22.09.2022

»Ich fokussiere nicht auf die nationale Filmförderung«

Die Geschichte meiner Frau
Großer gesellschaftlicher Auftritt in der Oper: Die Geschichte meiner Frau
(Foto: Alamode)

Die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi über die künstlerische Freiheit einst und heute, über Sprache im Film und gefilmten Sex. Anlass ist eine Retrospektive im Filmmuseum München

Sie spricht sehr leise und sehr bedacht, dabei ist sie eine der großen Stars des unga­ri­schen Kinos. Die Regis­seurin Ildikó Enyedi ist nach München zur Retro­spek­tive ihres Werks im Film­mu­seum gekommen, das seit Körper und Seele, mit dem sie den Goldenen Bären gewann, Furore gemacht hat. Bereits ihr Debüt hatte 1989 durch­schla­genden Erfolg, als sie mit Mein 20. Jahr­hun­dert und einer phan­tas­ti­schen Doppel­lie­bes­ge­schichte über zwei sehr ungleiche Zwillinge die Caméra d’Or in Cannes gewann. Zuletzt war von ihr Die Geschichte meiner Frau zu sehen, die Verfil­mung des Klas­si­kers von Milán Füst, der mit dem Kossuth-Preis bedacht wurde, der wich­tigsten Auszeich­nung für unga­ri­sche Literatur. Seit 2017 ist sie Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die jährlich die Oscars vergibt.

Das Gespräch führte Dunja Bialas

artechock: In Die Geschichte meiner Frau wird zu siebzig Prozent Englisch gespro­chen, auch andere europäi­sche Sprachen sind präsent, wie das Fran­zö­si­sche oder das Deutsche, aber kein Spur von Ungarisch. Folgen Sie hier ihrem Regie-Kollegen Kornél Mundruczó, der 2021 den englisch­spra­chigen Pieces of a Woman reali­sierte und seitdem in Berlin lebt?

Ildikó Enyedi: Nein. Kornél Mundruczó gehört einer anderen, jüngeren Gene­ra­tion an, die jetzt ihre Chance wahrnimmt, inter­na­tional drehen zu können. Wichtig für ihn war, mit englisch­spra­chigen, in diesem Fall ameri­ka­ni­schen Schau­spie­lern zu arbeiten. Ich habe aus Gründen einer bestimmten ästhe­ti­schen Notwen­dig­keit auf Englisch gedreht. Die Vorlage des Films, der Roman von Milàn Füst, handelt von einer fran­zö­si­schen Lady und einem hollän­di­schen Kapitän. Wenn man einen Roman schreibt, können die Figuren in egal welcher Sprache sprechen, sogar auf Suaheli, und natürlich auch auf Ungarisch. In einem Film aber sind die Figuren in Fleisch und Blut in den Schau­spie­lern vorhanden. Und dann muss man überlegen, wie Ende der 1920er Jahren eine fran­zö­si­sche Frau der Ober­schicht und ein hollän­di­scher Kapitän mitein­ander kommu­ni­ziert haben könnten. Sicher­lich würde er Fran­zö­sisch lernen wollen, aber sie Hollän­disch? Als Kapitän eines inter­na­tio­nalen Fracht­schiffs hat er damals schon mit seiner Crew auf Englisch kommu­ni­ziert.

Was wir gemacht haben, ist, sie mit einem Akzent sprechen zu lassen. Léa Seydoux spricht deutlich stärker mit fran­zö­si­schem Akzent als in ihren anderen englisch­spra­chigen Rollen. Gijs Naber spricht mit starkem hollän­di­schen Akzent. Am Anfang und Ende des Films spricht er Hollän­disch.

artechock: Sie haben aber auch ästhe­ti­sche Freiheit. Die Geschichte nach Budapest zu verlegen, hätte Ihnen erlaubt, an Ihren ersten Film anzu­knüpfen. In Mein 20. Jahr­hun­dert (1989) erzählen Sie ebenfalls eine große Liebes­ge­schichte, die aber in Ungarn spielt. Man fühlt sich beim Sehen von Die Geschichte meiner Frau jeden­falls an Ihren Debütfilm erinnert, der in Cannes gleich die Caméra d’Or gewann. Haben Sie so etwas in Erwägung gezogen?

