06.11.2025

Die Vielfalt des Dokumentarischen und die Rolle des Festivals

Peacemaker
Atmosphäre der Angst: Peacemaker von Ivan Ramljak, Gewinner der Goldenen Taube
(Foto: DOK Leipzig · Ivan Ramljak)

Ein Film aus Berlin und ein kroatischer Film gewinnen, die neue Chefin stellt sich vor und die Verantwortung der öffentlich-rechtlichen Sender wird eingefordert – eine Bilanz des diesjährigen DOK Leipzig

Von Rüdiger Suchsland

Die Schau­spie­lerin Bulle Ogier wirkte in rund 50 Jahren an beinahe 100 Filmen mit. Eugénie Grandval hat ihr nun ein Portrait gewidmet, das auch die dringend nötige Erin­ne­rung an all das bietet, was das Kino grund­sätz­lich sein kann, und leider gerade oft nicht mehr ist.

Ein »typisch fran­zö­si­scher« Film, der keine Angst hat vor Anspruch und Intel­li­genz. Und ein Film, der Archiv­ma­te­rial zu einer neuen Erzählung montiert.
Ein Film aus Frank­reich und ein Highlight aus dem Programm des dies­jäh­rigen DOK Leipzig, dem wich­tigsten Doku­men­tar­film­fes­tival Deutsch­lands, und eines der besten Doku­men­tar­film­fes­ti­vals der Welt.

Am Sonn­tag­abend ging das Programm nach einer Woche zu Ende. Bereits am Samstag wurden die 17 Preise durch nicht weniger als 12 Jurys vergeben. Überhaupt kenn­zeichnet ein Überfluss an Sektionen (16) und Filmen (252) dieses Festival, dem etwas mehr Klarheit und Beschrän­kung auf Wesent­li­ches guttäte.

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Die Auswahl ist insgesamt sehr über­zeu­gend. Das belegte auch ein Statement der Jury »Deutscher Wett­be­werb« anläss­lich der Preis­ver­lei­hung, das man eindeutig auch vor dem Hinter­grund anderer Doku­men­tar­film­fes­ti­vals in München und diese Woche in Duisburg verstehen muss.

Dort dominiert das Fernsehen, in Leipzig ist es anders, finden Ines Weizman, Maike Mia Höhne und Gerd Kroske:
»Wir freuen uns, dass die öffent­lich-recht­li­chen Sender als Preis­stifter das Festival begleiten, dass wir vor jedem Screening lesen durften, dass in den Media­theken von 3Sat, MDR und ARTE die doku­men­ta­ri­sche Form ihren Platz hat. Das ist super.
Im deutschen Wett­be­werb, in dem wir lange wie kurze Filme gesichtet haben, ist kein Film in der Auswahl gewesen, der mit öffent­lich-recht­li­chen Mitteln oder auch mit den Mitteln aus der Film­för­de­rung finan­ziert worden ist. Das hinter­lässt uns mit Fragen zur Verant­wor­tung der Öffent­lich-Recht­li­chen Sender und zu den Förde­rungen.
Wenn Film­schaf­fende ihre Filme mit sehr sehr sehr begrenzten finan­zi­ellen Mitteln herstellen, ist der Grad der Selbst­aus­beu­tung Teil einer deutschen, meist roman­tisch verklärten, Lesart – muss das so sein?
Wie oft kann das so sein?
Wie oft kann die Selbst­aus­beu­tung für die Produk­tion eines Films möglich sein und warum?
Warum ist es so schwer, komplexe Filme, die von einer enga­gierten, ausge­bil­deten Gene­ra­tion gedacht und produ­ziert werden, finan­ziell zu unter­s­tützen, drama­tur­gisch mit einem sehr offenen Blick und Haltung zu begleiten und so, auch im Fernsehen Raum zu schaffen, für Filme, die anspruchs­voll kommu­ni­zieren.
Der Beweis, dass ein Publikum diese Filme will, ist bei DOK Leipzig über­deut­lich in den Publi­kums­zahlen zu sehen. Und ebenso bei den vielen Festivals bundes­weit. Der Eröff­nungs­film des DOk Leipzig, wäre aktuell in Deutsch­land nicht möglich gewesen zu produ­zieren:
Unmöglich. Wie schade!«

