Eigentlich wundert man sich, dass Bertold Brecht, der deutsche Großdramatiker, diese schillernde und kontroverse Figur nicht häufiger Gegenstand filmischer Verarbeitung war. Bemerkenswert war davon neben zahlreichen Dokumentationen nur Jan Schüttes Abschied – Brechts letzter Sommer mit Josef Bierbichler als völlig unähnlichem Brechtdarsteller mit seiner grandiosen Präsenz zwischen all seinen Geliebten an einem Brandenburger See. Und plötzlich ist eine wahre Brecht-Manie ausgebrochen mit Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm von Joachim A. Lang 2018 mit Lars Eidinger als Brecht in den Tagen der Kontroverse um eine Verfilmung der „Dreigroschenoper“, die den Dramatiker zu seiner Medientheorie anregte. Nun hat Heinrich Breloer, der vielfach preisgekrönte Erfinder einer speziellen Mischform zwischen Dokumention und fiktivem Film, der sich 2001 schon mit den „Manns“ beschäftigt hatte. Thomas Mann, dessen Buddenbrooks Breloer 2008 mit Starbesetzung ins Kino gebracht hat, hat sich an Bertold Brecht abgearbeitet. Nach einem spektakulären Auftritt mit seinen Brechtdarstellern Tom Schilling und Burghart Klaußner, sowie Adele Neuhauser als Helene Weigel schloss sich eine Kinotour und die Fernsehausstrahlung an. Breloer versucht, Brecht vom Sockel der Unnahbarkeit herunter zu holen und ihn auf ein »normales« Maß zu reduzieren, was zur besseren Verständlichkeit auch der Eskapaden des literarischen Genies beiträgt. Über seinen Blick auf Brecht, Breloers filmische Methode und die Besonderheiten seines Brecht-Films.
Das Gespräch führte Josef Schnelle.
artechock: Brecht war ja, so kommt das jedenfalls bei Ihrem Film raus, Team-Player, jemand, der jedenfalls eine Gruppe von Menschen um sich brauchte, die alle kreativ waren, um selber kreativ zu werden. Sie haben das sehr schon klar gemacht, dass das schon seine Jugend bestimmt. Auch da gibt es ja schon die Gruppen um sich herum.
Heinrich Breloer: Einer der Gesprächspartner – nicht in diesem Film zu sehen – Otto Bezold, später Staatssekretär in München, sagte zu mir: Er brauchte ein Becken um schwimmen zu können. Und wir haben ihn bewundert, aber je älter wir wurden, je mehr man wusste, ging man auch auf Distanz, und das hat er nicht gut vertragen, wenn er Menschen verloren hat, die er für seine Gruppe brauchte, nicht nur als Team-Player. Er brauchte auch die Kraft der Gruppe, vor der er sich inszenierte. Der Bezold erzählt ihm, weil er sich für Kreuzzüge interessierte, dass es Frauen gegeben hat, die haben – um die Überfahrt nach Jerusalem zu bekommen – sich als Huren verdingt für die Seefahrer, und das hat Brecht so fasziniert, über Nacht oder am nächsten Tag hat er Evelyn Roe gemacht, die berühmte Ballade von der Evelyn Roe, die tanzt und tanzt und mit den Seeleuten bumst und dann wird sie über Bord geworfen und »dann vergaß sie der liebe Gott und allmählich löste sie sich auf«, und der Teufel wollt sie nicht haben und Petrus wollt sie nicht haben. Da waren die fasziniert, wie der das machte, aber das wurde auch ihm zugetragen so wie später die „Dreigroschenoper“. Elisabeth Hauptmann konnte Englisch, die las die englischen Zeitungen. Es war „ensuite“ in London gelaufen. Ein Hit. Und sie ahnte schon das Brecht das interessieren könnte. Sie wusste es schon. Und dann hat sie ihm das untergeschoben. Und im selben Moment kam ein Konnex. Und sie, die Klavier spielen konnte – sie war Konzertpianistin – konnte die Szenen schreiben und entwickeln, und sie hat sicher einen hohen Anteil an dem Stück gehabt. Da sieht man wieder, was hingetragen wurde und was er daraus macht und sich dann den Weil dazu holt, ganz ehrlich, ohne Weils Musik ist das Quatsch, natürlich.
artechock: Oft, wenn von Brecht geredet wird, geht’s darum, dass er seine Mitarbeiter, insbesondere die Frauen ausgebeutet hat, intellektuell ausgebeutet hat.
