Spotlights |
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In Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität und dem Internationalen Festival of Future Storytellers
Wie lange leben Wolken? Diese Frage wird Amos oft gestellt. Die Geschichte dreht sich um die beiden Freunde Amos und Vogel, ihre Beziehung, Leidenschaft, Depression, Verlust und schließlich: Erinnerung. Der Film überzeugt mit einer großen symbolischen Kraft. Die Wolken, die Zigaretten, beides evaporiert nach einer Zeit und was bleibt dann? Was bleibt nach den schönen Momenten, den Erlebnissen, der Leidenschaft? Nur die Erinnerung. Doch wie hält man daran fest? Die diametrale Symbolik der Kamera des Protagonisten und der Zigaretten seines Freundes ist bemerkenswert eingesetzt in einem Film, der sich besonders der Angst des Vergessens widmet. – Carlotta Macri
Erinnerungen, so flüchtig wie Wolken und Zigarettenrauch. Amos beobachtet seinen Freund Vogel genau, der stets mit einer Zigarette im Mund den Wolken nachblickt und über deren Leben philosophiert. Was bleibt von uns übrig, nachdem wir weg sind, sind wir wie die Wolken, die sich auflösen? Es geht um die Freundschaft der beiden und eine zarte Annäherung – genauso wie um Verlust und die abschließende Erinnerung, was vom Leben übrigbleibt. Die Kamera beschäftigt sich mit Texturen und Oberflächen, schafft es, Sensationen auf Leinwand zu bannen und spielt optisch mit der tiefgreifenden Frage, wie die menschliche Erinnerung funktioniert: mal wird das Bild körnig, verlangsamt sich zu einzelnen Fotographien, verliert Schärfe oder verwischt – wie sich auflösende Erinnerungsfetzen. – Maria Ruegg
Pippi Langstrumpf in Berlin: Drei Mädchen quasseln, zappeln, kichern und filmen einander. Wie hält man ADHS mit der Kamera fest, wie als Publikum aus? Eine Meditation über einen Familienalltag, der irgendwo zwischen Sport, Schule und Neurodivergenz stattfindet. Die Hürden einer Kindheit mit AD(H)S? Daran hält sich Florentin Dotzauer nicht auf. Wie auch – man ist Miranda und ihren Geschwistern nahezu ausgeliefert. Wenn das A in ADHS für Anders steht, steht das S für Spaß, denn den hat man beim Schauen des Dokumentarfilms. Gleichzeitig berührt er nicht nur jene, die selbst von Neurodivergenz betroffen sind. Eine Leidensgeschichte oder gar Inspiration Porn sucht man hier vergeblich. – Iris Wyn König
Cuando retornen las garzas (When the herons return) · R: Robert Brand Ordóñez · Kolumbien 2025
Esperar und Esperanza – das Warten und die Hoffnung sind im Spanischen etymologisch nah beieinander. Und so wartet im Morgengrauen eine Mutter auf die Rückkehr der Reiher – wie auf ihren verstorbenen Sohn. Cain hat, wie sein biblisches Pendant, jemanden umgebracht und irrt seitdem in Amnesie umher und sucht nach einem Umgang mit seiner Schuld. Er ist gefangen im inneren Gefängnis seiner verdrängten Erinnerung, das sich nach außen hin als Urwald darstellt. Ein mysteriöser Begleiter zeigt ihm den Weg, der ihn am Ende zu sich selbst und seiner Erinnerung führen wird. In dem berührendem Film geht es um Verlust, um das Bangen um Geliebte und das Vergessen der eigenen Vergangenheit als Spiegel und Aufarbeitung der Traumata der Violencia, einem jahrzehntelangen gewaltsamen Konflikt in Ordóñez’ Heimatland Kolumbien. – Maria Ruegg
