen, dass das Internet ein erfolg­rei­ches Marketing-Instru­ment sein kann, dass man mit ihm Erfolge promoten kann. In diesem Sinn haben wir Hollywood bestimmt verändert.

artechock: Das Internet ist für Ihren Erfolg haupt­ver­ant­wort­lich?

Myrick: Ja, das war die Initi­al­zün­dung. Nicht nur als Marketing-Instru­ment. Sondern auch als ein Weg, mit den poten­ti­ellen Zuschauern zu kommu­ni­zieren. Wo gibt es das sonst? Man bekommt ein Profil der poten­ti­ellen Besucher, und e-mails, die einen ermutigen, einen auffor­dern weiter­zu­ma­chen. Das motiviert. Und in Hollywood haben sie gemerkt, dass man auch mit einem Film, der nur 30.000 US-Dollars gekostet hat, richtig viel Geld machen kann. Hollywood ist eine große Maschine, die sehr schwer­fällig ist, und nicht leicht etwas wirklich Neues produ­ziert. Jetzt sind einige aufge­wacht, und reali­sieren: Oh, wir müssen nicht unbedingt 20 Millionen für einen einzigen Star ausgeben, und 80 Millionen für Effekte, um große Kassen -Erfolge zu erzielen. Unser Ansatz ist ähnlich wie der der „Dogma“-Filme: Eine Rück­wen­dung zu den Geschichten.

artechock: Hatten Sie schon vor Ihrem eigenen Film von „Dogma“ gehört?

Myrick: Ja, ich habe davon gehört, und uns hat diese Film-Philo­so­phie ermutigt. Letztlich ist diese Produk­ti­ons­weise aber aus den Verhält­nissen entstanden. Wir müssen die Zwänge des Entste­hungs­pro­zesses abschüt­teln. Hollywood ist so völlig gefangen in diesem Produk­ti­ons­prozeß, in der Herstel­lung von Effekten und in dem Starkult, dass Inhalt und Geschichte eines Films ganz in den Hinter­grund gedrängt werden. Ich denke: Kunst im Allge­meinen muß sich neu erfinden, muß von Produk­ti­ons­fragen absehen, und sich wieder mehr der Essenz zuwenden. Das Filme­ma­chen ist da keine Ausnahme.

artechock: Ist es viel­leicht – innerhalb dieser großen Maschine, wie Sie es nennen – leichter, einen 80 Millionen-Dollar-Film zu machen, als einen für 30.000?

Myrick: Genauso ist es. Darum wird es immer wieder neue Inde­pen­dent-Bewe­gungen geben. Wer vorges­tern ein Inde­pen­dent-Filmer war, ist heute ein Mini-Major-Studio. Aber immer wieder kommen neue Ausdrucks­weisen der Kunst wie wir aus dieser grassroot-Ecke und defi­nieren die Dinge neu. Wir hatten nichts zu verlieren.

artechock: Ziehen Sie jetzt selbst nach Hollywood?

Myrick: Nein, das tun wir nicht. Wie gesagt: Hollywood ist ein Geis­tes­zu­stand...

artechock: Aber Sie könnten jetzt selbst zum Mini-Major werden...

Myrick: Stimmt, das könnten wir werden, das wäre ja auch gar nicht so schlimm. Wir beiden haben in jedem Fall mehrere Dreh­bücher auf Lager, die auch ein größeres Budget erfordern würden. Aber die Geschichte kommt eindeutig zuerst. Sie muß alles andere moti­vieren, insbe­son­dere die Geld­aus­gaben.
Schauen Sie sich George Lucas an, der ist doch auf seine Art der ulti­ma­tive Inde­pen­dent-Regisseur. Er gibt 100 Millionen aus, aber seine Stories brauchen das einfach auch. Doch er macht alles so, wie er es sich vorstellt – ob man das nun mag, oder nicht. Er setzte seine persön­liche Vision um, außerhalb des Studio-Systems. Take it, or leave it – es ist sein Film. Das ist Unab­hän­gig­keit: wenn man es auf seine Art macht, dann kann einen der Rest der Welt 'mal sonstwas... Das muß man respek­tieren!

artechock: Glauben Sie, dass sich die Mehrheit Ihres Publikums darüber im Klaren ist, dass es sich um einen so extrem billigen Film handelt?