Breloer: Gefühlsmäßig ja, denn sie haben ihn geliebt.
artechock: Ja, da musste ich sofort dran denken. Ich habe vor wenigen Wochen mit Volker Schlöndorff über Baal geredet, und dann ist er ins begeisternde Reden gekommen, als er von Fassbinder in Baal erzählte und der Fassbinder ist ja genau so ein Typ gewesen. Fassbinder hatte eine „Family“, Brecht hatte auch eine „Family“.
Breloer: Das ist durchaus vorstellbar, dass er gesehen hat, dass Brecht auch so eine geniale Kraft hatte, die sich auf die Gruppe verströmte, aber die auch energiefressend war. Man kann sich Fassbinder nicht vorstellen, wie er sich ein Team suchen muss oder von einem Produzenten, den Kameramann, den Tonmann, die Schauspieler muss er jetzt zusammen führen zu einem Team. Das hätte er nicht gemacht. Das war ja gerade für ihn immer der geniale Einfall der Besetzung. Das war die halbe Miete bei Fassbinder, bis er dann die Kamera allmählich lernte. Der hat ja überhaupt von Film zu Film gelernt, eine Kamera zu bewegen. Am Ende mit einem Dolly. Am Anfang Schuss – Gegenschuss: Katzelmacher. Wie Theater. Man konnte das beobachten, wie er immer schlauer wurde, was uns allen passiert, wenn wir auf keiner Filmhochschule waren. Das wir das Handwerk lernen und dann natürlich sie beweglich machen. Und das war natürlich eine ganz ähnliche Nummer, wie er dann in wenigen Jahren ganz berühmt werden konnte. Das Theater. Gut. Das war auch damals natürlich eine andere Veranstaltung als heute. Bei Fassbinder war eine große Härte drin. Brecht war doch noch mehr Bürgertum. Er konnte sehr zärtlich sein, freundlich sein. Er konnte aber auch ausrasten. In der Doku hört man ihn. Da hab ich mehr diese Stimme drin: »Reck, haben Sie sich was ausgedacht? Sie sollten sich doch was ausdenken. Nichts? Hinaus!« Jemand sagte: So hab ich noch nie jemand schreien hören: »Im Westen Sahnetorte fressen. Das geht nicht.« Und die Weigel kam auf die Bühne: Kommen Sie, gehen Sie, gehen Sie. Und ein junger Regisseurin, die es mir erzählt hat, sagte: »Ho ho«, sagt die Weigel, »wenn einer faul ist, da ist nichts mehr zu machen. Wenn einer faul ist, nicht mitschreiben wollte: Sie schreiben nicht mit, faule Leute können wir hier nicht gebrauchen. Tut mir leid. Können wir nicht gebrauchen.« Und alle mussten mitschreiben. Das war schon so. Da war ja auch was dran: dass man das ernst nimmt, was er sagt und nichts verloren geht. Aber auch wenn was nicht funktionierte, dann konnte er losbrüllen, auch im Privatleben, wenn ihn jemand verlassen hat. Die Szene gibt’s ja auch im Film, wenn ihn einer »aus der Familie« verlassen wollte nach dem 17. Juni. Das Bürgerkind Regine Lutz. Vater Professor an der Universität für Medizin. Schreibt jede Woche Briefe. Und plötzlich sagt er: Du bleibst hier. Das geht jetzt zu weit, wenn einer geht. Da schreit der die zusammen. Das hat doch der Geschonneck erlebt, der aus der „Familie“ raus wollte für den Film in der DDR, was dann ja auch gut war. Das wollt er ihm verbieten und hat ihn angeschrien und Geschonneck erzählt: Ich hatte es aber in der Ausbildung: Ich kann lauter schreien als Sie, viel lauter. Und Brecht wurde ganz bleich, erzählt er. Geschonneck ging dann auch viel zum Film, weil er das auch haben wollte. Verlassen werden. Meine liebe Freundin Kilian sitzt zufällig mit einem hübschen großen älteren gut gewachsenen Schauspieler auf der Couch. Brecht kommt vorbei. Sie schmiert sich mit dem Soundso auf der Couch herum. Ich habe jede Achtung für sie verloren, jeder Achtung. Sowas hat mir auch Regine Lutz erzählt: Dass er dann ungerecht wurde. Wenn die Menschen von ihm gingen, die er gerade „gestaltete“, denn das war das, was vielleicht mit Fassbinder – wie Sie sagen – Ähnlichkeit hatte. Der hatte Visionen von denen. Die sollten sich jetzt dahin bewegen. Der war aber Maler. Und er sagt: Ich hab dich doch zum Bühnenbildner gemacht usw. Das gehört dazu, dass er auch Menschen formte wie literarische Figuren: Du wirst der und der. Ich mach dich zum Star. Du brauchst jetzt, sagt er zu Regine Lutz, 'nen Führerschein. Ein Star braucht ein Auto in der DDR. Ich werd Dich so oft diesen Zuschauern vorstellen bis sie wissen, dass du ein Star bist. Und nach und nach hat er’s mit ihr geschafft.