Wir Kinder vom Bahnhof Zoo meets Beautiful Boy: Die obdachlose Jugendliche Luna (Paula Schindler) und ihr Freund Marius (Casper von Bülow) ziehen durch die Stadt und flüchten sich in einen Drogenrausch. Als sie bemerkt, dass sie schwanger ist, muss sie wichtige Entscheidungen treffen. Beeindruckende und zugleich schlimme Einstellungen zeigen die Realität einer Gruppe, die in der Gesellschaft gerne vergessen wird. Der Film ist nichts für schwache Nerven. Durch Luna spüren wir die Verzweiflung und das Grauen, was sie erwartet, wenn sich ihr Leben nicht ändert. Die Drogen lassen sie nur kurz vor der grausamen Realität flüchten. Besonders die Mise-en-scène fühlt sich realistisch an, denn man spürt den Dreck bis in den Kinositz, egal ob es die schmutzige Kleidung, die fettigen Haare oder der Schlafplatz ist. Die beiden Hauptdarsteller verkörpern ihre Figuren sehr beeindruckend. – Julia Bayerl
»Keep on smiling, rascal.« – In diesem Stop-Motion-Animationsfilm werden innerhalb von nur neun Minuten tiefgehende Gefühle und die Verarbeitung der Trauer um einen geliebten Menschen thematisiert. Trotz der Schwere des Themas gelingt es dem Film, die Geschichte mit humorvollen und von spielerischer Leichtigkeit getragenen Figuren zu eröffnen. Aber als David sich im Angesicht des ausgegrabenen Leichnams seines Bruders Matty befindet, kippt die Stimmung und schlägt in Gedanken über Trauer, Verlust, Depressionen und dem Wunsch nach dem eigenen Verschwinden um. Ein herzergreifendes Ende: der letzte Abschied von einem geliebten Menschen. Die Verarbeitung dieser tiefgreifenden Trauer hallen noch lange nach. – Lara Hecht
Das Land, wo einst die Götter wohnten, steht in Flammen. Das Wasser ist zum Gießen der Pflanzen knapp, zum Löschen der Feuer erst recht. Wir sehen die Überreste der Flammen, zusammen mit einer Bauernfamilie, die hofft, dass der Wind das Feuer diesmal nicht zu ihnen trägt. Die verkohlten Gerippe der Bäume könnten in zehn Jahren vielleicht wieder Oliven tragen – wenn die Hoffnung Früchte trägt. Inspiration in seiner täglichen Arbeit zieht der älteste Sohn aus Sisyphos, der jeden Tag einen Felsen ein Berg hochrollen muss, der oben angekommen immer wieder herunterrollt. Woher nimmt er die Kraft, fragt der Vater, woher nimmt er die Hoffnung? Titelgebend sind für Anna-Maria Dutoit die naheliegenden Felder von Eleusis, wo einst die Göttin Demeter den Menschen den Landwirtschaft lehrte, heute man aber nur noch die Schlote von Ölraffinerien sieht, die den Klimawandeln buchstäblich befeuern. – Maria Ruegg
»The sad thing is that the people lost hope.« – Elysian Fields
Der Film zeigt auf poetische Weise und mit schönen Naturaufnahmen die Realität einer Olivenbauer-Familie bei Delphi. Die Waldbrände und ein anhaltender Wassermangel bereiten der Familie viele Sorgen, ihre Existenz weiterhin sichern zu können. Immer wieder versuchen sie, Lösungen zu finden und tauschen sich aus, was man am besten machen könnte. Dabei werden die Dialoge oft mit Naturaufnahmen unterlegt, die traumhafte Landschaft und durch Brände zerstörte Wälder und Flächen zeigen. Es entsteht der Eindruck, als ob die Natur durch die Stimmen der Familie fast selbst zu Wort käme und ihr Leid teilt. Die Erzählung erfolgt ruhig und erweckt einen lyrischen, fast meditativen Eindruck. – Lara Hecht