Enyedi: Es ging mir bei der Roman­ver­fil­mung um Exaktheit. In Mein 20. Jahr­hun­dert spricht Edison auch Ungarisch. Das geht, denn ich erzähle dort ein Märchen, kein psycho­lo­gi­sches Drama zwischen echten Menschen. Der Roman von Füst dagegen zele­briert die kultu­relle Aura einer jeden Figur, bis in die Neben­fi­guren hinein. Die Natio­na­lität spiegelt sich in der erzählten Atmo­sphäre… Nehmen wir an, wir hätten eine hollän­di­sche Lady gehabt, und einen fran­zö­si­schen Kapitän. Wäre das anders gewesen? Oh ja! Die Lady hier ist nicht nur fran­zö­sisch, sie ist aus Paris. Louis Garrel, der ebenfalls mitspielt, verkör­pert nicht nur French­ness, sondern er ist ein echter Pariser, der die ganze arrogante Penetranz mitbringt, mit einem über­stei­gerten Selbst­be­wusst­sein, Teil einer reichen Kultur zu sein. Er weiß, dass der Holländer, der vom Meer kommt, davon ausge­schlossen ist.

artechock: Sie haben einmal gesagt, dass Sie bei Ihrem ersten Film Mein 20. Jahr­hun­dert die größte Freiheit in Ihrer Karriere genossen hätten. Dieser Film ist noch unter dem Sozia­lismus entstanden. Von welcher künst­le­ri­schen Freiheit haben Sie genau gespro­chen?

Enyedi: Ich war damals Teil einer inter­dis­zi­pli­nären Künst­ler­gruppe, die an den gesell­schaft­li­chen Rändern aktiv war, nicht in der offi­zi­ellen Kultur­szene. Die meisten Mitglieder waren Kunst­stu­denten, schwarze Schafe aus Sicht der Funk­ti­onäre. Mein Diplom­film wurde damals mit einem Auffüh­rungs­verbot belegt. Es war aber nicht so, dass ich kein Diplom erhielt. Das war 1984. Zwei Jahre später hat einer von den großen Figuren des unga­ri­schen Films, über den sich später heraus­stellte, dass er ein Mitar­beiter der Staats­si­cher­heit war, Suizid begangen, weil er seinen neuen Film nicht durch­be­kommen hatte. Also ich bei einer Produk­ti­ons­firma mein neues Film­pro­jekt vorstellte, hatte zuvor eine beträcht­liche Anzahl von Regie­kol­legen eine Petition unter­zeichnet, dass mein Diplom­film zumindest gezeigt werden sollte. Der Produzent sagte mir, als er mir das Geld für meinen Film gab: Wir wollen keinen weiteren Fall (wie den Selbst­mord). Wir haben dann 1988 gedreht, da war die Öffnung schon in der Luft. Sie wollten mich nicht stoppen oder hindern. Sobald man das Geld hatte, gab es einen großen Respekt vor der Auto­ren­schaft und man konnte machen, was man wollte. Es kam natürlich noch mal die Zensur­behörde, aber die echten Gate­kee­pers waren die am Anfang. Ich hatte großes Glück. Den Mythos von der künst­le­ri­schen Freiheit in dieser Epoche kann ich aber nicht teilen. Dafür kenne ich zu viele Künstler, die niemals etwas reali­sieren konnten.

artechock: Wie ist die Situation der Künstler und Filme­ma­cher heute in Ungarn?

Enyedi: Filme­ma­chen ist eine inter­na­tio­nale Tradition. Ich rate immer dazu, sich nicht auf die natio­nalen Rahmen­be­din­gungen zu fokus­sieren, weil die in die Irre oder auf falsche Wege führen können. Das kann einen ruinieren. Aktuell plane ich nicht, mich bei der natio­nalen Film­för­de­rung zu bewerben, auch wenn sie Die Geschichte meiner Frau sehr gut gefördert haben. Ich hatte aber auch inter­na­tio­nale Co-Produk­tionen, Deutsch­land mit Kompli­zen­film und eine fran­zö­si­sche Produk­tion, auch italie­ni­sche Partner, mit denen ich sehr gut zusam­men­ge­ar­beitet habe. Von ihnen bekam ich die absolute Freiheit und Unter­s­tüt­zung. Es stimmt also nicht, dass ich bei meinem ersten Film am freiesten war. Das war jetzt genauso. Es gab keinen Druck und keine Einmi­schung, noch nicht einmal die Forderung, kommer­zi­eller zu sein. Alles bin ich in dem Film.

artechock: Vor Die Geschichte meiner Frau haben Sie mit Körper und Seele den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. Der war ein groß­ar­tiges Comeback nach einer fast zwan­zig­jäh­rige Pause. Wie kam es zu dieser Schaf­fens­pause? Man liest immer von Finan­zie­rungs­schwie­rig­keiten von Film­pro­jekten.

Enyedi: Das sage ich eigent­lich nicht so gerne. Es war auch meine Schuld. Simon der Zauberer habe ich 1999 gemacht. Dann begann ich, für HBO zu arbeiten, es war 2010 oder so. Nach Simon hatte ich viele Projekte, die ich machen wollte, mit gutem Feedback, es gab keinen Grund dafür, sie fallen zu lassen, sie kamen aber trotzdem nicht zustande. Ich wurde nervös und ange­spannt und wollte die Dinge durch­drü­cken. Wenn man aber nervös wird und versucht, die Dinge zu erzwingen, verliert man leicht sein gutes Urtei­lungs­ver­mögen. Ich landete bei den falschen Produ­zenten. Und wenn man erst einmal ein Jahr mit einem Drehbuch verbracht hat und zwei Jahre damit, die Finan­zie­rung zu finden, bevor man sich sagt: Okay, ich schreibe ein neues Drehbuch, verliert man sehr schnell die Energie. Zwei Jahr­zehnte gehen schnell dahin.

artechock: In Ihrem Werk inter­es­sieren Sie sich für die Mysterien des Lebens, die Magic Moments und eine gewisse Drea­m­i­ness. Sie sind nicht sozi­al­rea­lis­tisch und erzählen keine von der Realität unter­füt­terten Geschichten. Können Sie mit dieser Beschrei­bung etwas anfangen?