artechock: Wenn man im zweiten Teil Brecht fast nur im Zuschauerraum der Probenbühne sieht, dann hat man das Gefühl. Das hielt er für seine eigentliche Bestimmung. Das trifft Burghart Klaußner sehr gut.
Breloer: In dem Moment war er glücklich. Wenn man die Stimme hört, wenn er dort im Theater sitzt. Dieses Probenglück. Er fährt die paar hundert Meter von der Wohnung vor. Er ist ja nur gefahren, gar nicht mehr gelaufen. Ich glaub das war auch die Sicherheit des Autos in der Menge. Der ängstliche Brecht umgeben von der Blechkiste fährt er dahin und dorthin und ist nicht so. Straßenbahn kann ich mir nicht vorstellen, auch U-Bahn. Flugzeug war ganz schlimm. Da hat er gedacht, der Boden bricht gleich durch. Da ist er auf- und abgelaufen bei dem Flug nach Moskau, da mussten sie ihn beruhigen. Das war ihm nicht so geheuer
artechock: Das Auto ist ja das Fahrzeug der Monaden, so wie es benutzt wird. Immer einer einzeln. Als Fortbewegungsmittel vollkommen sinnlos.
Breloer: Für ihn war es ein sicherer Raum und man konnte sich in dieser großen Stadt Berlin genial da- und dorthin bewegen und jemanden einladen, Fahrten machen. Es gab ja ganz wenig Autos, und wenn er durch Ostberlin im Dunkeln fuhr. Das war ja gar nicht beleuchtet wie Westberlin. Man hatte was in der Hand. Man konnte ein Fräulein Soundso einladen, mit ihr nach Hause bis in die Arbeitersiedlung. Das war schon eine Möglichkeit heranzukommen an jemanden. Das war für ihn auch nicht so leicht – die Grete Steffin brachte er dann nach Hause und im Buch wird es ja gelesen haben, wie er sich dann – die konnten wir im Film nicht zeigen, sie war eine ganz ganz wichtige Mitarbeiterin, wie er sie sich gewünscht hat, die Begegnung mit dem Proletariat – ein begabtes Arbeiterkind, Rummelsburger Kellerkind und er macht jemanden daraus, der fast auf Augenhöhe mit ihm Sonette schreiben kann wenn’s auch nur ums Ficken geht manchmal.
artechock: Sex spielt da ja auch eine Rolle. Man hat auch in Ihrem Film den Eindruck, der Samenbeutel ist immer gefüllt und platzt gleich.
Breloer: Er sagt das ja an einer Stelle so mitfühlend mit dem Hofmeister: »Sie laufen herum mit einer gefüllten Samenblase seit Wochen und es steigt die Begierde in Ihnen auf. Aber es ist verboten.« Doch es kommt, wie es kommen musste. Das Mädchen verführt ihn und dann bekommt sie ein Kind und dann ist die Gefahr da. Also das hat er auch schon erlebt. Ich glaube, es war für ihn auch zu zeigen, Leben lohnt sich in jedem Fall. Das macht Spaß. Gönnt es euch auch. Es muss ja nicht diese furchtbare bürgerliche Ehe sein, sondern »täglich ein Geschenk, keine Tribute«. Das ist der Vertrag mit der Weigel, den ich auch gezeigt hab, den sie dann eingehalten hat, wenn auch unter Schmerzen. Denn das sind Punkte: Wir zwei für die neue Gesellschaft. Wir leben eigentlich schon mit einem Bein in der neuen sozialistischen Gesellschaft, wo die Produktivität das Entscheidende ist und wo sie explodieren wird wie damals – Klassenkampfgeschichte – als die Bürger den Adel abgeschafft haben, weil die Produktionsbedingungen der feudalen Gesellschaft den Produktivkräften des Bürgertums nicht mehr gewachsen war. Eine unglaubliche Explosion an Produktivität so wird’s jetzt auch kommen, wenn die letzte unterdrückte Klasse die Produktionsbedingungen des Kapitalismus abschafft und dann keine Kriege mehr braucht und unglaublich produktiv wird, und wir beide erleben das schon in unserer Beziehung. »Ich mach dich produktiv.