Ernte einholen, Haus streichen, Gott preisen: Hermogène verfolgt in seinem Dokumentarfilm eine haitische Diaspora-Gemeinschaft in Kuba bei ihrem Alltag. Distanziert beobachtet der Film die scheinbar ungestörte Arbeit auf dem Erntefeld oder das Streichen des Hauses. Durch Wiederholungen zeigt Hermogène die Ritualisierung der Arbeit und schlägt nahtlos zum Gottesdienst um. Nahaufnahmen laden in den Kreis der Feiernden ein, die die Voodoo-Göttin Ezili in einer verlassenen Zuckerfabrik anbeten. Erklärt wird im Dokumentarfilm nichts, allein die Handlungen und Gebete der beobachteten Protagonisten tragen den Film. Hier ist Einfühlung gefordert, bei interpretatorischer Offenheit. – Patrick Friedrich Brandl
Horror für uns, Realität für polnische Frauen: Eine knallharte Darstellung einer Mutter namens Ewa (Wioletta Kopańska), die kein zweites Kind möchte und es abtreiben will. In Polen ist durch den Aufstieg rechter Parteien Abtreibung mittlerweile verboten, was dafür sorgt, dass Ewa andere Wege sucht. Das Abwechseln von warmen und kalten Farben im Film verdeutlicht die Zerrissenheit von Ewa, die nicht weiß, was sie tun soll. Besonders die Musik während einer Montage deutet das kommende Unheil an, was am Ende des Films zur Katastrophe eskaliert. Die politische Schlagkraft des Films ist enorm und weist auf das Schicksal vieler Polinnen hin, denn die Figuren im Film sind zwar fiktiv, aber dessen Schicksale und Ereignisse nicht: Eine wichtige Botschaft, die mehr Aufmerksamkeit verdient. Insgesamt ein politischer Film, der sich wie ein Schlag in die Magengrube anfühlt. – Julia Bayerl
»Ich kann nicht schlafen, ich muss einen Film drehen…« Mit diesen Worten begibt sich die Filmemacherin auf die Jagd nach geeignetem Bildmaterial für einen Dokumentarfilm. Als sie schließlich einen älteren Mann antrifft, der ihr interessant vorkommt, nimmt die Jagd eine unerwartete Wendung, und die Jägerin wird selbst zur Beute. Was als wholesome Stop-Motion-Animation beginnt, wird schnell zu einem Horrorszenario für Frauen. Die anfangs so fröhlichen Farben weichen der einsetzenden Dunkelheit und verstärken die Bedrohlichkeit der Situation. Auch der Wechsel der Sprache trägt zur Verunsicherung bei. Besonders bemerkenswert ist die Szene, in der die Tonspur der tatsächlichen Situation, die der Regisseurin wiederfahren ist, untergelegt wird. – Carlotta Macri
Der Teufel hat viele Gesichter. Im 17. Jahrhundert heiratet Hildegard den verwitweten Bauern Johan und muss sich in ihrer neuen Rolle als Stiefmutter für die junge Agnes zurechtfinden. Viel Zeit dafür bleibt ihr nicht, denn Agnes erzählt öffentlich von Begegnungen mit dem Teufel – eine Aussage, die zum Scheiterhaufen führen kann. Hildegard versucht, Agnes zu helfen, scheitert aber am damaligen Patriarchat und scheint machtlos. »Inkubus« zieht durch das Setdesign soghaft in die Vergangenheit – die Hütte der Familie sieht eingelebt aus, die Kleidung wirkt abgetragen, die bäuerliche Arbeit routiniert. Das Schwarzweiß verleiht der Illusion der Vergangenheit den letzten Schliff. – Patrick Friedrich Brandl
»Geh nach Hause, Hildegard«, befiehlt der Pfarrer. Aber was, wenn zuhause der Teufel wohnt? Lieber zum Bach, die Blutergüsse kühlen. Packende, wenn auch minimalistische Dialoge, meisterhaft inszenierter Horror aus dem 17. Jahrhundert, ein hervorragend genutztes und noch besser kaschiertes Budget: Inkubus von Reza Sam Mosadegh atmet nur zwischen albtraumhaften Bildern und beengenden Arbeitsszenen. Der Herzschlag des Märchens in Schwarzweiß ist nach einem nervös(machend)en Tick des Patriarchen (Sammy Scheuritzel) getaktet. Kontrastiert von Nell Marie Haack als Stieftochter Agnes, die eine still-verstörte Mia Goth evoziert, oszilliert der Film zwischen Un-Verstandenem und Un-Ausgesprochenem. Bis in die Details sorgfältig ausgestattetes Allerleirauh mit einem Ende, das zündet. – Iris Wyn König