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Es gibt zwar nicht alles im Programm beim DOK Leipzig, aber es gibt sehr sehr viel. Es gibt Filme über so ziemlich jeden Teil der Welt, darunter in diesem Jahr gleich zwei Retro­spek­tiven über US-ameri­ka­ni­sches Kino und eine eigene Sektion über Kino aus »Mittel- und Osteuropa«.
Es gibt einen Wett­be­werb für die inter­na­tio­nalen Filme und einen für die deutschen – in beiden laufen übrigens kurze Filme von wenigen Minuten genauso wie Filme, die über zwei Stunden dauern. Denn den Kurz­film­wett­be­werb hatte Christoph Terhechte, der jetzt nach sechs Festi­val­aus­gaben auf eigenen Wunsch abtre­tende künst­le­ri­sche Leiter und Festi­val­di­rektor des DOK Leipzig, zu seinem Amts­an­tritt abge­schafft.

Die besten und inter­es­san­testen Filme laufen, das sagt die Erfahrung, aber sehr oft auch außerhalb dieser Wett­be­werbe, weil man dort in zwei Sektionen die gewis­ser­maßen mutigsten und viel­fäl­tigsten Filme sehen kann.

Etwa im Programm »Camera Lucida«, das sich, wie es im Katalog heißt, der »kaum sagbaren und gerade deshalb bestechenden Wirkung eines Bildes« widmet, die Doku­men­tar­filme zeigt, »die Kino­kon­ven­tion und Realität auf besonders luzide Weise heraus­for­dern.«
Diese Beschrei­bung ist absolut zutref­fend – und wirft doch gerade deshalb die Frage auf, warum diese tollen Filme nicht gleich im Wett­be­werb zu sehen sind.

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Und hier kommen wir zu dem, was man »die Probleme« von DOK Leipzig nennen kann, nicht erst in diesem Jahr, sondern schon seit einiger Zeit, auch vor Christoph Terhechtes Amts­an­tritt.

Terhechte, der nun nach sechs Jahren seinen Abschied nimmt, hat, das muss man zunächst betonen, DOK Leipzig stark verbes­sert und weiter­ent­wi­ckelt.
Nachdem das Festival durch eine desaströs miss­glückte Leitungs­pe­riode unter der Finnin Lena Pasaanen am Boden lag, hat er es durch die Pandemie geführt und wieder klar als das beste deutsche und eines der besten welt­weiten Doku­men­tar­fil­me­vents auf der inter­na­tio­nalen Festi­valland­karte platziert.

Dies gelang aller­dings dadurch, dass er ein paar sehr bestimmte Entschei­dungen getroffen hat, über die von Anfang an das Fach­pu­blikum geteilter Meinung gewesen ist und die auf lange Sicht das Festival auch ein bisschen einschränken: Dass im Wett­be­werb Filme aller Längen mitein­ander um die Preise wett­ei­fern, schadet der Sicht­bar­keit der Kurzfilme. Und es ignoriert, dass Kurzfilme bis zu einer bestimmten Länge eine Art eigenes Genre sind, und dass man einen zwölf-minütigen Film nur sehr schlecht, also mit Verlusten, mit einem zwei­ein­halb­stün­digen verglei­chen kann.

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Weil Terhechte sich geschmack­lich stärker für das Kino des Westens inter­es­siert, ist das Allein­stel­lungs­merkmal des einst wich­tigsten Festivals der DDR, der Blick nach Osten, in den letzten Jahren vernach­läs­sigt worden – und es ist bezeich­nend, dass es einer­seits eine eigene Sektion für Filme aus Osteuropa gibt, auf der anderen Seite im Wett­be­werb selbst unter insgesamt 20 Filmen nur zwei Filme aus Ex-Jugo­sla­wien, aber gleich sechs aus Nordame­rika.
Solche Ungleich­ge­wichte dürfte die neue Leiterin Ola Staszel mit einer – vermut­lich auch finan­ziell nötigen – Straffung des Programms ausglei­chen.

Noch wichtiger aber wäre es, die stilis­ti­schen Veren­gungen der Auswahl zu korri­gieren: In den letzten sechs Jahren, bedingt nicht nur durch den Direktor Terhechte, sondern auch durch manche Mitglieder der Auswahl­kom­mis­sion, gab es ein Über­ge­wicht an Filmen mit priva­tis­ti­schen Themen und Zugängen. Stilis­tisch domi­nierten Artcore und Slow-Cinema, die die Kunst­blase bedienen, im regulären Kino­be­trieb aber kaum eine Chance haben.