Myrick: Die Mehrheit geht sicher hinein, weil sie irgend­etwas von ihren Freunden gehört haben, weil sie einen guten Horror-Film sehen möchten, und erschreckt werden wollen. Das ist ok.

artechock: Was ist denn das Geheimnis eines guten Horror-Films?

Myrick: Es muss Ihnen Angst machen! Das Problem bei den meisten Horror-Filmen ist: Sie machen keine Angst. So ein Film wie The Haunting bringt mir gar nichts – wunder­bares Produc­tion­de­sign, aber sonst nichts. Kein Schrecken. Und Scream hat natürlich sein Publikum, die Schau­spieler sind attraktiv, aber erschre­ckend ist da gar nichts.

artechock: Als Sie anfingen, an The Blair Witch Project zu arbeiten: Was haben Sie da machen wollen?

Myrick: Naja, realis­tisch betrachtet: was konnte das schon werden, mit 30.000 Dollar auf High-8-Format?
Natürlich hatten wir große Ambi­tionen als Filme­ma­cher, und wollten unser Leben finan­zieren können. Aber realis­tisch betrachtet war unser Ziel, einen Vertrag mit dem Kabel­fern­sehen zu bekommen, und eine gute Arbeits­probe abzu­lie­fern. Die Leute sollten uns die Mytho­logie abkaufen, an der wir gestrickt hatten. Und im aller­besten Fall würden wir viel­leicht einen kleinen Arthaus-Kino­ver­leih bekommen – das waren unsere Ideen. An das, was tatsäch­lich passiert ist, haben wir nie und nimmer gedacht.
Der ganze Mythen-Hinter­grund, den wir übers Internet verbreitet haben, war Teil der Vermark­tung, und sollte die Leute neugierig machen. Er sollte den Rahmen entwi­ckeln, in dem unsere Geschichte spielt. Das hat dann aber schnell eine Eigen­dy­namik entwi­ckelt, und der Film erschien plötzlich nur noch als kleiner Teil einer großen Geschichte.
Wir benutzten das Internet nur als Medium, um die Geschichte zu entwi­ckeln. Und dann wuchs und wuchs die Seite...
Wenn man dann plötzlich 10 Millionen Seiten-Zugriffe auf der Web-Site hat, fragt man sich natürlich: Was sind das alles für Leute? Man stellt Unter­su­chungen an, wieviele dann wirklich auch ins Kino gehen. Und ziemlich viele haben das getan – wir waren wirklich sehr über­rascht.

artechock: Haben Sie die Website selbst gestaltet?

Myrick: Das Material und das Konzept stammt von uns. Auch die Werbe­kam­pagne war ursprüng­lich unsere Idee. Nachdem wir dann beim Sundance-Festival so großen Erfolg hatten, und einen Verleih bekommen haben, hat der unsere vorhan­dene Website erst einmal abge­schaltet und neu designed. Dadurch wurde das Material sinn­voller einge­setzt.

artechock: Wovon haben Sie vor The Blair Witch Project gelebt?

Myrick: Wir haben alles gemacht, von Arbeiten in einer Bar bis hin zu kleinen Hilfsjobs im Film­be­reich, ich war Cutter, Kamermann, wir beide haben Werbe­filme gemacht, dies und das – genau wie im alten Klischee: Vom Teller­wä­scher...
Als wir dann The Blair Witch Project machen wollten, haben wir ein paar kommer­zi­elle Sachen gemacht – ironi­scher­weise haben wir diese Filmchen gemacht, die in den „Planet Hollywood“-Restau­rants auf Monitoren gespielt werden. Das gab uns die finan­zi­elle Freiheit, den Film in Ruhe fertig zu machen.

artechock: Wie muß man sich die Produk­tion von Blair Witch Project vorstellen?