« Dieser Begriff der Produktivität, der ist, glaube ich, bei Brecht ganz hoch zu schätzen, dass er auch Freunde produktiv machen wollte und er machte sich in ihnen produktiv, weil er sah, wie produktiv sie wurden: Schreib doch mal Tagebuch! Schreib mal ein Gedicht. Mach dies mal. Trau dich das. Das hat ihm wohl sehr sehr gefallen. Ich glaube, bei allen künstlerischen Menschen, wenn sie fähig sind, mit anderen Menschen umzugehen, das ist eine Freude für sie zu sehen, wie man sie anstecken kann, zum Besseren führen kann. Also auch als Regisseur, Schauspielerinnen, die vielleicht so ein bisschen unter Wert gelaufen sind, plötzlich in Hochform zu bringen durch dieses Set, durch das Licht, dass ein Moment Ruhe ist, dass sie nur den Text haben, dass man ihnen sagt: Du kannst es. Wag es. Riskier’s. Und plötzlich machen sie etwas, von dem sie nachher sagen. Das hätt ich gar nicht gedacht. Das ist natürlich eine Riesenfreude und Brecht hat das, glaub ich, sehr stark gemacht mit Schauspielern, die er auch manchmal von der Straße holte. „Ekel Alfred“ Schubert, spielt den Schüler im „Faust“ und Frau Schubert hat mir erzählt: Wissen Sie was, in der Hochzeitsnacht – er war ja Schneider und Kürschner – hat er mir gestanden: Ich will Schauspieler werden. Da wusste ich, dass ich arbeiten musste. Und dann hat sie beobachtet wie Brecht aus diesem Kürschner den Schüler macht, der so stramm sich verblöden lässt und selber ein dummer Lehrer werden will, weil der Teufel ihm die Tricks sagt, wie man an die Weiber rankommt. Und keine Bücher dafür braucht. Das ist im Dokumentarfilm gut gezeigt die Szene.
artechock: Im Buch ist so eine Stelle. Das »Berliner Ensemble«, das muss ein bisschen so gewesen sein, wie die dritten Programme in ihren Anfangszeiten.
Breloer: Wenn ich mich hinein gedacht habe, wie das wohl war mit Brecht und dem Berliner Ensemble hab ich mich tatsächlich an die frühen Jahre im Fernsehen erinnert: An die 70er Jahre, wo ich auf eine Gruppe traf, auch mit großen kreativen Köpfen wie zum Beispiel meinen Freund Horst Königsstein, wo wir in einer Abteilung Weiterbildung I saßen aber Rock'n'Roll-Geschichte geschrieben haben. Wir konnten uns das einfach zu zweit ausdenken – und dann sind wir hin: Was habt ihr denn wieder vor? Dann haben wir das ihm plausibel vorgetragen und dann wurde das so abgenickt – bis Herr Meichsner (CDU) sagte: Sind die verrückt geworden. Die machen Fernsehspiele im dritten Programm und dann so was noch: Verbot. Wir wären ja nicht kompetent dafür. Wir ahnten schon dass wir die Comments durchbrochen haben. Die nächste Runde wäre so gegangen: Wir brauchen mehr Geld. Wir machen ein Fernsehspiel. Dann würde ein Wettbewerb entstehen. Das wollten die nicht. Aber dann habe ich den WDR zur Hilfe gerufen, die Literaturredaktion, die war kompetent, solche Filme zu machen und dann durften wir’s machen. Wir hatten ganz freie Momente, die nicht in so ein jahrelanges Hick hack führten. Jetzt bin ich im 9. Jahr bei einem Sender, der ein Milliardenunternehmen ist. Es ist ganz viel Geld da. Es ist da. Zu viel von dem was da ist. Da braucht man Mut, Zähigkeit, Überzeugungskraft und langen Atem um das durchzuhalten und eine gewisse Werktreue. Ich hatte wirklich wunderbare Angebote zwischendurch, und wenn ich diese Filme gemacht hätte, hätte ich auch wieder andere gemacht. Dann wär der Brecht nicht gemacht worden und ich wäre heute ein anderer Regisseur. Man hat die Qualität gemessen. Denn das kam ja bei den Filmen oft raus, die ich gemacht habe, dass die Leute sagen: die Bilder erinnere ich noch ganz genau, wie das eine junge Mädchen die Tochter von Thomas Mann das sagt oder das. Das sind ja Sachen, die sind nicht am nächsten Tag vom Winde verweht. Du kannst ja die Leute fragen: wie war die Tagesschau gestern und die können es dir kaum sagen. Aber wenn sie solche Filme wirklich gesehen haben, die wir hier entwickeln durften, dann wissen sie noch Bilder und Geschichten, und die bleiben hängen und das verändert auch die Erzählung über diese Person. Man spricht dann anders über Thomas Mann, über die RAF. Man kann das Narrativ verändern in Richtung Aufklärung. Das ist eine wichtige Arbeit, das ist eine verantwortungsvolle Arbeit Das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist – das hab ich vom Donepp gelernt, der den Grimme-Preis aufgebaut hat – ein integraler Bestandteil unserer Demokratie. Das wird dünner. Wird immer dünner, unglaubwürdiger und eines Tages streckt irgendein großer Konzern durch diese dünne Tapete den Finger und sagt: Ich bin da.