Aber Doku­men­tar­film ist so viel mehr: Archiv-, Montage- und Found-Footage-Filme konnte man in den letzten Jahren in Leipzig an einer Hand abzählen.
Es gab auch kaum enga­giertes, poli­ti­sches Kino und Agitprop, zu wenig über extre­mis­ti­sche Bedro­hungen, Kriege und Gesell­schafts­po­litik.
Und auch kaum Repor­ta­ge­filme – es ist aber auch Aufgabe eines Film­fes­ti­vals, diese Seiten des Mediums abzu­bilden.
Insgesamt zu wenig Intel­lek­tua­lität und etwas zu viel Gefühl und Befind­lich­keit, also.

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Die neue Leiterin Ola Staszel ist auch vor diesem Hinter­grund eine inter­es­sante, gute Wahl. Staszel ist derzeit die Leiterin des deutsch-polnisch-tsche­chi­schen Neiße-Film­fes­ti­vals im Dreilän­dereck und zeichnet dort für die Bereiche Doku­mentar-, Spielfilm und Geschäfts­füh­rung verant­wort­lich. Sie studierte Film- und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft sowie Euro­pa­stu­dien an den Univer­si­täten Wrocław und Aachen. Seit 1999 lebt sie in Berlin. Staszel gründete und leitete auch das Festival des mobilen Kinos »The Rolling Movies«.

Bei einem gemein­samen öffent­li­chen Gespräch zwischen Terhechte und Staszel wurden auch bei aller offen­kun­digen gegen­sei­tigen Wert­schät­zung und Sympathie gewisse Akzent­ver­schie­bungen erkennbar.

Staszel wirkt wie eine gute Zuhörerin. Ihre Liebe zu Osteuropa dürfte dem ursprüng­li­chen Allein­stel­lungs­merkmal von DOK Leipzig wieder mehr Raum geben. Viel­leicht dürfen in der Auswahl­kom­mis­sion in Zukunft auch wieder etwas mehr diverse Perspek­tiven und weniger Konfor­mität domi­nieren.

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Zugleich waren nach einer knappen Festi­val­woche klare Trends und »rote Fäden« im Programm erkennbar. So ist das Anthro­pozän, das Zeitalter der durch den Menschen (um-)gestal­teten Natur, endgültig im Kino ange­kommen.

Ein Teil davon ist der Klima­wandel und ein verän­dertes Verhältnis vieler Menschen zur Erde. Prägnant zeigte sich das in dem fran­zö­si­schen Film Il est temps d’atterrir von Raphaël Girardot und Vincent Gaullier, der den inter­na­tio­nalen Titel Time to Land trägt, also: »Zeit, sich zu vererden«, oder mit den Worten des Philo­so­phen Bruno Latour (1947-2022) formu­liert: »terres­trisch zu werden«. Latour spielt eine zentrale Rolle in diesem Film und stand den Regis­seuren auch für mehrere Online-Gespräche zur Verfügung. Dabei zeigt er sich zunehmend gezeichnet von seiner Krebs­er­kran­kung, zugleich aber als präziser Analyst mit Verve, Humor und klaren State­ments.

In seinem Buch »Kampf um Gaia« behauptet Latour die Herauf­kunft eines »neuen Klima­re­gimes«, wie er es versteht, einer umfas­senden Trans­for­ma­tion von Natur-, Wissen­schafts-, Politik- und Gesell­schafts­ver­hält­nissen. Die Natur tritt nicht länger als Objekt auf, sondern wird zum Akteur.

Mit solchen Ideen wurde Latour zum inter­na­tional bekannten Kämpfer für das Verschieben von Para­digmen, verbunden mit dem Ziel, das mensch­liche Indi­vi­duum möge seinen eigenen »Platz im Kreislauf der Natur« neu defi­nieren. Der Philosoph prägte dafür den Begriff einer »ökolo­gi­schen Klasse«, die es auf dem Planeten Erde zu erschaffen gilt, um sich grund­le­gender Optionen für das Handeln in Krisen bewusst zu werden.

