27.11.2025

Zwischen den Trümmern der Bilder

Complaint No. 713317
Der ägyptische Robert De Niro Mahmoud Hemida brilliert in Yasser Shafieys bitterbösem Complaint No. 713317
(Foto: 46th CIFF)

Das 46. Cairo International Film Festival zeigte ein widerständiges arabisches Kino, das trotz Krise seine Stimme behauptet. Die Filme machen unsichtbare soziale Risse sichtbar und spiegeln eine Region im Wandel. In Kairo beweist Kultur ihre Überlebenskraft.

Von Axel Timo Purr

So wie in der Literatur, deren arabische Stimmen in Deutsch­land immer leiser werden, weil sie in immer kleineren Verlagen erscheinen und fast niemand mehr bereit ist, sie zu über­setzen, so verhält es sich inzwi­schen auch im Kino. Die Sprache der Kultur ist von der Sprache extremer Politik konta­mi­niert worden. Alles muss sich zu Konflikten verhalten, die das Publikum lieber verein­deu­tigt als diffe­ren­ziert sieht. Arabische Filme, so scheint es, haben kaum eine Chance auf dem deutschen Markt. Man könnte meinen, sie exis­tierten gar nicht mehr.

Doch die Wirk­lich­keit wider­spricht, sobald man in Kairo steht. Dort, wo die Filme noch sprechen dürfen, bevor sie vom inter­na­tio­nalen Vertrieb zu Tode normiert oder gar nicht erst wahr­ge­nommen werden. Auch das Kino hier weiß mehr als die Gesell­schaft. Es weiß, was sie verdrängt, was sie verliert, was sie nicht mehr wahrhaben will. Und in einem Land wie Ägypten, dessen untere Schichten und mehr und mehr auch der Mittel­stand unter einer brutalen ökono­mi­schen Realität erodieren, das seine Leute an die Golf­staaten verliert, das versucht, gleich­zeitig moderne Megacity und gesichts­loser Krisen­staat zu sein, weiß das Kino manchmal schon zu viel.

Gleich­zeitig bemüht sich genau dieses Ägypten, seine einst legendäre und seit Jahren im Sterben liegende Film­in­dus­trie wieder­zu­be­leben, die in den 1950er Jahren noch 359 Kinos im Lande bespielte und sich heute mit gerade mal 60 verblei­benden Kinos begnügen muss. Die Regierung hat ein Programm angekün­digt, das nicht weniger will, als die Studios von Cinema City, Al-Ahram oder Al-Nahas aus der struk­tu­rellen Agonie zurück­zu­holen. Moder­ni­sie­rung, Digi­ta­li­sie­rung, sogar eine neue nationale Film­pro­duk­tion – alles klingt nach einer Renais­sance, die gleich­zeitig ökono­misch und symbo­lisch sein soll. Die große Frage bleibt, ob sich die Realität von Politik, Markt und künst­le­ri­scher Freiheit mitein­ander versöhnen lässt. Viele vor Ort zweifeln, andere hoffen, manche zucken nur mit den Schultern und setzen auf YouTube.

Gerade deshalb ist natürlich eine Programm­schiene wie die Retro­spek­tive digital restau­rierter Klassiker so wichtig. Wenn Werke wie Cairo 30 von Salah Abu Seif oder The Man Who Lost His Shadow von Kamal El Sheikh in neuer tech­ni­scher Klarheit erstrahlen, dann erzählt das weniger von Nostalgie als von einem Land, das verzwei­felt versucht, seine eigene Vergan­gen­heit wieder sichtbar zu machen, bevor sie endgültig im Staub der Archive verschwindet. Und der Blick in die Geschichte wirkte wie ein Kommentar zu fast jedem aktuellen Film dieses Festivals: Die Gegenwart ist brüchig, voller Risse, die oft kaum wahr­ge­nommen werden – bis das Kino sie freilegt.

