Die Kinder der Generation Alpha und der universale Wert der Kultur |
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| Das Leben schreiben… mit Annie Ernaux. Der Film von Claire Simon eröffnete die 68. Ausgabe von DOK Leipzig | ||
| (Foto: DOK Leipzig · Claire Simon) | ||
»Ein Haus ohne Bücher ist arm, auch wenn schöne Teppiche seine Böden und kostbare Tapeten und Bilder die Wände bedecken.«
– Michel de Montaigne
In diesem Jahr ist es in Leipzig besonders kalt. Ob das mehr Menschen in die Kinos lockt? Sie sind jedenfalls voll, und bei DOK Leipzig sind in diesem Jahr mehr Menschen akkreditiert als je zuvor.
DOK Leipzig, das ist das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm. Es war das wichtigste Filmfestival der DDR; politisch spielte es auch eine große Rolle in der Revolutionsstadt Leipzig in den späten 80er und frühen 90er Jahren; und heute ist es das wichtigste Dokumentarfilmfestival Deutschlands.
Am Montagabend wurde die 68. Festival-Ausgabe eröffnet, mit einem Film der Französin Claire Simon: Écrire la vie. Annie Ernaux
racontée par des lycéennes et des lycéens (Writing Life: Annie Ernaux through the Eyes of High School Students)
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»Von seinen Eltern lernt man lieben, lachen, und laufen. Doch erst wenn man mit Büchern in Berührung kommt, lernt man zu denken« – man könnte glauben, es gehe Claire Simon darum, dieses Zitat des Philosophen Michel de Montaigne zu entfalten.
Vor dem Film hatten zwar nicht wenige so wie ich geglaubt, dass es sich hierbei selbstverständlich um einen Dokumentarfilm über die französische Nobelpreisträgerin Annie Ernaux handeln würde. Und tatsächlich erzählte Claire Simon vor Filmbeginn, dass ein Dokumentarfilm über die Autorin eigentlich das Projekt war, das als Angebot an sie herangetragen wurde. Aber dazu hatte sie keine Lust.
So entwickelte Simon die Idee, einen Film über Schüler zu machen, die am
Gymnasium in Literaturklassen Bücher der Nobelpreisträgerin lesen und sich zu ihnen austauschen. So gelang ihr ein sehr schöner Film über die Kinder der Generation Alpha und über den Wert der Kultur – und immer weniger ein spezieller Text über diese Autorin, auch wenn man über ihre Bücher in diesem Film eine ganze Menge erfahren kann.
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Claire Simons jüngstes Werk markiert eine weitere Auseinandersetzung der Regisseurin mit Institutionen und hier besonders mit der Institution Schule.
Sanft überschreitet der Film die Üblichkeiten und Grenzen des »Direct Cinema«, für das Simon steht, und entwirft eine kluge Reflexion über das Verhältnis von Leben und Wissen.
Ernaux beschreibt ihr Schreiben als »plat«, als »flache«, neutrale, emotionslose Sprache, und als »auto-soziobiographische« Praxis. Auch wem der letztere Begriff wie mir affektiert und vom Verlags-Marketing dominiert vorkommt – ist das nicht schon Prousts Schreiben (und vielleicht jedes Schreiben?) – wird zugestehen, dass Ernaux zu jenen gehört, die den Blick besonders schonungslos auf sich selbst richten und dabei ein Prisma fertigt, durch das andere sich selbst erblicken.
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So heißt auch Simons Werk: »Écrire la vie...« ein direkter Rückgriff auf Ernaux’ Formel, aber auch auf die französische Filmtradition des »caméra-stylo« und die poststrukturalistischen Ideen des Bildes als Index und Einschreibungsort.
Ernaux aber steht auch in einer existenzialistischen Tradition von Flaubert über Sartre zu Jacques Rancière. Rancière schrieb (in »La fable cinématographique«) über Flaubert, der stehe am Übergang zu einer neuen Epoche: dem Zusammenbruch der Unterscheidung von Aktivität und Passivität, auf der die klassische Kunstauffassung beruhte. »Flaubert träumte von einem Werk ... das allein auf dem Stil des Schriftstellers beruhte«, so Rancière.
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Écrire la vie... ist ein Film über die Schule, über Jugend, über das Einschreiben der Gesellschaft in junge Menschen durch die Schule – und über das Einschreiben des Menschseins, der Universalität des Menschen durch die Kultur.
Die Schule ist ein Ort der Disziplinierung wie der Wissensproduktion.
Bei Simon steht das Verhältnis zwischen Ästhetik und Politik im Zentrum des Films. Sie zeigt die Schule als »typisch französischen« Ort der Egalität, der gesellschaftlichen »Flachheit«. Ihr Film kann als Ode auf diese Schüler verstanden werden.
Ihre Kamera versucht ein Panoptikum zu sein, ein Auge, das alles erfassen will.