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Die Filme­ma­cher Raphaël Girardot und Vincent Gaullier versuchen in ihrem Film, die oft abstrakten und meta­pho­risch formu­lierten Thesen Latours möglichst konkret in der Erfah­rungs­welt zu verankern, und stellen die Frage, wie wir dort, fern von Wissen­schaft und Univer­sität, auf Latours Fragen, Visionen und Konzepte reagieren? Regen sie Debatten an, wenn wir ihnen begegnen? Erreichen sie uns?

Dazu treffen sie in Frank­reich, Belgien und im Senegal Menschen, die Latour beim Wort nehmen, und beim Beob­achten, Beschreiben und Handeln eigene neue Wege beschreiten wollen oder es in neuen Gemein­schaften bereits tun – auf Äckern und in Wäldern, beim Fischen und Demons­trieren, als Autonome und in gängigen Struk­turen. Einige davon konfron­tieren die Regis­seure mit Latours Schriften, stoßen Gedanken und Gespräche an und lassen Bruno Latour selbst mit kurzen State­ments wiederum darauf reagieren.

Deutlich wird an manchen Stellen des Films die grund­sätz­liche Gefahr, den Menschen und sein Leben gegenüber der Natur auch moralisch und in seinem »Wert« zu rela­ti­vieren, und ihm gegenüber im »Kreislauf der Natur« (so Latours Lieb­lings­formel. Aber gibt es den überhaupt? Und wer läuft hier eigent­lich mit wem nach welchen Gesetzen?) nur einen margi­nalen Platz geben wollen.

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Bei aller Vorsicht gegenüber manchen gewagten und »steilen« Thesen des Franzosen gab es in Leipzig einige Filme, die dem Publikum eine Ahnung davon gaben, was das »neue Klima­re­gime« in der Praxis bedeutet: Der kana­di­sche Film The Inhe­ri­tors (Regie: Serge-Olivier Rondeau) schildert das Leben der Möwen. Riesige Kolonien dieser Tiere, genau gesagt der »Ring­schna­bel­möwen«, hausen nahe Montreal. Der Film zeigt diesen riesigen krei­schenden Haufen, der keinen Menschen braucht, und außer durch die Kamera auch ungestört ist. Doch der Schein des Friedens trügt. Denn die Möwen jagen, töten und fressen sich gegen­seitig, obwohl genug Futter da ist, die Stärksten kommen durch und wir Zuschauer erfahren am Schluss, dass diese offen­kundig sozi­al­dar­wi­nis­tisch verfasste Natur voll­kommen dem Menschen zu verdanken ist – er rettete die vor über 100 Jahren fast ausge­stor­benen Vögel und päppelte sie derart erfolg­reich auf, dass sie heute zur Plage geworden sind und sich von den Müll­halden der Metropole ernähren. Wir lernen: auch die Natur ist »künstlich« und auch künst­liche Natur bedroht den Menschen. Schade, dass Monsieur Latour hierzu jetzt nicht mehr seine Meinung sagen kann.

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In anderen Filmen entstehen Flüsse oder sie fließen unter der Stadt durch unter­ir­di­sche Beton­straßen, Felsen sprechen und Menschen beschwören die Kraft der Natur­ge­setze. Der Film Oscurana aus Honduras zeigte Wande­rungen der Menschen durch sich wandelnde Land­schaften.

Melt vom bekannten öster­rei­chi­schen Regisseur Nikolaus Geyr­halter ist in diesem Feld eine »sichere Bank«. Der Slow-Cinema-Style Geyr­hal­ters und seine Vorliebe für menschen­arme Räume kommt dem Ziel entgegen, im Hier und Jetzt post­his­to­ri­sche Kulissen aufzu­spüren, in denen allen­falls Maschinen noch handeln. Der Filme­ma­cher zeigt die Eiswüsten der etwa zwei Prozent der Erdober­fläche, die von gefro­renem Wasser bedeckt ist. Der Großteil unseres Süßwas­sers ist darin gespei­chert, und wird mit dem Klima­wandel frei­ge­setzt. Geyr­halter findet auch in seinem jüngsten Werk die von ihm gewohnten opulenten Bilder, diesmal einer Welt aus Eis und Schnee. Auch zeigt er das Leben der Eskimos in Kanada und wie die Schnee­ka­nonen im fran­zö­si­schen Val d’Isère den Ski-Tourismus retten.