Zentral war dabei die Sektion »Horizons of Arab Cinema«, die so etwas wie das kollek­tive Porträt einer Region ergab, die zugleich müde und wider­s­tändig ist. Sarra Labidis Looking for Ayda etwa, ein intimer Film aus Tunesien über Call­center-Arbeit, Entfrem­dung und die tödliche Routine moderner Erwerbs­ar­beit im globalen Süden, wurde zum Sinnbild einer Gesell­schaft, die Menschen verschleißt, ohne es zu merken. Die Kamera bleibt gnadenlos nah an Ayda, deren Gesicht alle Lasten trägt, ohne ein Wort zu sagen. Der gekün­digte Kollege beschreibt seinen früheren Job als »lebendig begraben sein« – ein Satz, der in allen Facetten durch das gesamte Festival hallt, weil so viele Filme von dieser Todesart erzählen: durch Büro­kratie, durch Tradition, durch Armut, durch reli­giösen Druck, durch Krank­heiten, durch poli­ti­sche Systeme.

Denn unmit­telbar neben dieser indi­vi­du­ellen, alltäg­li­chen Ersti­ckung stand Pasha’s Girls, ein ägyp­ti­sches Sozi­al­pan­orama weib­li­cher Preka­rität. In einem Beauty-Salon wird eine Mitar­bei­terin tot aufge­funden, vermut­lich Suizid. Doch worum geht es? Nicht um das Leben der Frau, sondern um den Ruf des Salons. Eine Leichen­wä­scherin weigert sich, die Tote zu waschen – religiöse und soziale Logiken drücken schwer auf den Körper der Toten und noch schwerer auf die Körper der Frauen, die bleiben. Die Selbst­er­mäch­ti­gung, die der Film in manchen Figuren aufscheinen lässt, wirkt deshalb weniger wie Eman­zi­pa­tion als wie ein Sich-Winden im Schraub­stock einer Gesell­schaft, die Frauen stets nur dann sieht, wenn sie fallen.

Dass Humor zu einer Über­le­bens­stra­tegie werden kann, zeigten Arab und Tarzan Nasser bereits in Gaza mon amour (2021), in Once Upon a Time in Gaza (der wie der später erwähnte Baab in anderen Sektionen lief), einer Mischung aus Gazawood-Selbst­ironie und düsterer Realität, ziehen sie Schrauben des schwarzen Humors noch einmal an. Menschen sterben wie in einem Leone-Western, und zwischen Hamas-Korrup­tion und Klein­kri­mi­nellen entsteht ein bizarrer Propa­gan­da­film der Hamas. Das erinnert immer wieder an Sameh Zoabis Tel Aviv on Fire, ist aber bei weitem nicht so rund erzählt. Der Ton schwankt, die Erzählung zerfasert, doch gerade diese Unschärfe macht den Film zu einer Art verzwei­feltem Lachen am Abgrund. Ein Lachen, das nicht befreit, sondern festhält, dass Norma­lität in Gaza nur als Farce existiert.

Diese Unfähig­keit der Systeme, selbst einfachste Aufgaben zu erfüllen, ist das Zentrum von Yasser Shafieys Complaint No. 713317 , einem bitter­ko­mi­schen – und dadurch erschüt­ternden – Blick auf einen kaputten Kühl­schrank. Ein Rent­ner­ehe­paar verliert sich mona­te­lang im Sumpf aus inkom­pe­tenten Mecha­ni­kern, insta­bilem Stromnetz, staat­li­cher Gleich­gül­tig­keit, fami­liärer Entfrem­dung und männ­li­cher Ehre, die sich weigert, einen neuen Kühl­schrank vom Geld der Ehefrau zu akzep­tieren. Der Kühl­schrank wird zum Symbol des Staates, der nicht nur nichts repariert, sondern seine Bürger schritt­weise zermalmt. Mahmoud Hemida, der ägyp­ti­sche Robert De Niro, brilliert hier in jeder Sekunde, sein müdes Gesicht erzählt mehr über Ägypten als jede poli­ti­sche Rede.

Fast schon spie­gel­bild­lich dazu steht Ali Benjell­ouns Goundafa: The Cursed Song, der von einem marok­ka­ni­schen Dorf erzählt, das unter dem Einfluss eines konser­va­tiven Imams ausein­an­der­fällt. Musik wird zur Sünde erklärt, Amazigh-Identität zum Problem, Familien zerbre­chen, Frauen verstummen. Der Film ist melo­dra­ma­tisch, manchmal erklärungsarm, aber seine Bilder des Verlusts sind erschüt­ternd. Das Verstummen der Frauen auf den Feldern, der Sohn, der sich nach der Vers­tüm­me­lung seines Instru­ments und seines Körpers das Leben nimmt – all das wirkt wie eine Variation desselben Themas, das auch Ayda und Pasha’s Girls umkreisen: Menschen verlieren nicht nur ihre Freiheit, sie verlieren ihre Stimmen.

