Zwischen den Trümmern der Bilder |
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| Der ägyptische Robert De Niro Mahmoud Hemida brilliert in Yasser Shafieys bitterbösem Complaint No. 713317 | ||
| (Foto: 46th CIFF) | ||
Von Axel Timo Purr
So wie in der Literatur, deren arabische Stimmen in Deutschland immer leiser werden, weil sie in immer kleineren Verlagen erscheinen und fast niemand mehr bereit ist, sie zu übersetzen, so verhält es sich inzwischen auch im Kino. Die Sprache der Kultur ist von der Sprache extremer Politik kontaminiert worden. Alles muss sich zu Konflikten verhalten, die das Publikum lieber vereindeutigt als differenziert sieht. Arabische Filme, so scheint es, haben kaum eine Chance auf dem deutschen Markt. Man könnte meinen, sie existierten gar nicht mehr.
Doch die Wirklichkeit widerspricht, sobald man in Kairo steht. Dort, wo die Filme noch sprechen dürfen, bevor sie vom internationalen Vertrieb zu Tode normiert oder gar nicht erst wahrgenommen werden. Auch das Kino hier weiß mehr als die Gesellschaft. Es weiß, was sie verdrängt, was sie verliert, was sie nicht mehr wahrhaben will. Und in einem Land wie Ägypten, dessen untere Schichten und mehr und mehr auch der Mittelstand unter einer brutalen ökonomischen Realität erodieren, das seine Leute an die Golfstaaten verliert, das versucht, gleichzeitig moderne Megacity und gesichtsloser Krisenstaat zu sein, weiß das Kino manchmal schon zu viel.
Gleichzeitig bemüht sich genau dieses Ägypten, seine einst legendäre und seit Jahren im Sterben liegende Filmindustrie wiederzubeleben, die in den 1950er Jahren noch 359 Kinos im Lande bespielte und sich heute mit gerade mal 60 verbleibenden Kinos begnügen muss. Die Regierung hat ein Programm angekündigt, das nicht weniger will, als die Studios von Cinema City, Al-Ahram oder Al-Nahas aus der strukturellen Agonie zurückzuholen. Modernisierung, Digitalisierung, sogar eine neue nationale Filmproduktion – alles klingt nach einer Renaissance, die gleichzeitig ökonomisch und symbolisch sein soll. Die große Frage bleibt, ob sich die Realität von Politik, Markt und künstlerischer Freiheit miteinander versöhnen lässt. Viele vor Ort zweifeln, andere hoffen, manche zucken nur mit den Schultern und setzen auf YouTube.
Gerade deshalb ist natürlich eine Programmschiene wie die Retrospektive digital restaurierter Klassiker so wichtig. Wenn Werke wie Cairo 30 von Salah Abu Seif oder The Man Who Lost His Shadow von Kamal El Sheikh in neuer technischer Klarheit erstrahlen, dann erzählt das weniger von Nostalgie als von einem Land, das verzweifelt versucht, seine eigene Vergangenheit wieder sichtbar zu machen, bevor sie endgültig im Staub der Archive verschwindet. Und der Blick in die Geschichte wirkte wie ein Kommentar zu fast jedem aktuellen Film dieses Festivals: Die Gegenwart ist brüchig, voller Risse, die oft kaum wahrgenommen werden – bis das Kino sie freilegt.
Zentral war dabei die Sektion »Horizons of Arab Cinema«, die so etwas wie das kollektive Porträt einer Region ergab, die zugleich müde und widerständig ist. Sarra Labidis Looking for Ayda etwa, ein intimer Film aus Tunesien über Callcenter-Arbeit, Entfremdung und die tödliche Routine moderner Erwerbsarbeit im globalen Süden, wurde zum Sinnbild einer Gesellschaft, die Menschen verschleißt, ohne es zu merken. Die Kamera bleibt gnadenlos nah an Ayda, deren Gesicht alle Lasten trägt, ohne ein Wort zu sagen. Der gekündigte Kollege beschreibt seinen früheren Job als »lebendig begraben sein« – ein Satz, der in allen Facetten durch das gesamte Festival hallt, weil so viele Filme von dieser Todesart erzählen: durch Bürokratie, durch Tradition, durch Armut, durch religiösen Druck, durch Krankheiten, durch politische Systeme.
Denn unmittelbar neben dieser individuellen, alltäglichen Erstickung stand Pasha’s Girls, ein ägyptisches Sozialpanorama weiblicher Prekarität. In einem Beauty-Salon wird eine Mitarbeiterin tot aufgefunden, vermutlich Suizid. Doch worum geht es? Nicht um das Leben der Frau, sondern um den Ruf des Salons. Eine Leichenwäscherin weigert sich, die Tote zu waschen – religiöse und soziale Logiken drücken schwer auf den Körper der Toten und noch schwerer auf die Körper der Frauen, die bleiben. Die Selbstermächtigung, die der Film in manchen Figuren aufscheinen lässt, wirkt deshalb weniger wie Emanzipation als wie ein Sich-Winden im Schraubstock einer Gesellschaft, die Frauen stets nur dann sieht, wenn sie fallen.
Dass Humor zu einer Überlebensstrategie werden kann, zeigten Arab und Tarzan Nasser bereits in Gaza mon amour (2021), in Once Upon a Time in Gaza (der wie der später erwähnte Baab in anderen Sektionen lief), einer Mischung aus Gazawood-Selbstironie und düsterer Realität, ziehen sie Schrauben des schwarzen Humors noch einmal an. Menschen sterben wie in einem Leone-Western, und zwischen Hamas-Korruption und Kleinkriminellen entsteht ein bizarrer Propagandafilm der Hamas. Das erinnert immer wieder an Sameh Zoabis Tel Aviv on Fire, ist aber bei weitem nicht so rund erzählt. Der Ton schwankt, die Erzählung zerfasert, doch gerade diese Unschärfe macht den Film zu einer Art verzweifeltem Lachen am Abgrund. Ein Lachen, das nicht befreit, sondern festhält, dass Normalität in Gaza nur als Farce existiert.
