15.05.2025

»In dem, was wir träumen, steckt Wahrheit«

Guy Maddin
Guy Maddin auf der Berlinale 2011
(Foto: Siebbi, CC BY 3.0 · Wikicommons)

Guy Maddin im Gespräch über seinen neuen Film Rumours

Von seinem Debut The Dead Father (1985) an, war Guy Maddin stets der Meister des Vergan­genen und Verdrängten. Er filmte auto­bio­gra­phisch (My Winnipeg) oder film­his­to­risch (The Forbidden Room) mytho­ma­ni­sche Fieber­träume, denen die Vergäng­lich­keit geradezu aus den Poren blubberte: Nicht einfach nur ein Spiel mit der Ästhetik von frühem Kino, Stummfilm, Schwel­len­tech­niken – sondern als hätte man seine Werke selbst nach Jahr­zehnten des Schlum­mers als frag­men­ta­ri­sche, zerschleißende Film­rollen auf dem Dachboden gefunden. Und auch narrativ liebt sein – mit unzäh­ligen essen­ti­ellen Kurz­filmen, Instal­la­tionen, Kolla­bo­ra­tionen schwer zu fassendes – Oeuvre die zerfa­sernden und wie Babuschka-Puppen inein­ander verschach­telten Geschichten.
Sein neuer Film Rumours (auf Deutsch unsäglich dämlich: Tanz der Titanen), wieder in Zusam­men­ar­beit mit dem Brüder­paar Evan & Galen Johnson entstanden, ist nun plötzlich anders. Im Stil wie im Erzählen gleicht er beinahe einem konven­tio­nellen Spielfilm – ohne konven­tio­nelles Kino zu sein. Darin schickt der Kanadier die für einen G7-Gipfel versam­melten Staats­ober­häupter auf eine hall­zu­ina­to­ri­sche Nacht-Wald­wan­de­rung in einer ins Apoka­lyp­ti­sche abdrif­tenden Welt.
Artechock sprach mit Maddin in Zürich, anläss­lich der Werkschau im dortigen Film­po­dium.

Das Gespräch führte Thomas Willmann

artechock: Für lang­jäh­rige Fans ist es erstmal ein Schock, dass Rumours nicht so aussieht, nicht so klingt wie die Guy Maddin Filme, die man kennt.

Guy Maddin: Stimmt. Nun, ich habe fast 40 Jahre damit zugebracht, Filme zu machen, die einer Ära glichen, die selbst nicht mal so lang währte – den 1920ern und frühen ‘30ern. Ich fand’s an der Zeit, mich mal was Neuem zu widmen. Außerdem schien The Forbidden Room, der 2015 rauskam, das endgültige Wort dazu. Der war ein Recycling der Geschichten verschollener Filme, gemäß der Formeln von Raymond Roussel und des Dichters John Ashbery auf seltsame Weise kombiniert, und ausagiert als Part-Talkies. Darüberhinaus brachten wir die Chemikalien der Film-Emulsion dazu, sich zu zersetzen, Schimmel anzusetzen, Blasen zu werfen... Es fühlte sich einfach so an, als wären wir da an unserem endgültigen Ziel angekommen, und es war Zeit, etwas anderes zu machen. [Das Material von The Forbidden Room kann man in dem Online-Projekt Séances aleatorisch zu neuen, nur für ihre Spieldauer existierenden Kurzfilmen rekombinieren lassen. – Anm. d. Red.]
Ich glaube aber doch, dass wir mit RUMOURS sehr ähnliche Dinge treiben – nur nicht auf visueller Ebene. Evan & Galen Johnson haben da raffinierte Sachen ausgeheckt. Sie haben mit der Sprache auf die selbe Weise gespielt, auf die wir früher mit Film-Emulsion gespielt haben. Insofern ist es in vielerlei Hinsicht das Gleiche – nur nicht fürs Auge.

artechock: In Ihren früheren Filmen war mit der starken Präsenz der Vergan­gen­heit die Idee einer Läuterung, Erlösung verbunden. Auch in Rumours werden die Figuren von der Vergan­gen­heit heim­ge­sucht – aber deutlich weniger freund­lich...