Period Piece, Pädophilie, Patriarchat. Einen halbstündigen Historienfilm mit einem Kind in einer Hauptrolle als Abschlussfilm zu drehen, ist beeindruckend. Noch beeindruckender ist, wie gut hier die filmischen Elemente zusammen kommen, um eine Geschichte von sexueller Gewalt zu erzählen, die in der Verknüpfung von Religion und patriarchaler Gesellschaft leider so aktuell wie vor 400 Jahren ist. Dabei erzählen die imposanten Schwarz-Weiß-Bilder mit viel Tiefe und starken Kontrasten, teilweise nur mit Licht und Schatten. Durch das immersive Sounddesign und das Szenenbild wird zudem eine dichte Atmosphäre geschaffen, die einen oft kaum atmen lässt. – Nicolai Meußling
Titlecards zum Leben erweckt. Ein schiefes Verhältnis, ein schiefes Regal; eine schiefe Überschrift. Pulsierende Lettern, die eine basslastige Party ankündigen, ein gepierctes Ohr als Platzhalter. Alles ist lebendig… und still, traurig, unbeholfen. Hauptdarsteller Olivier Arts zeichnet den frisch getrennten Wim als einsam, verloren, ehrlich. Seine Welt ist bevölkert von Figuren, deren beklemmende Fürsorge so lange an der Oberfläche kratzt, bis die letzte Überschrift Veränderung ankündigt: February steht da, nachdem der verheißungsvollste, aber auch unaushaltbar graue erste Monat des Jahres überstanden ist. Liebers größte Stärke: Der Humor, der sich niederländisch in reduzierten Bewegungen und minimalistisch choreografierten Szenen ganz nebenbei entfaltet. – Iris Wyn König
Grandiose Verhandlung von Liebeskummer im neuen Jahr. Willem (Olivier Arts) verarbeitet gerade die Trennung von seinem Freund Elias. Der Film zeigt einzelne Momente im Januar und endet am ersten Februar. Gerade der Monat Januar ist der schlimmste Monat für eine Trennung – er wird mit blauen und tristen Farben dargestellt, was die traurige und graue Innenwelt der Hauptfigur widerspiegelt. Die Farbe ist aus Willems Leben gewichen und das letzte Überbleibsel ist Elias’ roter Pullover, den Willem trägt, als würde er sich an das letzte Bisschen von seinem Ex klammern. Mit viel Witz in unangenehmen Situationen und Zwischentiteln, welche die einzelnen Szenen verbinden, zeigt der Film sehr realitätsnah, wie sich eine harte Trennung anfühlt. – Julia Bayerl
It is irreversible: Eine junge Frau versucht, ihre Identität zu finden. Als Tochter einer konservativen muslimischen Familie beginnt sie zu rebellieren, ein schwerer Schicksalsschlag jedoch lässt sie an sich selbst und ihren Entscheidungen zweifeln. In der kühlen Farbgebung, den langsamen Schnitten und der Ruhe des Films findet sich die innere Leere und Zerrissenheit der Protagonistin. Ihre Reue wird besonders hervorgehoben, durch eine der letzten Dialogzeilen: »it is irreversible«. Jetzt gibt es für sie kein zurück mehr, auch wenn sich daraufhin alle Bewegung rückwärts abspielt… – Carlotta Macri
»Versprichst du, Mama nicht zu schlagen?«, fragt der junge Kong Kong seinen Vater im Auto. Diese Bedingung stellt er, um ihm den geheimen Aufenthaltsort seiner Mutter, die vor ihrem Ehegatten geflohen ist, zu verraten. Schließlich möchte der Junge sie wieder zu Hause wissen. Die dramatische, klassische Musik kündigt aber schon an, dass der Vater sein Versprechen brechen wird. Es ist schockierend zu sehen, wie schamlos der Vater seinen Sohn für Machtspiele ausnutzt und wie hilflos Kind wie Mutter sind. Kong Kong muss sich schließlich die Frage stellen: Was ist wichtiger, seine eigenen Wünsche oder die Gesundheit seiner Mutter? – Patrick Friedrich Brandl
