Cinema Moralia – Folge 366
Erkundungen des Unbewussten |
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| Ein alptraumhaftes Märchen: La Tour de Glace | ||
| (Foto: Neue Visionen) | ||
Wer sowieso in den nächsten Wochen mal nach Berlin reisen wollte, für den lohnt sich der Trip ganz besonders am 23. und 24. November. Denn da ist die französische Regisseurin Lucile Hadžihalilović auch persönlich im Berliner City Kino Wedding zu Gast. Da läuft ihr neuester Film La Tour de Glace im Rahmen einer Retrospektive, die dieser ungewöhnlichen Filmemacherin gewidmet ist. »Erkundungen des Unbewussten – Die Filme von Lucile Hadžihalilović« heißt das Ganze.
Hadžihalilović, geboren 1961 ist eine überaus außergewöhnliche Filmemacherin. Mit nur vier Langfilmen in 20 Jahren hat sie eine unverwechselbare Handschrift entwickelt und ein künstlerisches Universum geschaffen, das im zeitgenössischen französischen Kino einzigartig ist. Mit ausgeprägtem Stilwillen entwirft sie mysteriöse, von der Welt abgeschiedene Schauplätze und widmet sich immer wieder dem Übergang von der Kindheit und Jugend zum Erwachsenenalter. Ihre Erzählungen setzen ganz auf das Visuelle, auf die Kraft der Bilder. Dialoge sind zweitrangig. Ihre Filme sind von märchenhaften Motiven, vom Phantastischen und Unheimlichem geprägt und nicht in einer konkreten Zeit geschweige denn ausschließlich in unserer Realität verankert. Es handelt sich um Erkundungen des Unbewussten, die stets mit einem Hauch von Horror einhergehen – eine ganz eigene ästhetische Form des Genrekinos.
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Im Vorfeld des Kinostarts von La Tour de Glace, der bei der diesjährigen Berlinale 2025 mit dem Preis für eine »herausragende künstlerische Leistung« ausgezeichnet wurde, zeigt das Arsenal-Kino im Rahmen der Französischen Filmwoche in Anwesenheit von Lucile Hadžihalilović eine Werkschau ihrer zwischen 2004 und 2025 entstandenen vier Langfilme, von denen drei hierzulande nie regulär im Kino zu sehen waren.
Der neue Film erzählt von der 15-jährigen Jeanne, die in einem Waisenhaus in den Bergen lebt. Nachdem sie heimlich weggelaufen ist, findet sie Unterschlupf in einem Filmstudio in der Stadt, wo Hans Christian Andersens Märchen »Die Schneekönigin« verfilmt wird. Diese wird verkörpert von einer launischen Diva (die Marion Cotillard spielt). Jeanne gibt sich als Statistin aus und kommt dem kapriziösen, manipulativen Filmstar, der sich in dem Teenager selbst zu erkennen glaubt, gefährlich nahe. Prächtige Bilder mit kaleidoskopischen Spiegelungen und Lichtreflexen sowie ein unheimliches Sounddesign fügen sich zu einem alptraumhaften Märchen, das zugleich eine Reflexion über das Faszinosum Kino ist. Im Lichtstrahl des Filmprojektors verschwimmen Fantasien und Wirklichkeit.
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Bei Innocence von 2004 handelt es sich um die Verfilmung einer Erzählung von Frank Wedekind: Ein Schloss als ein mysteriöser Ort – die in einem Sarg neu ankommende sechsjährige Iris muss sich erst daran gewöhnen: eine Erziehungsanstalt für kleine Mädchen, umschlossen von einer hohen Mauer, mit Lampen, die den Weg im Wald beleuchten und täglichem Ballettunterricht. Es gelten strikte Regeln: Ungehorsam wird bestraft und wer zu fliehen versucht, muss für immer bleiben. Doch es gibt auch freudige Momente beim Spiel auf Wiesen und im Wasser. Ein Gefühl des Unheimlichen prägt das auf basierende märchenhaft stilisierte Langfilmdebüt von Hadžihalilović, die den imaginären Raum der Kindheit mit gleitenden Kamerafahrten, streng kadrierten Cinemascope-Bildern und düsteren Klängen traumhaft eigenwillig erkundet.