Guy Maddin: In Gestalt der Moorleichen aus der Eisenzeit? Ja. Das sind ebenfalls Stammesoberhäupter – nur, dass man in der Eisenzeit ein besseres System hatte. Wenn die Stammesoberhäupter die »Bürger« enttäuschten, wurden sie rituell geopfert. Eingeschnürt und ins Moor geworfen. Vielleicht gab’s zuvor Wahlen. Keine Ahnung. (Lacht.) Darüber haben wir nicht viel recherchiert. Aber wenn es Wahlen gab, dann hat eine Wahlniederlage nicht genügt... Die sieben reanimierten, eisenzeitlichen Moorleichen in Rumours bilden eine Art... Spiegelung über die Jahrtausende hinweg der großteils idiotischen G7-Oberhäupter jetzt. Zumindest werden die Ideologien der lebenden Staatsoberhäupter im Film nicht erwähnt. Man kann einfach annehmen, dass sie ähnlich jener aktueller G7-Teilnehmenden sind, und dass sie hauptsächlich Kriegsverbrechen ermöglichen und unterstützen, wenn sie sie nicht gleich selbst begehen.

artechock: Aber liest sich der Film nun nicht opti­mis­ti­scher, in Hinblick auf die tatsäch­li­chen Gescheh­nisse seit seiner Entste­hung? Immerhin hat man hier diese Gruppe von Freunden, die fast wie Teenager im Feri­en­lager wirken, und die alle totale G7-Nerds sind. Sie versuchen ihr Bestes.

Guy Maddin: Sie reißen sich zusammen, nicht wahr? Sie verbringen die Nacht mitein­ander, haben ein kleines Abenteuer, sind bereit einander zu tragen und sich gegen­seitig aufzu­mun­tern... Ja.
Am Anfang des Schreib­pro­zesses haben wir all diese Leute gehasst. Aber wie Ihnen die meisten Dreh­buch­schrei­benden sagen werden: Man kann seine Charak­tere nicht hassen. Man kann das Publikum sie hassen lassen – aber selbst muss man sie auf gewisse Weise lieben. Man muss sie lieben, wie sie sich selbst und unter­ein­ander lieben. Oder man muss zumindest ihre Nuancen wert­schätzen.
So nah wie mit diesen Figuren bin ich wahr­schein­lich in meinen Filmen noch nie wirklich runden Charak­teren gekommen, was auch eine Entwick­lung ist... Zuvor habe ich Stummfilm-Typen verwendet. Stumm­filme gleichen eher narra­tivem Ballett, oder Gutenacht-Geschichten. Aber wenn man mal bei einem echten Tonfilm landet, in Farbe und mit scharf­ge­stellter Optik gefilmt, dann braucht man Charak­tere.
Insofern mögen wir sie. Und im Gegensatz zu vielen Poli­ti­kern, haben sie eine wunder­bare Wandlung durch­ge­macht. Sie haben ihre Ziele geändert. Vom Schreiben einer vorläu­figen Erklärung – zu letztlich einfach nur ihrem Tod mit etwas Stolz ins Auge zu sehen. Und das bekommt man bei Poli­ti­kern nicht oft hin...

artechock: Oder bei Menschen überhaupt...

Guy Maddin: Ja, genau.

artechock: Mir scheint auch das Ende auch ambivalent. Einerseits ist es geradezu parodistisch mit der zusammengestückelten Rede und ihrem Pathos – aber da steckt auch eine Art Mut drin.