Die Welt durch Kinderaugen sehen. Auf Augenhöhe folgt die Kamera von Roberto Tarazona zwei Jungs in Kuba, wie sie tagsüber Fangen spielen oder Angeln, nachts jedoch mit der Erwachsenenwelt konfrontiert werden. Dabei lässt uns der Film nicht alles verstehen, vielmehr mit den Kinderohren den Dialogen der Erwachsenen lauschen. Sie erzählen von geschlachteten Kühen und getöteten Menschen, was gar nicht in diese kindliche Welt passen will. Eine Sequenz, derart effektiv und unheimlich gefilmt und geschnitten, die auch im Zuschauer eine kindliche Furcht entstehen lässt. Wir sehen nicht nur wieder wie Kinder, wir fühlen auch wie sie – und so endet der Film fast schon mit einem Appell zum Spielen. – Nicolai Meußling
Ein letztes Mal Kind sein. Die junge Lea steht nach einem bestandenen Abitur vor einem neuen Kapitel ihn ihrem Leben. Doch ausgerechnet jetzt wird sie schwanger. Ella Knorz erarbeitet die liminale Zeit zwischen »Kind sein« und »Erwachsen werden«. Der Gegensatz vom ausgelassenen Tanzen auf Partys und den ewigen Telefonwarteschleifen eines überbürokratisierten Abtreibungsprozesses, ruft – in typischer Coming-of-Age-Manier – die emotionale Schwerelosigkeit der Protagonistin hervor. Ihrer wahrgenommenen Unzulänglichkeit wird visuell durch die Kreisblende Ausdruck verliehen, in dem die Personen entweder zu groß oder zu klein wirken. Der Film klammert selbstbewusst jegliche Wertung gegenüber den Figuren oder dem System aus und überlässt dies den Zuschauern. – Constantin Bombelli
Fleabag für Kinder alleinerziehender Eltern. Olga Müller lässt Zoya (Elvira Müller) mit der Kamera reden; und mit Mischka. Plüschgewordene Einsamkeit in Form einer Maus, die mit der Stimme des russischen Großvaters mal motiviert, mal flucht, mal das Geschehen kommentiert. Die bunte Plattenbaukindheit mit Migrationshintergrund dreht sich um Backen und Basketball, scheint dabei aber zu aufgeräumt. Kaum ein Set ist eingelebt, der erklärende Monolog teils steril. Umso wärmer strahlt die Fürsorge, die Zoya in ihr traditionell russisches Gebäck einknetet. Am Ende liegt es an Mutter Ilana (Monika Gossmann), das unentschlossen konfrontierende Moment des Films auszuhebeln und es durch parentale Präsenz zu ersetzen; echte Berührung passiert jedoch kaum. – Iris Wyn König
Heimat in der Fremde – Konstruktion in der Dokumentation. Vier kurdische Geschwister errichten auf einem Spielplatz in einer Schweizer Kleinstadt ein ganzes Wohnzimmer – mit Teppich, Sofa, Lampe und Tisch. Durch die Anwesenheit der Kamera verstellen sie sich und konstruieren und performen eine neue Identität – eine kunstvolle Wahl des Dokumentarfilms, der so darauf verzichten kann, zu zeigen, wie sie sich in ihrem Alltag verstellen müssen. Und so wie die Geschwister ein Wohnzimmer auf dem Spielplatz aufbauen, konstruieren sie auch ihre Heimat neu. Ergänzt werden Erzählungen aus dem Off, die von alltäglichem Rassismus berichten. Durch die Form bringt der Film einem diese Erfahrungen so nah, wie es nur ein sehr guter Film vermag. – Nicolai Meußling
Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heiteren Stunden nur. Nach diesem Grundsatz lebte Monika, deren letzte Lebensmonate von ihrer Enkelin Emma dokumentiert wurden. Trotz ihrer fortschreitenden Demenz ist Monika ein überaus positiver Mensch, singt viel und versucht Emma so viel wie möglich mitzugeben, solange sie noch kann. Ein überaus berührender und persönlicher Film, der das Publikum die ein oder andere Träne hat vergießen lassen. Und doch ist das Ende, wenn auch emotional, sehr hoffnungsvoll, denn Emma ist hier gelungen, was sie sich vorgestellt hatte: den positiven und fröhlichen Menschen einzufangen, der ihre Großmutter hinter der Krankheit war. – Carlotta Macri