Earwig von 2021 ist die Verfilmung einer Vorlage von Poor Things-Autor Brian Catling: Mia trägt eine Art Zahnspange, die ihren Speichel in kleinen Glasbehältern auffängt. Daraus werden Zahnprothesen aus Eis hergestellt, die täglich erneuert werden müssen. Um diese bizarre Routine kümmert sich Albert, der mit Mia in einer Wohnung mit dunklen Zimmern, einem Gemälde und einer Vitrine voll roter Gläser wohnt. Gesprochen wird kaum – dennoch gibt es viel zu hören, neben einem tranceartigen musikalischen Leitmotiv sind das vor allem Geräusche. Als Albert erfährt, dass er Mia abgeben soll, beginnt eine Reise in sein Unbewusstes. Ein labyrinthisch-rätselhaftes Schauermärchen mit kunstvollen Bildern in diffusem Zwielicht, eine Welt, die mehr Seelenlandschaft ist, denn realer Ort.
Die Unterwasseraufnahmen von großer Schönheit, mit denen Evolution in den Tiefen des Meeres beginnt, künden bereits von seiner visuellen Kraft. Der zehnjährige Nicolas glaubt, beim Tauchen eine Kinderleiche gesehen zu haben. Das macht ihn misstrauisch, was die Vorgänge in der insularen Dorfgemeinschaft angeht. Hier leben nur erwachsene Frauen mit ausdruckslosen Gesichtern und Saugnäpfen auf dem Rücken sowie kleine Jungen. Die Frauen servieren Würmer zum Essen, treffen sich nachts zu merkwürdigen Ritualen am Strand und bringen die Jungen für chirurgische Eingriffe am Bauch ins Krankenhaus. Die Kombination aus Body Horror und dystopischem Sci-Fi-Genre evoziert eine hypnotische Atmosphäre der permanenten Beunruhigung.
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Die deutsche Filmbranche bleibt in einer schwierigen Lage. »Gesetz statt Ausverkauf!« fordern daher 32 Verbände der deutschen Filmbranche in einem öffentlichen Aufschrei. Darin heißt es: »Einer der wichtigsten Bausteine der Filmförderreform ist akut gefährdet: Das geplante Investitionsverpflichtungsgesetz mit Rechterückbehalt, das den Produktionsstandort Deutschland zukunftssicher macht und auch die Streamingdienste in die Verantwortung
nimmt.
Amerikanische Tec-Unternehmen ziehen bei Streaming, KI und Cloud-Services enormen wirtschaftlichen Nutzen aus Deutschland. Gewinne und Werbeeinnahmen fließen dabei zusehends ab und fehlen auf dem heimischen Markt. Für den Filmstandort Deutschland bietet eine gesetzlich geregelte Investitionsverpflichtung eine konkrete Möglichkeit, dem entgegenzuwirken und dringend benötigtes wirtschaftliches Wachstum in Deutschland zu generieren.«
Die deutsche Filmindustrie schafft 144.000 Arbeitsplätze. Sie setzt jährlich mehr als 10 Milliarden Euro um. Deutschlands Filmwirtschaft steht für eine große Vielfalt: Arthouse, nationale und internationale Blockbuster, Talent-, Dokumentar- und Animationsfilme als Kino-, TV-Film oder Serie made in Germany und/oder als Koproduktion mit anderen EU- oder US-Produzent*innen. Sie liefert Zuschauererfolge und erreicht ein Millionenpublikum. Arthouse-Projekte erreichen im Ausland Sichtbarkeit über Festivals und lassen den deutschen Film strahlen.
Deutschlands Filmtalente sind auf Weltniveau, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind es im europäischen Vergleich schon lange nicht mehr. Die Erhöhung des BKM-Haushaltes für die jurybasierte kulturelle Filmförderung, für das Kuratorium junger deutscher Film und die noch ausstehende Aufstockung von DFFF/GMPF sind erste Schritte, um Deutschland wieder als Filmland wettbewerbsfähig zu machen. Ohne die Säule der Investitionsverpflichtung ist das Fördersystem aber nicht tragfähig.
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Der Berliner Filmverleih »Neue Visionen«, einer der wenigen großen Unabhängigen der deutschen Filmbranche wurde jetzt in Karlsruhe mit dem Verleiherpreis des Kulturstaatsministers ausgezeichnet; als einziger Verleih der deutschen Filmbranche wurde der Verleih bereits zum achten Mal für sein Programm und seine Verleiharbeit gewürdigt.
In diesem Monat bringt »Neue Visionen« den Animationsfilm Memory Hotel ins Kino, der von Regisseur Heinrich Sabl mit aufwendiger Stop-Motion-Technik rüber viele Jahre realisiert wurde, ein Spielfilm über die deutsche Nachkriegszeit.
Es folgt jetzt die französische Komödie Das
perfekte Geschenk, Raphaële Moussafirs schwarzhumorige Filmkomödie über ein turbulentes Weihnachtsfest mit peinlichen Geschenken zwischen Fettnäpfchen, Missverständnissen und chaotischen Familienintrigen.