Guy Maddin: Ja – es steckt ein bisschen von jeder Figur in der Rede. In ihren Obses­sionen, Manien, ihrem deli­rie­rendem Gebrabbel. Im Verlauf des Abends sind einige von ihnen ziemlich träu­me­risch geworden, ins Irreale gedriftet. Aber in dem, was wir träumen, steckt Wahrheit. Außer man glaubt, dass Träume einen buchs­täb­lich aus der Außenwelt her heim­su­chen, sind sie nur das Unter­be­wusst­sein, das bereits vorhan­denes Zeug wieder­käut. Und es teils aus der Verdrän­gung holt. Die Leute im Film werden also ziemlich träu­me­risch, während sie ihre finalen Polit­stra­te­gien formu­lieren. Und zu dem Zeitpunkt sind sie vermut­lich so ehrlich, wie Politiker nur je waren. Einfach nur, weil sie so deli­rieren. Sie haben auch niemanden mehr als Adres­saten. Es gibt keine Öffent­lich­keit mehr.

artechock: Außer einer wich­senden Moor­leiche...

Guy Maddin: Genau. Nun, wenn es nur noch eine Wählerstimme gibt, dann muss man die gewinnen! (Lacht)

artechock: Der Film ist aber weit davon entfernt, so etwas Banales zu sein wie eine bloße Satire.

Guy Maddin: Ja – ich halte ihn nicht für eine Satire auf irgendwas. Er wurde als Satire bezeichnet, aber ich glaube nicht... Ich nehme mir immer vor, die Definition des Wortes »Satire« im Wörterbuch nachzuschauen, um zu sehen, ob das passt. Aber unsere Absicht war nicht mal, uns über irgendwen lustig zu machen. Oder ein politisches Statement abzugeben. Wir drei Regisseure sind alle ziemlich politisch – aber wir behalten unsere Meinungen in unserem Writer’s Room. Die sind nicht im Film. Sie haben es also am besten ausgedrückt, als Sie eben meinten, dass es wirkt wie Highschool-Spezln, die gemeinsam abhängen. Das sind Staatsoberhäupter als Menschen. Die Sprache, die sie benutzen, ist nur eben jene Art wunderschöner Nichtigkeit, die quasi in der Luft herumschwebt wie eine Menge schöner Seifenblasen. Die können diesen Jargon den lieben langen Tag durchziehen. Also sprechen sie auf diese Weise. Aber man sieht im Film eine Gruppe Leute geopolitische Phrasen von sich geben, während sie ihre Hintern um vier Uhr Früh durch den Wald schleppen. Das ist nicht, wo man diese Art offiziell wirkende Interaktion erwartet. Wir haben die Welt entfremdet. Und hoffen, dass das eine neue, seltsame Welt erschafft.

artechock: Sie haben bereits Ihre lang­jäh­rigen Kolla­bo­ra­teure Evan und Galen Johnson erwähnt, die den Credit für Buch und Regie mit Ihnen teilen. Es ist inter­es­sant, dass jemand mit einer solchen einzig­ar­tigen künst­le­ri­schen Hand­schrift wie Sie ständig mit Leuten kolla­bo­riert. Wie funk­tio­niert es, dass dennoch Ihr Stempel zu erkennen ist?

Guy Maddin: Ich habe von Anfang an mit Leuten zusammengearbeitet. Meine Freunde haben oft entscheidende Beiträge geleistet, die ohne Credit blieben. Mein langjähriger Freund George Toles hat vom ersten Drehbuch an oft ein Auge auf meine Skripte geworfen und Vorschläge gemacht, die ich übernommen habe. Bald haben wir dann einfach gemeinsam geschrieben, und er wurde offiziell als Co-Autor genannt. Aber ich mag es einfach, mit Leuten zusammenzuarbeiten. Ich bin nicht ganz so monoman, wie manche Leute glauben, dass ich sei. Und manche frühere Freunde glauben. Und Ex-Partnerinnen. Aber nein – ich brauche Ermutigung. Selbst in meinem Nebenprojekt, wo ich Collagen mache und sie online verkaufe, um die Miete zahlen zu können, muss ich ab und zu ein Foto von einer Collage an meine Ex-Freundin schicken. Und sie fragen: Ist das eine Collage? Sie sagt dann: Nö – wenn ich die sehe, fühl ich mich dumm. Oder: Ja, das ist eine Collage – kleb sie zusammen! Ich mag den Prozess der Zusammenarbeit. Es fühlt sich gut an. Und ich glaube, dass er auch der anderen Person ein gutes Gefühl gibt. Nicht immer. Ich bin sehr vorsichtig, wen ich mit der Bitte um eine Einschätzung behellige. Ich möchte niemand in Verlegenheit bringen. Aber bei der kleinen Handvoll Leute, die auf diesen Planeten verpflanzt wurden, um mit mir auskommen zu können... (Stutzt. Lacht.) Lassen Sie mich das anders ausdrücken! Das klingt enorm egozentrisch. Innerhalb des kleinen Zirkels von Leuten auf diesem Planeten, die mit mir auskommen, fühlen wir uns alle gut, wenn wir miteinander arbeiten.