Trüb und trist – so sind die Landschaften, die Häuser, die Straßen und die Figuren. Ein Sohn holt seinen Vater aus der Psychiatrie ab und fährt mit ihm zu den Großeltern. Da die Männer nicht viel miteinander reden und sich oft nicht einmal angucken, ist die Dialogmenge, auch die visuelle, sehr gering. Trotzdem schafft es der Film, einfühlsam die vielschichtigen Figuren nahezubringen und sehr pointiert und persönlich eine Geschichte vom generationellen Trauma in Litauen zu erzählen. Die Kamera bleibt dabei oft statisch und distanziert, aber die kurzen Momente der Bewegung sind genauso emotional geladen, wie jene, in denen die Figuren aus ihren Rollen ausbrechen und ehrlich zueinander sind. – Nicolai Meußling
Mommy Issues: Er will doch nur geliebt werden. Teenager Eric (Eric Espin) lebt in einem Jugendheim und wartet auf den Besuch von seiner Mutter. Als diese nicht kommt, beschließt er, zu ihr zu laufen – und muss feststellen, dass sie ein neues Leben ohne ihn führt. Besonders beeindruckend ist das Schauspiel von Eric Espin, der seine Emotionen wortlos stark und fühlbar macht: Der Schmerz der Zurückweisung und der Versuch, dies sich nicht anmerken zu lassen, spiegeln sich in seinem Gesicht wider. Die Regisseure sind ursprünglich Kameraleute, was durch den besonderen Look des Films deutlich erkennbar ist. Er wurde auf 35 mm gedreht und zeigt die Figuren dauerhaft in nahen Einstellungen, was große Nähe erzeugt. – Julia Bayerl
Ostblock, Mercedes, Kapitalismus: Andreas und Alexej versuchen, sich nach dem Kollaps des Sozialismus im neuen System zurechtzufinden und verkaufen alte, deutsche Autos in der russischen Enklave Kaliningrad. Mit dem stetigen Wechsel der Filmkamera zu Alexejs Videorecorder, versetzt Besel den Zuschauer in Zeiten zurück, als Videos noch körnig waren und eine niedrigere Auflösung hatten. Besonders humorvoll sind die zahlreichen Schmiergeschenke, die die beiden der russischen Grenzpolizei mitbringen. Zusätzlich müssen sich die Figuren mit zwei unterschiedlichen Arten des Kapitalismus auseinandersetzen. Andreas mit Unternehmern, die die neuen Bundesländer aufkaufen, Alexej hingegen mit dem Raubtierkapitalismus der Wilden 90er. Beide Formen sind auf ihrer Art erdrückend und der Kampf dagegen fesselnd. – Patrick Friedrich Brandl
Im Leben muss man sich durchboxen – episodenhaft wird aus dem Leben von Magyelis um ihren 15. Geburtstag herum erzählt. Ruhige Standbildaufnahmen wechseln mit lebhaften, aus der Hand gefilmten Sequenzen. Die gesamte Geräuschkulisse orientiert sich an der Kameradynamik, was den dokumentarischen Charakter betont. In jedem sorgfältig gewählten Tableau sieht man die strahlende Persönlichkeit von Magyelis, die ihr Leben zwischen Boxen und den Erwartungen an Frauen in Kuba koordiniert, die gerade dabei sind, erwachsen zu werden. Magyelis tanzt, lacht, verbringt viel Zeit mit ihrer Familie und boxt sich wortwörtlich ins Leben. – Lara Hecht