artechock: Sie haben diesen Film machen können. Der ist natürlich im Breloer-Königstein-Stil gemacht. Es gibt keinen Qualitätsunterschied zwischen Spiel- und Dokumentarfilmszenen. Wechselseitig sind sie eingebettet. Ich finde den Film sehr gut gelungen, weil er so unaufgeregt ist. Reden wir über das Dokumentarmaterial. Das muss ja erst gefunden werden.
Breloer: Es musste erst mal hergestellt werden. Das sind ja meine Interviews. Die alten und die neuen. Man muss eine bestimmte Situation herstellen in den Gesprächen, damit die Menschen selber in Hochform sind. Wir haben ja Jahre vorher Dokumentarfilm gedreht und trainiert. Wir waren die ersten, die die Kamera benutzen konnten, ohne zusätzliches Licht. Wir kamen also in die Wohnungen rein. Wir konnten einfach mitdrehen. Wir sind in eine Szene reingegangen und der Kameramann war plötzlich ein Teil des Regisseurs. Ich erinnere mich an eine Szene im „Beil von Wandsbeck“. Ich stehe mit zwei, drei Witwen, deren Liebhaber oder auch Parteigenossen geköpft wurden von Göring, dem »Germanenschwärmer mit dem Hackebeilchen«. Dann haben sie ein Photo in der Hand mit den vier Angeklagten. Und dann haben sie das in der Hand, und während sie so mit mir sprechen, sah man, wie der Daumen die Figur streichelte und der Kameramann, der immer auch mit den Ohren sieht, guckte runter und geht ganz langsam auf die Hand – ganz groß. Ich hab das erst später gesehen, weil der hinter mir stand – wie genau er mitdenkt. Wir haben den dann immer wieder mitgenommen, den Klaus Brix. Der Klaus hatte die „Eclair“ auf dem Schoß. Da konnte man oben reingucken, während das Licht, das angeht, wenn der Film läuft, abgeschaltet ist, so dass er das nicht kontrollieren konnte. Hätte er auch nicht. Und ich hab mit Golo über alles Mögliche gesprochen, und als es ernst wurde, hat der Klaus einfach eingeschaltet. Und Golo hat weiter geredet. Er hat gar nicht mehr daran gedacht. Wir haben ein Gespräch geführt. Manchmal hab ich ihm Papiere gereicht oder wenn Klaus verhört wurde, hat er gesagt, mit Homosexualität hätte er nichts zu tun. Nur die amerikanische Armee. Das wär ein guter Haufen. Da hat sich Golo totgelacht. Der hat sich also ganz frei bewegt und andere auch. Da sieht man jetzt in der Dokumentation eine junge Regieschülerin, die dann bei dessen Tod anfängt zu weinen, wenn sie über Brecht nachdenkt und die Weigel tröstet sie und sagt: »Wein doch nicht, du hast ihn doch noch wenigstens erlebt und dann sagt sie dann: Ja, da konnt ich dann traurig sein, ohne zu weinen. Wie die das sagen wie die einen da rein ziehen wie man da mitgehen kann. Das ist eine Stimmung, die muss man im Gespräch herstellen, und dann sind das genauso authentische Bilder, wie wenn Schauspieler spielen und sehr authentisch uns in die Geschichte reinholen, und das dann zu montieren an der richtigen Stelle, den Zusammenstoß machen zwischen Doku und Spiel, und was drittes Neues, was beide nicht alleine hätten, entsteht im Kopf der Zuschauer. Das ist das Geheimnis der poetischen Montage, die nicht gefällig sein darf. Man kann diese Methode schnell nachmachen. Es ist übrigens ne sehr gefährliche Methode. Man kann auch ziemlich viel Unsinn damit anstellen, gerade wenn wir hier über ›Fake‹ reden. Das braucht ne gewisse moralische Integrität für den der es macht.«
artechock: Bleiben wir bei den Interviews. Mir ist aufgefallen, dass Sie das im Film ganz klein halten. Wie entgeht man der Verführung, dass da jemand ganz toll erzählt, und schon ist man aus dem Spielfilm raus. Das ist immer so klein und kurz gehalten, dass es sich fügt.