artechock: Und wie sieht die Zusam­men­ar­beit mit drei Regis­seuren am Drehort aus?

Guy Maddin: Bei uns ist es von Projekt zu Projekt ein wenig unter­schied­lich. Bei The Forbidden Room war ich auch einer der Kame­ra­leute. Ich habe also oft Regie­an­wei­sungen gegeben während die Kamera lief – sogar den Schau­spie­lern gesagt, wo sie hingehen sollen, was sie tun oder dass sie etwas wieder­holen sollen: »Nochmal. Okay, gut, jetzt geh und nimm das Glas da drüben, und ich werde deiner Hand folgen. Okay, los! Und nochmal, und nochmal.« Deshalb schien es, als wäre ich der einzige Regisseur – aber das war ich nicht. Evan war der Co-Regisseur. Wir uns am Set zur Beratung in ein Eck verzogen, drüber geredet, wie etwas wirkte, und dann bin ich wieder los und hab weiter gedreht. Bei Rumours war Evan mehr die Person im direkten Kontakt mit dem Ensemble – weil er die Dialoge geschrieben und im Ohr hatte, wie sie klingen sollten. Wir verstehen uns immer sehr gut. Aber bei The Forbidden Room gab es einen Vorfall, wo ich einen Schau­spieler eine von Evans Dialog­zeilen sagen ließ, und für mich klang’s wunderbar. Also sagte ich: Okay, nächste Einstel­lung... Und Evan sagte: Nein, bitte, mach’s nochmal. Und der Schau­spieler sagte den Dialog nochmal genau gleich. Am Ende des Drehtages war Evan echt frus­triert. Wie sich heraus­stellte, war er mir gegenüber zu respekt­voll. Er wollte eigent­lich die Dialog­zeile genau so hören, wie er sie in seinem Kopf hatte. Aber da war es zu spät. Der Schau­spieler war schon auf dem Heimweg. Evan sagte mir den Satz vor – und es war komplett anders. Da hab ich erst kapiert, was er wollte. Und da haben wir dann abgemacht, dass wir beim Dreh für die Sachen einstehen würden, die uns jeweils wichtig waren. Und so haben wir’s seither gehalten. Das war der einzige Vorfall, den wir je hatten, wo wir eine Sache nicht gleich ange­spro­chen und sofort in Ordnung gebracht haben. Für 15 Jahre Zusam­men­ar­beit ist das nicht schlecht. Im Fall von RUMOURS waren wir zu dritt in einem Zelt mit Monitoren und schauten dem Ensemble zu. Und dann rannte Evan – weil er der Jüngste war und das Skript geschrieben hatte – durch den nächt­li­chen Wald und redete mit den Schau­spie­lern. Ich blieb einfach vor dem Monitor sitzen. Manchmal kam Cate Blanchett ins Zelt. Sie schaute sich gern nochmal an, was sie abge­lie­fert hatte. Manchmal hörte man sie zu sich selber fluchen, und dann ging sie raus und machte es – ihrer Meinung nach – besser. Mir schien es immer großartig. Ich habe gelernt, ihr keine Kompli­mente zu machen. Weil ich oft sagte: »Das war toll, Cate.« Worauf sie meinte: »Bullshit!«

artechock: Es hat also nicht die Stimmung verändert, Stars wie Blanchett und Alicia Vikander dabei zu haben?