Diese Unfähigkeit der Systeme, selbst einfachste Aufgaben zu erfüllen, ist das Zentrum von Yasser Shafieys Complaint No. 713317 , einem bitterkomischen – und dadurch erschütternden – Blick auf einen kaputten Kühlschrank. Ein Rentnerehepaar verliert sich monatelang im Sumpf aus inkompetenten Mechanikern, instabilem Stromnetz, staatlicher Gleichgültigkeit, familiärer Entfremdung und männlicher Ehre, die sich weigert, einen neuen Kühlschrank vom Geld der Ehefrau zu akzeptieren. Der Kühlschrank wird zum Symbol des Staates, der nicht nur nichts repariert, sondern seine Bürger schrittweise zermalmt. Mahmoud Hemida, der ägyptische Robert De Niro, brilliert hier in jeder Sekunde, sein müdes Gesicht erzählt mehr über Ägypten als jede politische Rede.
Fast schon spiegelbildlich dazu steht Ali Benjellouns Goundafa: The Cursed Song, der von einem marokkanischen Dorf erzählt, das unter dem Einfluss eines konservativen Imams auseinanderfällt. Musik wird zur Sünde erklärt, Amazigh-Identität zum Problem, Familien zerbrechen, Frauen verstummen. Der Film ist melodramatisch, manchmal erklärungsarm, aber seine Bilder des Verlusts sind erschütternd. Das Verstummen der Frauen auf den Feldern, der Sohn, der sich nach der Verstümmelung seines Instruments und seines Körpers das Leben nimmt – all das wirkt wie eine Variation desselben Themas, das auch Ayda und Pasha’s Girls umkreisen: Menschen verlieren nicht nur ihre Freiheit, sie verlieren ihre Stimmen.
Nayla Al Khajas Baab fügt diesem Chor noch ein psychologisches Moment hinzu. Die erste Regisseurin der Vereinigten Arabischen Emirate hat einen Film über Trauer, Schuld und eine Frau gemacht, die den Tod ihrer Zwillingsschwester nicht begreifen kann. Ein Figurendrama voller atmosphärischer Verstörung, das sich am Ende etwas in symbolischen Schleifen und Zeitverschiebungen verheddert – ein mutiges Scheitern, das aber deutlich spürbar macht, wie sehr die arabischen Gesellschaften zwischen Tradition und Gegenwart gefangen sind. Zwischen dem, was nicht ausgesprochen werden darf, und dem, was sich in den Köpfen unaufhörlich wiederholt.
Ganz anders wiederum Ali Saeeds Dokumentarfilm Anti-Cinema, eine tief bewegende dokumentarische Reise durch ein Saudi-Arabien, das Jahrzehnte lang offiziell keine Kinos hatte. Die Generation der 1980er, die heimlich projizierte, improvisierte, erfand – all das wird hier zu einer alternativen Filmgeschichte, die die offizielle Erzählung des Landes infrage stellt. Die Verbote nach dem Terrorakt von 1979 in der Großen Moschee von Mekka, die provisorischen Festivals, die zu »visuellen Shows« umdeklariert wurden, die Frauen, die für das Filmemachen kämpfen mussten – Saeed zeigt ein Land, das nie homogen war, sondern immer voller heimlicher Räume und widerständiger Bilder.
Diese Widerständigkeit kulminierte in Round 13, dem wohl emotional direktesten Film des Festivals. Die Geschichte eines Ex-Boxers, dessen Sohn an Krebs erkrankt, spiegelt die soziale Wucht eines Tunesien, in dem alle ständig in einer weiteren, immer aussichtsloseren Runde stehen. Es ist ein Film über Armut, über stille Alltagsqualen und über die Lügen, mit denen Eltern ihre Kinder vor der Wahrheit schützen wollen, obwohl die Kinder längst alles wissen. Das ewige KO, von dem man sich trotzdem wieder aufrichtet – ein universelles Bild, das in Kairo besonders laut nachhallte.
Wenn man all diese Filme in einem panoptischen Schnelldurchlauf noch einmal vorbeiziehen lässt, dann entsteht ein Panorama des arabischen Gegenwartskinos, das nicht nur ästhetisch, sondern politisch aufgeladen ist. Nicht didaktisch, nicht plakativ, sondern in seinen feinsten erzählerischen Partikeln politisch: in der Einsamkeit einer Callcenter-Mitarbeiterin, im toten Körper einer Salonangestellten, im Kühlschrank eines Rentners, im Schweigen der Amazigh-Frauen, im Geheimkino saudischer Jugendlicher, im verzweifelten Blick eines kranken Kindes. Alles ist miteinander verbunden. Alles erzählt vom Zustand einer Region, deren Menschen oft mehr Widerstandskraft besitzen, als sie selbst glauben.
Das 46. Cairo International Film Festival war daher weniger ein glamouröses Ereignis als ein Zustand: ein Festival unter Druck, unter ökonomischen und politischen Lasten, aber gerade deshalb voller Notwendigkeit. Denn hier entstehen Bilder, die dem kollektiven Gedächtnis vorauslaufen. Hier entfalten sich Stimmen, die in Europa kaum noch jemand hört. Hier zeigt sich, dass das arabische Kino lebt, und zwar mit einer Hartnäckigkeit, die beschämt und Hoffnung macht. Und solange es lebt, bleibt der Raum für Hoffnung offen – selbst wenn der Kühlschrank nicht funktioniert.