13.11.2025
Cinema Moralia – Folge 366

Erkundungen des Unbewussten

Herz aus Eis
Ein alptraumhaftes Märchen: La Tour de Glace
(Foto: Neue Visionen)

Lucile Hadžihalilović, Aufschrei der deutschen Filmbranche und der Verleiherpreis des Kulturstaatsministers – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 366. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Wer sowieso in den nächsten Wochen mal nach Berlin reisen wollte, für den lohnt sich der Trip ganz besonders am 23. und 24. November. Denn da ist die fran­zö­si­sche Regis­seurin Lucile Hadži­ha­li­lović auch persön­lich im Berliner City Kino Wedding zu Gast. Da läuft ihr neuester Film La Tour de Glace im Rahmen einer Retro­spek­tive, die dieser unge­wöhn­li­chen Filme­ma­cherin gewidmet ist. »Erkun­dungen des Unbe­wussten – Die Filme von Lucile Hadži­ha­li­lović« heißt das Ganze.

Hadži­ha­li­lović, geboren 1961 ist eine überaus außer­ge­wöhn­liche Filme­ma­cherin. Mit nur vier Lang­filmen in 20 Jahren hat sie eine unver­wech­sel­bare Hand­schrift entwi­ckelt und ein künst­le­ri­sches Universum geschaffen, das im zeit­genös­si­schen fran­zö­si­schen Kino einzig­artig ist. Mit ausge­prägtem Stil­willen entwirft sie myste­riöse, von der Welt abge­schie­dene Schau­plätze und widmet sich immer wieder dem Übergang von der Kindheit und Jugend zum Erwach­se­nen­alter. Ihre Erzäh­lungen setzen ganz auf das Visuelle, auf die Kraft der Bilder. Dialoge sind zweit­rangig. Ihre Filme sind von märchen­haften Motiven, vom Phan­tas­ti­schen und Unheim­li­chem geprägt und nicht in einer konkreten Zeit geschweige denn ausschließ­lich in unserer Realität verankert. Es handelt sich um Erkun­dungen des Unbe­wussten, die stets mit einem Hauch von Horror einher­gehen – eine ganz eigene ästhe­ti­sche Form des Genre­kinos.

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Im Vorfeld des Kinostarts von La Tour de Glace, der bei der dies­jäh­rigen Berlinale 2025 mit dem Preis für eine »heraus­ra­gende künst­le­ri­sche Leistung« ausge­zeichnet wurde, zeigt das Arsenal-Kino im Rahmen der Fran­zö­si­schen Filmwoche in Anwe­sen­heit von Lucile Hadži­ha­li­lović eine Werkschau ihrer zwischen 2004 und 2025 entstan­denen vier Langfilme, von denen drei hier­zu­lande nie regulär im Kino zu sehen waren.

Der neue Film erzählt von der 15-jährigen Jeanne, die in einem Waisen­haus in den Bergen lebt. Nachdem sie heimlich wegge­laufen ist, findet sie Unter­schlupf in einem Film­studio in der Stadt, wo Hans Christian Andersens Märchen »Die Schneekö­nigin« verfilmt wird. Diese wird verkör­pert von einer launi­schen Diva (die Marion Cotillard spielt). Jeanne gibt sich als Statistin aus und kommt dem kapri­ziösen, mani­pu­la­tiven Filmstar, der sich in dem Teenager selbst zu erkennen glaubt, gefähr­lich nahe. Prächtige Bilder mit kalei­do­sko­pi­schen Spie­ge­lungen und Licht­re­flexen sowie ein unheim­li­ches Sound­de­sign fügen sich zu einem alptraum­haften Märchen, das zugleich eine Reflexion über das Faszi­nosum Kino ist. Im Licht­strahl des Film­pro­jek­tors verschwimmen Fantasien und Wirk­lich­keit.

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Bei Innocence von 2004 handelt es sich um die Verfil­mung einer Erzählung von Frank Wedekind: Ein Schloss als ein myste­riöser Ort – die in einem Sarg neu ankom­mende sechs­jäh­rige Iris muss sich erst daran gewöhnen: eine Erzie­hungs­an­stalt für kleine Mädchen, umschlossen von einer hohen Mauer, mit Lampen, die den Weg im Wald beleuchten und täglichem Ballett­un­ter­richt. Es gelten strikte Regeln: Unge­horsam wird bestraft und wer zu fliehen versucht, muss für immer bleiben. Doch es gibt auch freudige Momente beim Spiel auf Wiesen und im Wasser. Ein Gefühl des Unheim­li­chen prägt das auf basie­rende märchen­haft stili­sierte Lang­film­debüt von Hadži­ha­li­lović, die den imaginären Raum der Kindheit mit glei­tenden Kame­ra­fahrten, streng kadrierten Cine­ma­scope-Bildern und düsteren Klängen traumhaft eigen­willig erkundet.