Breloer: Dass es sich fügt. Das ist das richtige Wort: dass es sich fügt. In einem Kunstwerk fügen sich ja auch die Worte und Geschichten, und wenn ich dann im Schneideraum sitze und mir die Stelle angucke. Wenn dann alles stimmt und klingt. Man sieht das ja und sagt: So kann man das erzählen. Der Zuschauer hat die Anschauung. Er hat die Authentizität, die Originalität der Person und kann sich die Person jetzt ganz anders vorstellen. Nicht nur das Spielbild der schönen Mala Emde, sondern auch der Charakter dieser sehr lebensmutigen sehr starken Frau, die Brecht überlebt hat, denn Brecht musste man erst einmal überleben, glaub ich, das war ein starker Eingriff in ihr Leben. Sie ist dann mit dem Kind nicht mehr Lehrerin geworden. Sie musste von der Schule in ein ganz anderes Leben wurde angefeindet.
artechock: Jetzt gibt es aber noch dieses Gefundene, „Found Footage“, dieses aufgefundene Material. Woher kommt das? Aus Archiven?
Breloer: Ich hab ja eher als Literaturdetektiv angefangen, und das hat mir ja Spaß gemacht, in die Dichter hineinzufahren, sie zu besuchen, sie zu befragen. Wenn ich Hinweise habe, dann könnte man Material finden. Dann fahr ich nach Amsterdam und treffe Leute, von denen ich weiß, die haben Filmmaterial. Das hat noch keiner gesehen. Dann find ich auch Helfer. Ich will das jetzt nicht im Einzelnen ausmalen. Weil ich das noch vermitteln möchte, wenn ich was finde, übergebe ich das der Öffentlichkeit. Alle Interviews gebe ich ja normalerweise heraus oder sie kommen in die Kinemathek, so dass diese letzte Reise zu all den Leuten, die Brecht gekannt haben und die jetzt schon alle tot sind nach den Interviews, aufgehoben sind. Wir wären froh, über Goethe so eine Sammlung von Interviews zu haben, nicht nur den Eckermann, und da hab ich dann gefunden, dass es Filme gibt von seiner Geliebten, die Dokumassage gelernt hat – die Brecht in London kennen gelernt hat – das war gleich ein Liebesverhältnis – die auch aufgeschrieben, aber auch auf Tonband ihr Leben gesprochen hat, was ein eigener Film wäre, eine Jüdin, die sehr liberal und den Männern gut war. Brecht geht mit ihr ins Kino, guckt sich Chaplin an, hat sein kleines Fläschchen Wermut – wie Thomas Mann – dabei, trinkt einen kleinen Schluck, lacht sich über Chaplin tot und am Ende war man im Bett. Sie erzählt, dass sie ihre Abtreibung selbst gemacht hat. Ideal sagt er, darüber müsste man ein Buch schreiben: Sie als Frau machen das selber, sozusagen ohne die Männer damit zu belästigen. So erzählt sie das, sie kommt dann später – sie hat ein grandioses Leben – als Frau eines holländischen Arztes nach China, kommt da ins Konzentrationslager, kommt dann nach Amerika, in Hollywood massiert sie die Stars John Ford und andere, fährt mit ihrem kleinen Auto in Hollywood rum, und Brecht holt sie dann ans Berliner Ensemble und dort ist sie unter anderem nicht nur die Masseurin für Brecht, auch seine Geliebte. Das weiß die Weigel wahrscheinlich oder auch nicht und wird dann die Geliebte von der Hurwitz. Alleine diese Geschichten. Das wäre ein Film für sich. Man will das wissen, man geht hinterher und dann bleibt ein kleines Bild über, im Dokumentarfilm zeig ich sie und erkläre wie sie gefilmt hat. Man sieht, dass sie die Mutter Courage gefilmt hat, hat noch keiner gesehen, wir zeigen jetzt die ersten Bilder. Es gibt ja von Brecht nur ganz wenig. Sie hat gefilmt, wenn er über den Hof kommt mit seinem Hund, wie Thomas Mann, ein Schäferhund. Wie er scheu ist und lächelt, weil er sieht: Seine Familie sitzt dort links und die Geliebte hat die Kamera auf ihn, jetzt hat sie ihn mal wieder erwischt und er wollte das gar nicht. Es ist ein großes Geflecht über die Jahre, und dann kommt eine Verdichtung heraus und leider nur zwei Mal 90 Minuten. In der aber was drin ist.
