30.10.2025

Die Kinder der Generation Alpha und der universale Wert der Kultur

Écrire la vie. Annie Ernaux racontée par des lycéennes et des lycéens
Das Leben schreiben… mit Annie Ernaux. Der Film von Claire Simon eröffnete die 68. Ausgabe von DOK Leipzig
(Foto: DOK Leipzig · Claire Simon)

»Es geht um Kultur«: Zum Auftakt des 68. DOK Leipzig arbeitete die Eröffnungsveranstaltung gegen das Vergessen des Kinos und der Künste

Von Rüdiger Suchsland

»Ein Haus ohne Bücher ist arm, auch wenn schöne Teppiche seine Böden und kostbare Tapeten und Bilder die Wände bedecken.«
– Michel de Montaigne

In diesem Jahr ist es in Leipzig besonders kalt. Ob das mehr Menschen in die Kinos lockt? Sie sind jeden­falls voll, und bei DOK Leipzig sind in diesem Jahr mehr Menschen akkre­di­tiert als je zuvor.

DOK Leipzig, das ist das Inter­na­tio­nale Leipziger Festival für Doku­mentar- und Anima­ti­ons­film. Es war das wich­tigste Film­fes­tival der DDR; politisch spielte es auch eine große Rolle in der Revo­lu­ti­ons­stadt Leipzig in den späten 80er und frühen 90er Jahren; und heute ist es das wich­tigste Doku­men­tar­film­fes­tival Deutsch­lands.
Am Montag­abend wurde die 68. Festival-Ausgabe eröffnet, mit einem Film der Französin Claire Simon: Écrire la vie. Annie Ernaux racontée par des lycéennes et des lycéens (Writing Life: Annie Ernaux through the Eyes of High School Students)

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»Von seinen Eltern lernt man lieben, lachen, und laufen. Doch erst wenn man mit Büchern in Berührung kommt, lernt man zu denken« – man könnte glauben, es gehe Claire Simon darum, dieses Zitat des Philo­so­phen Michel de Montaigne zu entfalten.

Vor dem Film hatten zwar nicht wenige so wie ich geglaubt, dass es sich hierbei selbst­ver­s­tänd­lich um einen Doku­men­tar­film über die fran­zö­si­sche Nobel­preis­trä­gerin Annie Ernaux handeln würde. Und tatsäch­lich erzählte Claire Simon vor Film­be­ginn, dass ein Doku­men­tar­film über die Autorin eigent­lich das Projekt war, das als Angebot an sie heran­ge­tragen wurde. Aber dazu hatte sie keine Lust.
So entwi­ckelte Simon die Idee, einen Film über Schüler zu machen, die am Gymnasium in Lite­ra­tur­klassen Bücher der Nobel­preis­trä­gerin lesen und sich zu ihnen austau­schen. So gelang ihr ein sehr schöner Film über die Kinder der Gene­ra­tion Alpha und über den Wert der Kultur – und immer weniger ein spezi­eller Text über diese Autorin, auch wenn man über ihre Bücher in diesem Film eine ganze Menge erfahren kann.

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Claire Simons jüngstes Werk markiert eine weitere Ausein­an­der­set­zung der Regis­seurin mit Insti­tu­tionen und hier besonders mit der Insti­tu­tion Schule.

Sanft über­schreitet der Film die Üblich­keiten und Grenzen des »Direct Cinema«, für das Simon steht, und entwirft eine kluge Reflexion über das Verhältnis von Leben und Wissen.

Ernaux beschreibt ihr Schreiben als »plat«, als »flache«, neutrale, emoti­ons­lose Sprache, und als »auto-sozio­bio­gra­phi­sche« Praxis. Auch wem der letztere Begriff wie mir affek­tiert und vom Verlags-Marketing dominiert vorkommt – ist das nicht schon Prousts Schreiben (und viel­leicht jedes Schreiben?) – wird zuge­stehen, dass Ernaux zu jenen gehört, die den Blick besonders scho­nungslos auf sich selbst richten und dabei ein Prisma fertigt, durch das andere sich selbst erblicken.

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So heißt auch Simons Werk: »Écrire la vie...« ein direkter Rückgriff auf Ernaux’ Formel, aber auch auf die fran­zö­si­sche Film­tra­di­tion des »caméra-stylo« und die post­struk­tu­ra­lis­ti­schen Ideen des Bildes als Index und Einschrei­bungsort.

Ernaux aber steht auch in einer exis­ten­zia­lis­ti­schen Tradition von Flaubert über Sartre zu Jacques Rancière. Rancière schrieb (in »La fable ciné­ma­to­gra­phique«) über Flaubert, der stehe am Übergang zu einer neuen Epoche: dem Zusam­men­bruch der Unter­schei­dung von Aktivität und Passi­vität, auf der die klas­si­sche Kunst­auf­fas­sung beruhte. »Flaubert träumte von einem Werk ... das allein auf dem Stil des Schrift­stel­lers beruhte«, so Rancière.

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Écrire la vie... ist ein Film über die Schule, über Jugend, über das Einschreiben der Gesell­schaft in junge Menschen durch die Schule – und über das Einschreiben des Mensch­seins, der Univer­sa­lität des Menschen durch die Kultur.
Die Schule ist ein Ort der Diszi­pli­nie­rung wie der Wissens­pro­duk­tion.

Bei Simon steht das Verhältnis zwischen Ästhetik und Politik im Zentrum des Films. Sie zeigt die Schule als »typisch fran­zö­si­schen« Ort der Egalität, der gesell­schaft­li­chen »Flachheit«. Ihr Film kann als Ode auf diese Schüler verstanden werden.