Guy Maddin: Ich war vielleicht nicht ganz so schnoddrig und albern, wie ich gewöhnlich beim Dreh bin. Aber das lag wahrscheinlich daran, dass das Team so groß war und ich es nicht kannte. Mit einem derart großen Team hört man auch eigentlich nur die Stimme des Regieassistenten. Also sind die Teammitglieder wenigstens nicht von meiner irren Stimme heimgesucht in den Feierabend. (Lacht.) Sie hätten sonst möglicherweise die ganze Nacht davon geträumt, und mich am nächsten Tag dann schon wieder hören müssen. Das ist das Beste, was eine Regieassistenz für einen tun kann: Sie kann die Person sein, die die Crew nachts in ihren Träumen verfolgt, mit ihren unablässig geblafften Befehlen. Und der Regie diese Last abnehmen. Sobald das Ensemble eingespielt war, wussten sie einfach, was sie zu tun hatten. Und Evan stupste sie dann nur noch in eine gewisse Richtung. Die sieben Haupt-Akteure hatten alle ihren eigenen Stil. Und ebenso Alicia Vikander und Zlatko Burić. Jeder von ihnen geht sein Handwerk völlig anders an. Alicia Vikander kam mitten zur Hälfte zum Dreh dazu. Sie hat vorher nicht mal jemand getroffen. Sie erschien einfach am Set. Und hat sich richtig reingeschmissen. Ihr ging es nicht gut. Sie war schwanger, hatte furchtbare Kopfschmerzen und Fieber. Aber sie wollte unbedingt drehen. Sie hatte nicht allzu lange davor in der Serie IRMA VEP gespielt. Und liebte, wie da bereits die Proben mitgedreht wurden. Bei Rumours konnten wir die Proben nicht mitdrehen, weil es draußen so kalt war. Im Wald hatte es ein, zwei Grad. Alle trugen bei den Proben Parkas. Aber mit Alicia haben wir einfach den ersten Take perfekt in den Kasten bekommen und sind weiter zur nächsten Einstellung. Sie war wirklich selbstlos und wunderbar. Alle waren wunderbar. Wir hatten totales Glück. Denn ich habe Geschichten gehört von Schauspielern, die beim Dreh nicht miteinander klar kamen...

artechock: Den Staats­chef Ihrer Heimat Kanada im Film verkör­pert Roy Dupuis, mit dem Sie schon bei The Forbidden Room zusam­men­ge­ar­beitet haben...

Guy Maddin: Daheim in Quebec, im Franko-kana­di­schen Kino, ist er der größte Star. Wir haben die Rolle für Roy Dupuis geschrieben. Wir hörten den Dialog in seiner Stimme. Wir wussten, dass er den Dialog perfekt sprechen würde. Aber wir schickten ihm das Drehbuch – und er gab uns eine Abfuhr. Er hatte sich eigent­lich auch wirklich darauf gefreut, mit uns zu arbeiten. Aber er sagte, er hätte diese Art von Figur schon viel zu oft gespielt. Er wollte was anderes machen. So in Richtung eines auffah­renden, hitz­köp­figen, launi­schen Typen. Ich war so höflich wie ich nur konnte. Aber innerlich bin ich dabei gestorben. Weil ich mir niemand anderen vorstellen konnte... Aus Gründen der Film­fi­nan­zie­rung musste die Rolle von einem Kanadier gespielt werden. Uns fiel kein anderer kana­di­scher Schau­spieler ein – obwohl es einige wirklich gute gibt –, der diese Rolle spielen konnte. Wir dachten schon: Wir müssen die Rolle neu anlegen, umschreiben. Am nächsten Morgen rief er nochmal an. Und sagte, dass er einen Traum hatte, in dem er Sex mit einer eiszeit­li­chen Moor­leiche hatte. Und dass er dies als Zeichen nahm, dass er den Film machen sollte. (Lacht.) Das war einfach wieder ein Fall von purem Glück. Wenn mir im richtigen Leben irgendwas wirklich Arges wider­fahren ist, irgendwas wirklich Albtraum­haftes, muss ich oft gar nichts weiter deswegen tun. Ich verschließe quasi einfach meine Augen. Mache mich aufs Schlimmste gefasst. Und dann rettet mich irgendwie eine wunder­bare Wendung des Schick­sals. Und weiter geht’s! Genau so, als würde man aus einem Albtraum aufwachen. Während ich einen Albtraum erlebte, hatte Roy seinen eigenen Traum. Und wir erwachten beide – und waren am folgenden Tag viel glück­li­cher.