Vertraue niemandem – das muss Sila bereits in jungen Jahren auf schmerzhafte Weise lernen. Das Mädchen ist auf sich alleine gestellt: zerzauste Haare, kein richtiges Zuhause und der Versuch, so viel Geld wie möglich durch den Verkauf von Süßigkeiten an Autofahrer*innen zu verdienen. Als ihr der Junge Yusuf in einer potentiell gefährlichen Situation hilft, hat sie einen Verbündeten gefunden – was für sie am Ende in schmerzhafter Enttäuschung und Einsamkeit endet. Weitgehend ohne Dialoge zeigt der Film die harte Realität und innere Gefühlswelt der beiden Kinder und schafft es auf geschickte Weise, komödiantische Elemente in die Geschichte einzubetten. Dabei bewegt sich der Film durchgehend auf einem schmalen Grat zwischen kindlicher Naivität und gefährlicher, verletzender Realität. – Lara Hecht
Räume ohne Flur. Friedrichs Werk behandelt die Demenz ihrer ehemaligen Nachbarin Frau Miko. Angelegt zwischen einem Dokumentar- und Experimentalfilm, werden durch eine Vielzahl an eklektischen Animationsstilen die Eindrücke der alten Dame zur Darstellung gebracht. Diskontinuitäten, Orientierungsverlust und das fehlende Zeitgefühl werden durch körperlose Handbewegungen oder den Blick auf verlorene Gegenstände eingefangen. Zugrunde liegen Interviews mit Frau Miko, ihrer Familie und Bekannten. – Im an die Vorführung anschließenden Q&A kritisiert die Regisseurin selbst, dass die köperlosen Stimmen Fragen über dessen Zugehörigkeiten hervorbringen. Jedoch ist genau das die Stärke. Die Eindrücke und Reaktionen des Publikums zeigen, wie viele Personen allein Frau Mikos Leben – und damit auch ihre Krankheit – berührt hat. – Constantin Bombelli
Zwei Brüder versuchen mit allen Mitteln die Demenzerkrankung ihres Vaters zu verstecken. Aus Angst davor, in ein Heim zu kommen und getrennt zu werden, werden sie kreativ. Doch als die Schuldirektorin misstrauisch wird und einen Heimbesuch plant, gehen den beiden die Ideen aus. Der Film ist ernst und bedrückend, doch lockern kleine humoristische Elemente immer wieder die Stimmung. Diese flüchtigen Stimmungsaufheller nehmen der Handlung jedoch nicht ihren ernsten Charakter, im Gegenteil: sie durchbrechen die melodramatische Stimmung und holen die Zuschauer zurück auf den Boden der Tatsachen. Das verleiht dem Film ein noch größeres Maß an Realität. – Carlotta Macri
Fast and Caring: Der Dokumentarfilm behandelt die Ups und Downs des illegalen Autosports in Irland. Die Diffing-Szene ist für viele Menschen inmitten einer Gesundheitskrise ein sicherer Hafen, ein Ventil für ihre psychischen Belastungen. Doch auch wenn das Adrenalin die Probleme in den Hintergrund rücken lässt, sind sie ständig präsent. Gerade diese ständige Anspannung überträgt sich mit Actionshots, schnellen Schnitten und anschwellender Musik auch aufs Publikum. Die Verluste, die Ängste, die Trauer, die Gefahr, aber auch die Gemeinschaft werden eingefangen. – Carlotta Macri
Hidden fates: Der Dokumentarfilm hält, was der Titel verspricht. Knapp 20 Minuten begleiten wir Sergio, Ubaldo und Yolexquys und bekommen Einblicke in die Schattenseiten der LGBTQIA+ Szene in Kuba. Doch es ist mehr als das, der Film ist auch eine Dokumentation des Vermächtnisses und Erinnerung an den Künstler Winston Hernandez, der aufgrund seiner Sexualität zur Zeit der Revolution in ein Konzentrationslager kam. Neben den beeindruckenden Aufnahmen und der Symbolik des Raben ist besonders das Sounddesign des Films bemerkenswert. Unterlegt mit alltäglichen und doch bedrohlichen Geräuschkulissen, wie einem herannahenden Zug oder dem Rattern einer Nähmaschine, zeigt der Film, dass hinter vielem mehr steckt, als es den Anschein hat. – Carlotta Macri