artechock: Interessanterweise haben Sie sich den großen dramatischen Augenblicken verweigert. Es gibt ja im ersten Teil im Grunde den großen Höhepunkt. Die Dreigroschenoper wird zum Erfolg. Da hätte jeder Hollywoodregisseur richtig Gas gegeben. Im zweiten Teil ist es der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 und wie verhält er sich dazu als dramatischem Ereignis. Das kommt alles bei ihnen vor, sehr differenziert vor, aber es ist eingewebt gar nicht so ein Ausschlag, Das fand ich jetzt ziemlich revolutionär, weil das sich diesem Skandalismus des Journalismus verweigert.
Breloer: Das spricht mir vollkommen aus der Seele. Weil ich das genauso machen wollte. Brechts Dreigroschenoper war ein Nebenwerk so wie bei Galilei dieses Fernglas, damit man die Schiffe früher sehen konnte, das nützlich war, was er dann verkaufen konnte. Das Hauptwerk war natürlich der Erdschatten auf dem Mond, das neue Weltbild und Brecht ist ja dann sofort wieder zurück gekehrt zu den ernsten Fragen der Zeit mit der Mutter und so, und in der begleitenden Dokumentation taucht dann der 17. Juni noch anders beleuchtet auf, wie er vor der entscheidenden Frage steht: das Wort heißt Entfremdung, er ist enttäuscht. Jetzt steht er da. Er hat den Glauben an den »guten Arbeiter«, an den guten Kommunisten. Das ist im Klassenkampfmodell ganz wichtig, dass es das wirklich gibt und dieser Staat mit diesen Leuten was anstellen könnte, eine neue Gesellschaft, die Strahlkraft hat. Wie kann ich die versöhnen mit dieser Regierung, die das nicht machen will. Von denen er sich wünscht – in dem Huldigungsbrief – dass sie die Gespräche führen. Die auch angekündigt werden. Die finden aber im Gefängnis statt. Da wird geprügelt, da wird gefoltert. Das haben wir von dem Pohl alles gesehen. Wir haben ja nur Teile davon gebracht wie der kirre gemacht wurde. Da sieht man es deutlicher wie er daran nagt und dann die »Buckower Elegien« noch einmal aufruft mit dem Sinn nach Harmonie, was er gewünscht hat, dass die Gesellschaft, die Individuen sich gegenseitig in Produktivität versetzen. Der Gleichklang der zwei Ruderer unter seinem Fenster, da hat er das Gedicht »Gleichklang« geschrieben oder »Böser Morgen« oder der Rauch über dem Haus, da hatte er seiner Geliebten Reichel ein Haus gebaut. Das tröstet ihn, dass er da hingehen kann. Da wäre dann mehr zu erzählen gewesen. Aber seine Haltung, seine Nervosität, auch sein Opportunismus wird an der Stelle mit dem 17. Juni ein bisschen deutlicher. Weil: Er wollte das Theater haben und bekam es auch. Aber es war – das beschreiben wir dann auch – ein »vergiftetes Geschenk«. Besser, schreibt der Girmes, der Brecht quasi als Stasimann geschickt wird, um politisch mit ihm zu arbeiten, mit Brecht politisch arbeiten. Wir müssen nicht allzuviel nach hinten gucken. Sagt er. Und Brecht sagt: »Nicht immer nach vorne gucken«. Wir müssen mal zurück gucken: woher kommt der Faschismus? Er wollte ja im Moment der größten Niederlage zurück gehen an den Kern, und das war die deutsche Misere wie dieses Land gewachsen ist. Das hat mir deshalb so gefallen, das jetzt zu hören, weil diese Erregungsmuster mit denen jede Werbung anfängt – »trara – trara die Wäsche von der Wiese ist da«. Jede Sendung und jeder Dokumentarfilm, auch Spielfilme fangen damit an: entweder gebumst, man fährt auf die Tür zu oder die Pistole ist groß im Bild.