Nayla Al Khajas Baab fügt diesem Chor noch ein psycho­lo­gi­sches Moment hinzu. Die erste Regis­seurin der Verei­nigten Arabi­schen Emirate hat einen Film über Trauer, Schuld und eine Frau gemacht, die den Tod ihrer Zwil­lings­schwester nicht begreifen kann. Ein Figu­ren­drama voller atmo­sphäri­scher Vers­törung, das sich am Ende etwas in symbo­li­schen Schleifen und Zeit­ver­schie­bungen verhed­dert – ein mutiges Scheitern, das aber deutlich spürbar macht, wie sehr die arabi­schen Gesell­schaften zwischen Tradition und Gegenwart gefangen sind. Zwischen dem, was nicht ausge­spro­chen werden darf, und dem, was sich in den Köpfen unauf­hör­lich wieder­holt.

Ganz anders wiederum Ali Saeeds Doku­men­tar­film Anti-Cinema, eine tief bewegende doku­men­ta­ri­sche Reise durch ein Saudi-Arabien, das Jahr­zehnte lang offiziell keine Kinos hatte. Die Gene­ra­tion der 1980er, die heimlich proji­zierte, impro­vi­sierte, erfand – all das wird hier zu einer alter­na­tiven Film­ge­schichte, die die offi­zi­elle Erzählung des Landes infrage stellt. Die Verbote nach dem Terrorakt von 1979 in der Großen Moschee von Mekka, die provi­so­ri­schen Festivals, die zu »visuellen Shows« umde­kla­riert wurden, die Frauen, die für das Filme­ma­chen kämpfen mussten – Saeed zeigt ein Land, das nie homogen war, sondern immer voller heim­li­cher Räume und wider­s­tän­diger Bilder.

Diese Wider­s­tän­dig­keit kulmi­nierte in Round 13, dem wohl emotional direk­testen Film des Festivals. Die Geschichte eines Ex-Boxers, dessen Sohn an Krebs erkrankt, spiegelt die soziale Wucht eines Tunesien, in dem alle ständig in einer weiteren, immer aussichts­lo­seren Runde stehen. Es ist ein Film über Armut, über stille Alltags­qualen und über die Lügen, mit denen Eltern ihre Kinder vor der Wahrheit schützen wollen, obwohl die Kinder längst alles wissen. Das ewige KO, von dem man sich trotzdem wieder aufrichtet – ein univer­selles Bild, das in Kairo besonders laut nach­hallte.

Wenn man all diese Filme in einem panop­ti­schen Schnell­durch­lauf noch einmal vorbei­ziehen lässt, dann entsteht ein Panorama des arabi­schen Gegen­warts­kinos, das nicht nur ästhe­tisch, sondern politisch aufge­laden ist. Nicht didak­tisch, nicht plakativ, sondern in seinen feinsten erzäh­le­ri­schen Partikeln politisch: in der Einsam­keit einer Call­center-Mitar­bei­terin, im toten Körper einer Salon­an­ge­stellten, im Kühl­schrank eines Rentners, im Schweigen der Amazigh-Frauen, im Geheim­kino saudi­scher Jugend­li­cher, im verzwei­felten Blick eines kranken Kindes. Alles ist mitein­ander verbunden. Alles erzählt vom Zustand einer Region, deren Menschen oft mehr Wider­stands­kraft besitzen, als sie selbst glauben.

Das 46. Cairo Inter­na­tional Film Festival war daher weniger ein glamouröses Ereignis als ein Zustand: ein Festival unter Druck, unter ökono­mi­schen und poli­ti­schen Lasten, aber gerade deshalb voller Notwen­dig­keit. Denn hier entstehen Bilder, die dem kollek­tiven Gedächtnis voraus­laufen. Hier entfalten sich Stimmen, die in Europa kaum noch jemand hört. Hier zeigt sich, dass das arabische Kino lebt, und zwar mit einer Hart­nä­ckig­keit, die beschämt und Hoffnung macht. Und solange es lebt, bleibt der Raum für Hoffnung offen – selbst wenn der Kühl­schrank nicht funk­tio­niert.