Ihre Kamera versucht ein Panop­tikum zu sein, ein Auge, das alles erfassen will.

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Die Schüler reden von der Ernaux-Lektüre inspi­riert und indirekt ange­leitet über Liebe, über Sex, über Fremd­gehen, über Macht, über Verge­wal­ti­gung, über das Erwach­sen­werden, über Frauen und Männer. Sie reden wie Erwach­sene, junge Erwach­sene, aber reifer, als man es ihrem Alter zutrauen möchte.

Vor allem reden sie aber über das Schreiben. Über sich als Subjekte, nicht Objekte von Texten.

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Am Ende, in Saint-Christol-lez-Alès, sitzen ein paar Mädchen auf einer Bank, die wir zuvor in der Klasse gesehen haben. Warten auf ihre Busse, reden über Ernaux. Eine nach der anderen fährt davon. Schließ­lich bleibt eine allein.
Was tut der Film? Er zeigt, dass das Mädchen nicht allein ist: Wir hören die Stimme von Claire Simon hinter der Kamera. Die Schülerin redet mit der Regis­seurin über Ernaux, sagt, sie fände deren Stil gar nicht flach und einfach oder neutral – und fügt hinzu, sie sage das jetzt nicht nur, weil sie gerade gefilmt werde.

Gerade dadurch kommt der Film wieder in der Gegenwart, im Hier und Jetzt an.

Es geht um Kultur.

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Die Meldung kam erst kurz vor Beginn des Festivals: Ola Staszel wird die zukünf­tige Festi­val­lei­terin von DOK Leipzig. Zum 1. Januar 2026 tritt sie als künst­le­ri­sche Leiterin und Inten­dantin sowie Geschäfts­füh­rerin der Leipziger Dok-Film­wo­chen GmbH an, ausge­stattet mit einem Fünf­jah­res­ver­trag.

Die Bewer­berin, eine studierte Literatur-, Film- und Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin, hatte sich, wie man hören konnte, aus einer ganzen Fülle von Bewerbern durch­ge­setzt. Auf den ersten Blick keine der ganz bekannten Namen, ist sie vermut­lich eine kluge Wahl für ein Festival, das schwere Zeiten sowohl hinter sich wie vor sich hat.
Ihre Lorbeeren verdiente Staszel vor allem seit 2011 mit dem Neiße-Film­fes­tival im Dreilän­dereck Deutsch­land-Polen-Tsche­chien, seit 2014 in leitender Tätigkeit. Unter ihrer Mitwir­kung entwi­ckelte sich das Festival zu einer inter­na­tional beach­teten Plattform für Filmkunst. Von 2014 bis 2025 gehörte sie der Jury der Deutschen Film- und Medi­en­be­wer­tung (FBW) in Wiesbaden an.

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Es geht um Kultur. Kultur braucht Geld. Im Vorwort zum Programm­heft zitiert der nach sechs Jahren schei­dende Leiter Christoph Terhechte Bunde­sprä­si­dent Richard von Weiz­sä­cker und dessen Rede vom 11. September 1991 in Berlin – also genau 10 Jahre vor den Atten­taten, die unsere Welt verän­derten.

»Kultur kostet Geld. Sie kostet Geld vor allem auch deshalb, weil der Zugang zu ihr nicht in erster Linie durch einen privat gefüllten Geld­beutel bestimmt sein darf. Vor ein paar Jahren ... habe ich ... ausge­führt, dass Kultur nicht etwas sein darf, was die öffent­li­chen Hände nach Belieben betreiben oder auch lassen dürfen. Substan­tiell hat die Förderung von Kultu­rellem nicht weniger eine Pflicht­auf­gabe der öffent­li­chen Haushalte zu sein, als zum Beispiel der Straßenbau, die öffent­liche Sicher­heit oder die Finan­zie­rung der Gehälter im öffent­li­chen Dienst. Es ist grotesk, dass wir Ausgaben im kultu­rellen Bereich zumeist Subven­tionen nennen, während kein Mensch auf die Idee käme, die Ausgaben für ein Bahn­hofs­ge­bäude oder einen Spiel­platz als Subven­tionen zu bezeichnen. Der Ausdruck lenkt uns in die falsche Richtung. Denn Kultur ist kein Luxus, den wir uns leisten oder auch streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere eigent­liche innere Über­le­bens­fähig­keit sichert.«

Terhechte kommen­tiert: »Seine Worte sind heute nötiger denn je. In Deutsch­land werden Milli­arden Schulden gemacht, ohne dass dabei ein Cent für die Kultur abfällt, in Sachsen die Mittel für Inklusion und Teilhabe an Kultur abgebaut, und Kultur­in­sti­tu­tionen bundes­weit bangen um ihre Existenz.
Gern wird immer wieder auch in Zweifel gezogen, ob Film überhaupt Kultur sei. Seien Sie herzlich einge­laden sich mit der 68. Ausgabe unseres Festivals davon zu über­zeugen! Zum Beispiel mit unserem Eröff­nungs­film. Auf einfache und gerade dadurch eindring­liche Weise zeigt die Regis­seurin, welche Bedeutung Kultur für unsere geistige Entwick­lung hat, und wie nötig sie ist, um unser Werte­system heraus­zu­bilden und uns zu politisch denkenden Menschen zu machen. Kultur ist für eine demo­kra­ti­sche Gesell­schaft von funda­men­taler Bedeutung.«