artechock: Hat sich durch die poli­ti­schen Entwick­lungen in den letzten Wochen verändert, was es für Sie heißt, Kanadier zu sein...?

Guy Maddin: Hat es! Wir sind für gewöhnlich nicht sonderlich patriotisch. Die ersten paar Male, als Donald Trump Witze darüber machte, uns zu annektieren, konnten die Leute das noch irgendwie abtun. Aber er hat nicht aufgehört, es zu wiederholen. Und zufällig war dann zu der Zeit ein großes Eishockey-Tournier, bei dem die USA gegen Kanada spielten. Sie haben zweimal gegeneinander gespielt. Und beim ersten Spiel haben die Kanadier die US-Nationalhymne ausgebuht. Das hat die amerikanischen Spieler so verärgert, dass sie unsere Spieler angegriffen haben. Und das hat wiederum die Kanadier verärgert. Und wir haben das Spiel verloren. Aber im Spiel um die Meisterschaft ging es wieder USA gegen Kanada. Und wir haben gewonnen. Und oh, mein Gott, hätte es sich schlimm angefühlt zu verlieren! Aber Kanadier sind es nicht gewohnt, chauvinistisch oder patriotisch zu sein. Mir hat der Sieg also nicht wirklich Freude bereitet. Es hat sich nur gut angefühlt, nicht zu verlieren. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie schlecht ich mich noch heute, zwei Monate oder so später, fühlen würde. Jedenfalls: Ja, es hat sich verändert.

artechock: Wenn man auf Ihr gesamtes Oeuvre zurückblickt, scheint mir, dass es da einen ersten Abschnitt gibt, der sehr autobiographisch ist. Beginnend mit The Dead Father und kulminierend in My Winnipeg. Dann folgt, was man vielleicht eine »Autobiographie des Kinos« nennen könnte. Die, wie Sie sagten, in The Forbidden Room gipfelt und sich erschöpft. Hat mit Bring Me The Head Of Tim Horton und diesem neuen Film vielleicht ein neuer Bogen begonnen, der politischer ist?

Guy Maddin: Ja. Tim Horton ist ein seltsamer, enigmatischer kleiner Film. Es ist ein »Hinter den Kulissen von...«- Film, der für eine Weile zu einer Installation wird. Und dann wieder zum Film. Ein Essay-Film, der sich echt gehen lässt. Aber ja, in dem wagen wir es, Meinungen zu haben. Oder um Meinungen drumherum zu reden und ein großes, meinungsförmiges Loch in der Luft zu lassen. Wir sagen nie direkt etwas. Für so wichtig halten wir uns nicht. Aber wir reden gern um Dinge herum. Freilich in der Tradition von... nun ja, wir sind nicht Chris Marker! Aber in einer Tradition, dass wir ein paar Gedanken an den Start schicken um zu schauen, wo sie hinschweben. Und uns dann auf Zehenspitzen wegschleichen. Ich könnte problemlos den Rest meines Lebens kleine Essay-Filme oder Tagebuch-Filme machen. Ich liebe dieses Format. Und ich denke, da gibt es viel Raum, hintertrieben zu sein. Wer weiß, wo sich die Filmindustrie hinbewegen wird, nachdem das Marvel Cinematic Universe die Landschaft so lang dominiert hat. Mit immer größeren und größeren Filmen. Jetzt scheinen es Videospiel-Verfilmungen zu sein. Die ich noch nicht gesehen habe. Kann sein, dass die wundervoll sind. Aber ich werde keine drehen. Mir wird nie jemand die $200 Mio. oder $300 Mio. Budget dafür geben.