Earwig von 2021 ist die Verfil­mung einer Vorlage von Poor Things-Autor Brian Catling: Mia trägt eine Art Zahn­spange, die ihren Speichel in kleinen Glas­behäl­tern auffängt. Daraus werden Zahn­pro­thesen aus Eis herge­stellt, die täglich erneuert werden müssen. Um diese bizarre Routine kümmert sich Albert, der mit Mia in einer Wohnung mit dunklen Zimmern, einem Gemälde und einer Vitrine voll roter Gläser wohnt. Gespro­chen wird kaum – dennoch gibt es viel zu hören, neben einem trance­ar­tigen musi­ka­li­schen Leitmotiv sind das vor allem Geräusche. Als Albert erfährt, dass er Mia abgeben soll, beginnt eine Reise in sein Unbe­wusstes. Ein laby­rin­thisch-rätsel­haftes Schau­er­mär­chen mit kunst­vollen Bildern in diffusem Zwielicht, eine Welt, die mehr Seelen­land­schaft ist, denn realer Ort.

Die Unter­was­ser­auf­nahmen von großer Schönheit, mit denen Evolution in den Tiefen des Meeres beginnt, künden bereits von seiner visuellen Kraft. Der zehn­jäh­rige Nicolas glaubt, beim Tauchen eine Kinder­leiche gesehen zu haben. Das macht ihn miss­trau­isch, was die Vorgänge in der insularen Dorf­ge­mein­schaft angeht. Hier leben nur erwach­sene Frauen mit ausdrucks­losen Gesich­tern und Saug­näpfen auf dem Rücken sowie kleine Jungen. Die Frauen servieren Würmer zum Essen, treffen sich nachts zu merk­wür­digen Ritualen am Strand und bringen die Jungen für chir­ur­gi­sche Eingriffe am Bauch ins Kran­ken­haus. Die Kombi­na­tion aus Body Horror und dysto­pi­schem Sci-Fi-Genre evoziert eine hypno­ti­sche Atmo­sphäre der perma­nenten Beun­ru­hi­gung.

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Die deutsche Film­branche bleibt in einer schwie­rigen Lage. »Gesetz statt Ausver­kauf!« fordern daher 32 Verbände der deutschen Film­branche in einem öffent­li­chen Aufschrei. Darin heißt es: »Einer der wich­tigsten Bausteine der Film­för­der­re­form ist akut gefährdet: Das geplante Inves­ti­ti­ons­ver­pflich­tungs­ge­setz mit Rech­terück­be­halt, das den Produk­ti­ons­standort Deutsch­land zukunfts­si­cher macht und auch die Strea­ming­dienste in die Verant­wor­tung nimmt.
Ameri­ka­ni­sche Tec-Unter­nehmen ziehen bei Streaming, KI und Cloud-Services enormen wirt­schaft­li­chen Nutzen aus Deutsch­land. Gewinne und Werbe­ein­nahmen fließen dabei zusehends ab und fehlen auf dem heimi­schen Markt. Für den Film­standort Deutsch­land bietet eine gesetz­lich geregelte Inves­ti­ti­ons­ver­pflich­tung eine konkrete Möglich­keit, dem entge­gen­zu­wirken und dringend benö­tigtes wirt­schaft­li­ches Wachstum in Deutsch­land zu gene­rieren.«

Die deutsche Film­in­dus­trie schafft 144.000 Arbeits­plätze. Sie setzt jährlich mehr als 10 Milli­arden Euro um. Deutsch­lands Film­wirt­schaft steht für eine große Vielfalt: Arthouse, nationale und inter­na­tio­nale Block­buster, Talent-, Doku­mentar- und Anima­ti­ons­filme als Kino-, TV-Film oder Serie made in Germany und/oder als Kopro­duk­tion mit anderen EU- oder US-Produzent*innen. Sie liefert Zuschau­er­er­folge und erreicht ein Millio­nen­pu­blikum. Arthouse-Projekte erreichen im Ausland Sicht­bar­keit über Festivals und lassen den deutschen Film strahlen.

Deutsch­lands Film­ta­lente sind auf Welt­ni­veau, die wirt­schaft­li­chen Rahmen­be­din­gungen sind es im europäi­schen Vergleich schon lange nicht mehr. Die Erhöhung des BKM-Haus­haltes für die jury­ba­sierte kultu­relle Film­för­de­rung, für das Kura­to­rium junger deutscher Film und die noch ausste­hende Aufsto­ckung von DFFF/GMPF sind erste Schritte, um Deutsch­land wieder als Filmland wett­be­werbs­fähig zu machen. Ohne die Säule der Inves­ti­ti­ons­ver­pflich­tung ist das Förder­system aber nicht tragfähig.

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Der Berliner Film­ver­leih »Neue Visionen«, einer der wenigen großen Unab­hän­gigen der deutschen Film­branche wurde jetzt in Karlsruhe mit dem Verlei­her­preis des Kultur­staats­mi­nis­ters ausge­zeichnet; als einziger Verleih der deutschen Film­branche wurde der Verleih bereits zum achten Mal für sein Programm und seine Verleih­ar­beit gewürdigt.

In diesem Monat bringt »Neue Visionen« den Anima­ti­ons­film Memory Hotel ins Kino, der von Regisseur Heinrich Sabl mit aufwen­diger Stop-Motion-Technik rüber viele Jahre reali­siert wurde, ein Spielfilm über die deutsche Nach­kriegs­zeit.
Es folgt jetzt die fran­zö­si­sche Komödie Das perfekte Geschenk, Raphaële Mous­sa­firs schwarz­hu­mo­rige Film­komödie über ein turbu­lentes Weih­nachts­fest mit pein­li­chen Geschenken zwischen Fett­näpf­chen, Miss­ver­s­tänd­nissen und chao­ti­schen Fami­li­en­in­trigen.