Das sind die Hauptbilder, die am Ende kommen und man wird’s nicht glauben. Ich musste mich wehren dagegen, gegen diesen dringenden Wunsch mit der Dreigroschenoper anzufangen. Abwehren. Ich hab immer wieder gesagt: ich mache das nicht, ich mach das nicht. Dann verlierst du eine Million Zuschauer. Ich mach es deshalb nicht, weil Brecht muss aus dem Nichts heraus sagen: »Ich komm gleich nach Goethe« in den ersten drei Minuten.
artechock: Durch den ganzen Film ziehen sich als Leitmotiv die Schubladen, in die Brecht wichtige Dinge legt, Geheimnisse auch.
Breloer: Der Vogt, der Assistent, der ja lange Wochen immer alleine ins einer Wohnung in Berlin gesessen hat, der durfte diese Schubladen aufziehen. In einer versteckten Schublade waren die Liebesbriefe, die Arbeiten am kommunistischen Manifest in Versen. Die Grundlage seiner Weltanschauung. Man muss es immer wieder sagen, denn wir erleben so ne Art Vereinfachung: also Brecht war gar kein Kommunist: schöne Gedichte, den Rest vergesst ihn. So wird es ja jetzt überall erzählt: Macht Euch keine Sorgen über den Kommunismus . Völlig falsches Bild. Sein Weltbild war höchst differenziert als Marxist nicht als „Murkzist“ wie die Staatsführung. Also diese Schubladen hat’s gegeben. Es lief ja alles auf eine andere Schublade auch zu, nämlich die von Galilei. Galilei war verurteilt worden. Er sollte sein neues Weltbild widerrufen, das gesellschaftskritisch war, das die Welt hätte verändern können. Es gefällt Brecht, das so zu erzählen, weil er das fest gefügte Bild des Mittelalters beschreibt: Gott hat in den Mittelpunkt der Welt Rom gesetzt. Die Erde ist der Mittelpunkt des Weltalls. Und die Menschen haben ihre Stellen und keiner darf von dieser Stelle weg. Das ist Gottes Wille, der Arbeiter muss arbeiten. Der Müller muss müllern. Und der König und der Papst die müssen alle regieren. Galilei hat heimlich in den Nächten, während er quasi im klerikalen Gefängnis saß, unter Beobachtung von Altmönchen bei Mondlicht seine Discorsi weiter aufgeschrieben. Und Brecht? Was er als befreiendes Moment den Arbeitern nicht gegeben hat, hat er aber nachts aufgeschrieben. Brecht nun in einer Szene, die ich gedreht habe, ich weiß dass er diese Schallplatte hatte: Laughton, der den Galilei spielte in New York, sprach auf Wunsch von Berlau und Brecht in Schallplattenstudios, da konnte man auf eine Platte sprechen die Szene mit einem anderen Schauspieler spielte er – ich hab das hier in Englisch – Brecht konnte das dann abhören und hat kontrolliert, wie er spielte. Diese Platte hört er noch mal ab. Neher ist bei ihm und da kommen diese Sätze vor: »Ich war mächtiger in meiner Zeit als ich gedacht hab. Ich hätte gar nicht nachgeben müssen. Ich habe den Leuten mein Gewissen gegeben damit sie tun was sie wollten«, soundso und nach einem Seufzer von Charles Laughton sehen wir Brechts Gesicht: I betrayed my profession. – ich habe meinen Beruf verraten, und dann sagt Tragelin, der ja neben ihm saß bei den Proben: diese Verurteilung Galileis muss man immer wieder neu vorlegen, und Galilei spricht, sagt Tragelin, und bewegt sich wie Brecht. Wusste Brecht, dass er auch was über sich sagt? Dass er durch einen Teil seiner Kompromisse den Beruf verraten hat, denn ein Schüler Galileis sagt kurz zuvor: »besser die Hände befleckt als leer«. Typischer Brecht-Satz. Brecht und Parteilinie ging nicht und daher diese Schublade. Der Galilei zieht sie aus dem Globus. Brecht sagt auch: »Wir sind Seiltänzer. Wir brauchen das Seil um drauf zu tanzen und wir müssen vorsichtig sein, dass wir nicht mal dran aufgehängt werden.«