Melt wider­legte aller­dings auch Latours Ideen, denn er zeigte oft Verhält­nisse, in denen die Menschen nicht erst heute, sondern jeher der Natur und ihrem Regime gehorchen müssen

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Andere Filme blickten weg vom Natur-Mensch-Verhältnis auf die Menschen selbst, und was sie einander antun.

So auch der kroa­ti­sche Film Peace­maker vom Regisseur Ivan Ramljak, der sich kritisch mit den Grün­dungs­my­then seiner Nation ausein­an­der­setzt und den faschis­ti­schen Kern des natio­na­lis­ti­schen Aufstands der Kroaten gegen den jugo­sla­wi­schen Staat freilegt.

Der Film beginnt mit histo­ri­schen Szenen von Menschen in Panik, weinend und in Tränen aufgelöst. Sie werden von einem Fernseh-Reporter inter­viewt; soeben ist der Poli­zei­chef von Osijek, Josip Reihl-Kir, zusammen mit zwei weiteren Beamten auf offener Straße von kroa­ti­schen Polit-Hooligans ermordet worden, während er versuchte, zwischen der serbi­schen und der kroa­ti­schen Seite in der ostkroa­ti­schen Region Slawonien zu vermit­teln. Diese Episode vom 1.7.1991 war eine der ersten im jugo­sla­wi­schen Bürger­krieg. Ob es sich um einen Auftrags­mord handelte, ist bis heute unklar und nach Lage der Dinge eher unwahr­schein­lich.

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Der Film bietet erstaun­li­ches Material: Ein Interview mit dem einzigen Über­le­benden des Mordes, und Film­ma­te­rial des kroa­ti­schen Fern­se­hens, das dort nie ausge­strahlt wurde und bis heute nicht öffent­lich zugäng­lich ist, weil es zu kompro­mit­tie­rend für die kroa­ti­sche Seite ist.

Der Film handelt von den gesell­schaft­lich-poli­ti­schen Umständen, die zum Bürger­krieg geführt haben. Regisseur Ramljak kommen­tierte seinen Film auch als »Versuch zu zeigen, dass es ein anderes Kroatien gibt«. Die kroa­ti­sche Gesell­schaft sei »tief gespalten, wie viele Gesell­schaften weltweit – von Serbien bis zu den USA«. Er glaube, so Ramljak, »wir sind Zeugen eines Versuchs einer konser­va­tiven Revo­lu­tion, die von einer laut­starken und aggres­siven Minder­heit gegen eine stille und träge Mehrheit geführt wird.«

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Der wich­tigste Preis in Leipzig ist aber der Haupt­preis im deutschen Wett­be­werb. Ihn gewann die Berliner Regis­seurin Yulia Lokshina für ihren Film Active Voca­bu­lary. Auch wenn der »Mittel­deut­sche Rundfunk«, Teil der ARD, diesen Film irrwit­zi­ger­weise als »Film aus Russland« bezeich­nete, handelt es sich um ein deutsches Werk, das größ­ten­teils in Berlin spielt und gedreht wurde.

Ohne Sender­be­tei­li­gung produ­ziert, erzählt die Regis­seurin auf mehreren Erzäh­le­benen von einer wider­s­tän­digen russi­schen Lehrerin, die von ihren Schülern Anfang 2022 als Kriegs­geg­nerin denun­ziert wurde und das Land verlassen musste. Jetzt arbeitet sie in Berlin, darf aber aufgrund der umständ­li­chen deutschen Geset­zes­lage trotz Lehrer­man­gels noch nicht wieder in ihrem Beruf arbeiten.

Diese Episode nimmt Lokshina zum Anlass einer Art Diskurs­ar­chäo­logie, die Schichten der russi­schen Gesell­schaft und der Stadt­pla­nung für ein neues »Groß-Moskau« mit grund­sätz­li­chen Über­le­gungen zur Insti­tu­tion Schule und dem Heran­wachsen verbindet, und in der Schüler einer Berliner Klasse aus Berlin-Moabit die Erleb­nisse der Lehrerin rekon­stru­ieren.

Vor allem aber geht es um Indok­tri­na­tion und Mani­pu­la­tion in sozialen Netz­werken, und den Kampf um die Wahrheit. Lokshinas Film­sprache ist expe­ri­men­tell und anspruchs­voll; formal verbindet sie Archiv­ma­te­rial, Found Footage und 3D-Animation – ein Film wie gemacht für den Konzen­tra­ti­ons­raum Kino.