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Die Schüler reden von der Ernaux-Lektüre inspiriert und indirekt angeleitet über Liebe, über Sex, über Fremdgehen, über Macht, über Vergewaltigung, über das Erwachsenwerden, über Frauen und Männer. Sie reden wie Erwachsene, junge Erwachsene, aber reifer, als man es ihrem Alter zutrauen möchte.
Vor allem reden sie aber über das Schreiben. Über sich als Subjekte, nicht Objekte von Texten.
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Am Ende, in Saint-Christol-lez-Alès, sitzen ein paar Mädchen auf einer Bank, die wir zuvor in der Klasse gesehen haben. Warten auf ihre Busse, reden über Ernaux. Eine nach der anderen fährt davon. Schließlich bleibt eine allein.
Was tut der Film? Er zeigt, dass das Mädchen nicht allein ist: Wir hören die Stimme von Claire Simon hinter der Kamera. Die Schülerin redet mit der Regisseurin über Ernaux, sagt, sie fände deren Stil gar nicht flach und einfach oder neutral – und fügt
hinzu, sie sage das jetzt nicht nur, weil sie gerade gefilmt werde.
Gerade dadurch kommt der Film wieder in der Gegenwart, im Hier und Jetzt an.
Es geht um Kultur.
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Die Meldung kam erst kurz vor Beginn des Festivals: Ola Staszel wird die zukünftige Festivalleiterin von DOK Leipzig. Zum 1. Januar 2026 tritt sie als künstlerische Leiterin und Intendantin sowie Geschäftsführerin der Leipziger Dok-Filmwochen GmbH an, ausgestattet mit einem Fünfjahresvertrag.
Die Bewerberin, eine studierte Literatur-, Film- und Politikwissenschaftlerin, hatte sich, wie man hören konnte, aus einer ganzen Fülle von Bewerbern durchgesetzt. Auf den ersten Blick keine der ganz bekannten Namen, ist sie vermutlich eine kluge Wahl für ein Festival, das schwere Zeiten sowohl hinter sich wie vor sich hat.
Ihre Lorbeeren verdiente Staszel vor allem seit 2011 mit dem Neiße-Filmfestival im Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien, seit 2014 in leitender
Tätigkeit. Unter ihrer Mitwirkung entwickelte sich das Festival zu einer international beachteten Plattform für Filmkunst. Von 2014 bis 2025 gehörte sie der Jury der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) in Wiesbaden an.
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Es geht um Kultur. Kultur braucht Geld. Im Vorwort zum Programmheft zitiert der nach sechs Jahren scheidende Leiter Christoph Terhechte Bundespräsident Richard von Weizsäcker und dessen Rede vom 11. September 1991 in Berlin – also genau 10 Jahre vor den Attentaten, die unsere Welt veränderten.
»Kultur kostet Geld. Sie kostet Geld vor allem auch deshalb, weil der Zugang zu ihr nicht in erster Linie durch einen privat gefüllten Geldbeutel bestimmt sein darf. Vor ein paar Jahren ... habe ich ... ausgeführt, dass Kultur nicht etwas sein darf, was die öffentlichen Hände nach Belieben betreiben oder auch lassen dürfen. Substantiell hat die Förderung von Kulturellem nicht weniger eine Pflichtaufgabe der öffentlichen Haushalte zu sein, als zum Beispiel der Straßenbau, die öffentliche Sicherheit oder die Finanzierung der Gehälter im öffentlichen Dienst. Es ist grotesk, dass wir Ausgaben im kulturellen Bereich zumeist Subventionen nennen, während kein Mensch auf die Idee käme, die Ausgaben für ein Bahnhofsgebäude oder einen Spielplatz als Subventionen zu bezeichnen. Der Ausdruck lenkt uns in die falsche Richtung. Denn Kultur ist kein Luxus, den wir uns leisten oder auch streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere eigentliche innere Überlebensfähigkeit sichert.«
Terhechte kommentiert: »Seine Worte sind heute nötiger denn je. In Deutschland werden Milliarden Schulden gemacht, ohne dass dabei ein Cent für die Kultur abfällt, in Sachsen die Mittel für Inklusion und Teilhabe an Kultur abgebaut, und Kulturinstitutionen bundesweit bangen um ihre Existenz.
Gern wird immer wieder auch in Zweifel gezogen, ob Film überhaupt Kultur sei. Seien Sie herzlich eingeladen sich mit der 68. Ausgabe unseres Festivals davon zu überzeugen! Zum Beispiel mit
unserem Eröffnungsfilm. Auf einfache und gerade dadurch eindringliche Weise zeigt die Regisseurin, welche Bedeutung Kultur für unsere geistige Entwicklung hat, und wie nötig sie ist, um unser Wertesystem herauszubilden und uns zu politisch denkenden Menschen zu machen. Kultur ist für eine demokratische Gesellschaft von fundamentaler Bedeutung.«