artechock: Nun, Sie könnten sich ein seltsames kana­di­sches Indie-Game raus­pi­cken.

Guy Maddin: Tisch-Hockey! (Lacht.)

artechock: Es gibt auch bei Games jede Menge echt inter­es­santer Sachen in der Inde­pen­dent-Szene.

Guy Maddin: Kann gut sein. Ich war nie ein Gamer. Ich bin eine derart sucht­an­fäl­lige Person – ich bin meiner Lebtag nie erfolg­reich eine Gewohn­heit losge­worden. Ich erinnere mich, dass ich so um 1991 rum einmal für viel­leicht 20 Minuten Donkey Kong gespielt habe. Und gemerkt hab: Danach könnte ich süchtig werden! Und drum bin ich da einfach geflüchtet davor. Und hab dann die nächsten zehn Jahre damit verbracht, über Video­spiele zu lästern. Derart heftig, dass klar war, wie verfüh­re­risch sie für mich waren. So, wie man schlecht über jemand redet, den man insgeheim liebt. Evan und Galen als Millen­nials sind mit Video­spielen aufge­wachsen. Die kennen sich damit echt aus. Aber sie haben ein ziemlich gesundes Verhältnis dazu. Sie lesen trotzdem auch noch Bücher. (Lacht.) Sie hocken nicht nur rum. Evan ist 42. Und hat eben erst seinen Führer­schein gemacht. Weil er zwei Kinder hat, drum braucht er ein Auto. Aber davor sind er und Galen überall zu Fuß hin. Winnipeg ist riesig. Es wohnen dort nur 870.000 Leute. Aber es hält die Stadt nichts davon ab, sich auszu­breiten. Sie ist fast so groß wie Los Angeles. Sie geht sehr in die Fläche. Und die beiden gehen überall dort zu Fuß hin. Also sind sie echt fit. In der Hinsicht sind sie eher wie typische Europäer. Evan ist in Zürich auf die High School gegangen. Sein Vater ist ein Nukle­ar­phy­siker und hat damals hier gear­beitet. Evan hat sogar auf seiner inter­na­tio­nalen High School in der Fußball­mann­schaft gespielt, die gegen Kim Jong-uns Mann­schaft spielte. Er wusste damals nicht, dass der es war. Kim Jong-un spielte unter einem falschen Namen. Aber Evan hat das später reali­siert.

artechock: Um nochmal auf Rumours zurück zu kommen: Weshalb haben Sie sich unter allen Möglich­keiten für Deutsch­land als Schau­platz entschieden?

Guy Maddin: Ja, es hätte auch Kanada sein können. Nur dass es eben diese Moor­lei­chen gab. Es gibt auch in Kanada die Geogra­phie, die Moor­lei­chen hervor­bringt – flaches, tief­lie­gendes Land mit einem pH-Wert des Moor­was­sers, der Leichen konser­viert. Aber unsere indigenen Einwohner haben ihre Stam­mes­führer nicht hinge­met­zelt, ihnen die Penisse abge­schnitten, ihnen diese um den Hals gehängt und sie dann ins Moor geworfen. Deshalb gibt es, soweit wir wissen, keine Moor­lei­chen in Nordame­rika. Also konnte es nicht in Amerika, in Kanada spielen. Aus ähnlichen Grund schied Japan aus – da ist es zu gebirgig. Die berühm­testen Moor­lei­chen Europas stammen aus Dänemark – was keine G7 Nation ist –, aus Frank­reich, Deutsch­land, und dann noch Irland, wiederum nicht in den G7. Ich glaub, die Entschei­dung fiel recht schnell. Evan spricht Deutsch. Und in der Literatur sind wir alle Teuto­no­phile. Wir mögen deutsch­spra­chige Literatur. Auch öster­rei­chi­sche. Sachen wie Thomas Bernhard, Franz Kafka und Adalbert Stifter. Im Grunde deutsche Literatur des 19. Jahr­hun­derts. Deutsch­land zieht uns einfach an. Auch mein Film Careful (dt.: Lawinen über Tolzbad) wurde von meinen Reisen nach München inspi­riert.