Myrick: Es sollte über­zeu­gend aussehen – wie ein Amateur­video eben. Es sollte vage und offen bleiben, ob da jetzt ein paar junge Spinner im Wald herum­irren, oder ob sich dort doch etwas Über­na­tür­li­ches ereignet. Wir haben vor Dreh­be­ginn fast 2000 Personen gecastet, bis wir die drei Schau­spieler gefunden haben. Wir haben ihnen etwas Geld gezahlt – wir selbst haben gar nichts verdient – dann ging es los. Der ganze Film ist völlig aus Impro­vi­sa­tionen entstanden. Für die Schau­spieler war das bestimmt sehr anstren­gend: Wir haben die Geschichte linear (also von Anfang bis Ende, ohne Zeitsprünge) gefilmt. Acht Tage lang in den Wäldern. Und die Schau­spieler haben wirklich Angst bekommen. Es gab ein paar Momente, die wir im Film nicht verwenden konnten, weil sie so echt waren, das es albern und unglaub­würdig aussah. Die Schau­spieler wußten nicht, wie lange sie da draußen im Wald sein würden. Sie wußten: Es würde etwas passieren, aber nicht was genau. Wir wollten sie unter Spannung halten, und wollten, dass es jeden Tag etwas anstren­gender würde – dass das Bedro­hungs­ge­fühl jede Nacht wachsen würde.

artechock: Wie haben Sie deren Vertrauen gewonnen?

Myrick: Die Schau­spieler wußten, dass wir ein paar gute Video gemacht hatten, wir haben Ihnen ein bißchen erzählt, und sie hatten ein Walky-Talky dabei, und wußten, dass wir um sie besorgt waren.

artechock: Sie haben in sehr kurzer Zeit sehr viel Geld verdient. Das verändert alles. Was tun Sie dafür, um „auf dem Boden“ zu bleiben?

Myrick: Es ist natürlich eine Verän­de­rung. Man wird ganz anders angeguckt. Aber Orlando ist so weit weg von Hollywood, wie es überhaupt nur möglich ist. Was uns gerettet hat, war dass wir beide wirklich keine Vorstel­lung davon hatten, was auf uns zukommen würde.
Wir haben sehr viele Angebote bekommen, und haben jetzt auch Agenten, die sich ein bißchen um uns kümmern. Aber wir selbst bleiben in Orlando. Hollywood ist sicher so etwas wie ein notwen­diges Übel. Aber das Spiel kann uns auch aussaugen. Wir wollen Inde­pend­ents sein, die Kontrolle über die Budgets unserer Filme behalten.

artechock: Stimmt es, dass Sie von The Blair Witch Project sowohl ein Prequel wie ein Sequel planen?

Myrick: Glauben Sie mir, man drängt uns sehr, nächstes Jahr eine Art zweiten Teil zu drehen.
Nein, wenn es überhaupt in den nächsten Jahren irgend­etwas zu The Blair Witch Project geben wird, dann ein Prequel, in dem die Vorge­schichte erzählt wird, die sich 1782 ereignete. Das wird dann aber ganz anders sein, als der jetzige Film. Den kann man einfach nicht nachahmen. Es wäre lächer­lich, das zu tun. Es ist, was es ist. Natürlich fällt es schwer, entspre­chende Angebote auszu­schlagen. Es ist klar, dass wir damit viel Geld verdienen könnten. Aber ich habe ein Haus, ein schönes Auto – was will ich mehr?

Ich finde es inter­es­santer, etwas zu machen, was absolut nichts mit The Blair Witch Project zu tun hat. Wenn das nicht läuft, kann ich immer noch einen zweiten Teil machen. Aber wenn das auch funk­tio­niert, sind wir in einer richtig guten Position. Das ist unsere Strategie. Wenn The Blair Witch Project nur drei Millionen verdient hätte, dann würden wir sicher jetzt Blair Witch 2 machen. Aber so können wir andere Ideen umsetzen. Es ist ein sonder­bares, merk­wür­diges Spiel aus Kommerz und Krea­ti­vität, ein bißchen wie ein Schach­spiel: Man muß die Regeln ein bißchen akzep­tieren, um sie brechen zu können.

artechock: Sie werden mit Ed Sanchez immer als Team arbeiten?

Myrick: Vorläufig schon, ja. Ich habe natürlich auch eigene Projekte. Wir ergänzen uns gegen­seitig gut. Filme­ma­chen ist Zusam­men­ar­beit.