Enyedi: Das Faktuale des Lebens ist sehr arbiträr. Es stimmt, dass ich einen großen krea­tio­nellen Anteil in meinem Werk habe. Ich bin nicht Teil der sozi­al­rea­lis­ti­schen Wellen oder Schulen.

artechock: Knüpfen Sie an eine bestimmte Tradition des osteu­ropäi­schen Kinos an? Oder defi­nieren Sie sich in Ihrem Stil und Ihrem ästhe­ti­schen Zugang ganz als indi­vi­du­elle Künst­lerin?

Enyedi: Ich bin ganz anders, würde ich sagen. Ich bewundere Agnès Varda zum Beispiel. Ich sehe keinen Zusam­men­hang mit dem osteu­ropäi­schen Kino, das liegt wohl im Auge des Betrach­ters.

artechock: Ihre Filmen sind oft Period Pictures mit histo­ri­schen Settings, sehr schön ausge­stattet, mit eher verträumten Figuren. Was dann immer wieder in diese gesell­schaft­li­chen Universen herein­bricht, ist das nackte Sexleben der Figuren, das in einzelnen Szenen ziemlich deutlich gezeigt wird. Das über­rascht! Und wirkt fast wie ein künst­le­ri­scher Bruch der geord­neten Welt, weil es plötzlich so körper­lich wirkt. Was ist der Grund für dieses physische, konkrete Kino inmitten des eher Äthe­ri­schen und Mysti­schen?

Enyedi: Ich bin jetzt ziemlich verwun­dert über die Frage, muss ich gestehen. Für mich persön­lich fühlen sich die Sexszenen nicht anders als der Rest an, ich kann damit gar nichts anfangen.

artechock: Wir haben zum Beispiel keine konkreten Aufnahmen über das Alltags­leben der Figuren, eher von ihrem reprä­sen­ta­tiven Leben in der Gesell­schaft, das zumindest immer im Unter­grund miter­zählt wird, durch den gesell­schaft­li­chen Status der Figuren. Geht es um Liebe? Verlassen Sie in den Sexszenen die roman­ti­sche und idea­li­sierte Vorstel­lung von Liebe zugunsten einer sehr konkreten und körper­li­chen Dimension?

Enyedi: In Die Geschichte meiner Frau gibt es eine Sexszene, die aus der Totalen, im Weit­winkel gezeigt wird, unterlegt ist Musik. Ich finde nicht, dass die sehr doku­men­ta­risch ist.

artechock: Kommen wir noch einmal auf Ihre Schau­spiel­ar­beit zurück. Wie ist die mit einem inter­na­tio­nalen Team?

Enyedi: Inter­na­tio­nale Schau­spieler kommen aus unter­schied­li­chen Tradi­tionen. Ulrich Matthes hat in Die Geschichte meiner Frau nur eine kleine Rolle, hat aber sein ganzes Herz da rein­ge­steckt. Es war eine große Freude, mit ihm zu arbeiten, ich mag Schau­spieler, die ihr Handwerk verstehen und kapieren, dass je kleiner die Rolle ist, der Schau­spieler umso besser sein muss. In einem kurzen Auftritt auf der Leinwand muss viel trans­por­tiert werden. Das Gleiche mit Udo Samel. Das hat sehr gut harmo­niert. Sie sind sehr beschei­dene, groß­ar­tige Leute und große Schau­spieler. Ich will immer Schau­spieler finden, mit denen ich fast schon verzwei­felt zusam­men­ar­beiten will. Die man unbedingt will! Mit Gijs Naber war es so. Er war stark mit Seri­en­drehs beschäf­tigt, als wir ihn enga­gierten, und wir mussten unsere Pläne an seinen Stun­den­plan anpassen. Aber auch die Serie passte sich an unsere Pläne an. Weil ich ihnen gesagt habe: He’s the guy!

artechock: Er und Léa Seydoux sind wirklich ein schönes Paar, mit großen Gegen­sätzen. Das ist eine wunder­bare Wahl.

Enyedi: Ja, sie bringen sich gegen­seitig zum Leuchten!

Retro­spek­tive Ildikó Enyedi
Film­mu­seum München
Noch bis 4. Oktober zu sehen: Der Maulwurf (1987), Winter­liebe (1997), Simon der Zauberer (1999), Körper und Seele (2017), Die Geschichte meiner Frau (2021)