artechock:Genau nach dem wollte ich noch fragen, als Münchner!

Guy Maddin: Meine ersten Reisen nach München waren um 1988 und 1990.

artechock: Ich war damals im Publikum beim Filmfest München...

Guy Maddin: Echt? Toll!

artechock: Als sie mit Archangel beim Filmfest München waren, kamen Sie etwas zu spät zum Q&A nach der Vorfüh­rung. Die Person, die mode­rierte, sagte uns, dass Sie einen Ausflug in die Berge gemacht haben und den früheren Zug zurück verpasst. Aber in späteren Inter­views haben Sie dann behauptet, Careful wäre von den Rocky Mountains inspie­riert worden, oder den Schweizer Alpen...

Guy Maddin: Ja, nein. Ich war als Kind mal in den Bergen, habe aber nur ein, zwei frag­men­ta­ri­sche Erin­ne­rungs­fetzen daran. Aber es war schon damals meine Liebe zur deutschen Literatur. Und ich hab in der Nähe des Bodensees eine Berg­wan­de­rung gemacht. Entlang des Wegs waren all diese Kruzifixe. (Spricht auf Deutsch:) »Vom Blitz getroffen.« (Lacht.) Ich fand das einfach nur toll. Sowas haben wir daheim nicht, auf der Prärie...

artechock: »Unter einem Baume vom Schicksal ereilt...«

Guy Maddin: Ja. Ich hatte einen Baum nur ein paar Meter von meiner Haustür entfernt, der letzten Sommer von einem Blitz zerstört wurde. Mann, war das laut! Jedenfalls: Diese Tradition, Kreuze entlang des Weges aufzustellen. Ich hab mich einfach darin verliebt. Das war eine eigene Welt. Ich habe den Film nicht explizit in Bayern angesiedelt. In der Tat benehmen sich die Figuren darin enorm wie Kanadier. Und der Titel Careful – Leute ermahnen, vorsichtig zu sein –, schien die Menschen in Kanada sehr anzusprechen. Das ist unser National-Charakter. Weil im Film nie konkret gesagt wird, wo er spielt, nahmen die Leute in Kanada einfach an, dass er von Kanada handelt. (Lacht.) Obwohl alle deutsche Namen haben. (Lacht.) Careful habe ich also 1991 gedreht. Inspiriert von Bad Tölz und den Bergen. Ich hatte nie zuvor wirklich Berge gesehen. Ich wusste noch nicht einmal etwas vom Genre der »Bergfilme«. Dann erklärte mir jemand, dass Bergfilme wie Western sind, lediglich in den Bergen, insofern als es da nur ungefähr fünf, sechs Grundmuster gibt. Aber das ist auf gewisse Weise sehr befreiend für Geschichtenerzähler. Also beschloss ich, einen Bergfilm zu drehen, ohne je einen gesehen zu haben. Ein bisschen wie die Figur bei Borges, die beschließt, »Don Quixote« zu schreiben, ohne den gelesen zu haben. Ich fand das eine Herausforderung! Ich werde einen Bergfilm drehen – nur nach dem Hörensagen. Das ist also extra für Ihre Münchner Leserschaft: Dieser Film wurde in München geboren.