Kurze Wege, lange Wirkung |
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| Gesellschaftliche Zonenrandgebiete in Tota Alves' Wir haben einen Film gedreht | ||
| (Foto: Doxs Ruhr 2025) | ||
Von Axel Timo Purr
Vielleicht mag das überraschend klingen, doch es ist so: Wer Überraschungen liebt, fahre – wie ich – nach Bochum. Oder nach Essen. Oder nach Witten, Gelsenkirchen, Herdecke, Moers, Dortmund. Denn dort, in den Städten, die früher vom Feuer der Hochöfen glühten, brennt heute ein anderes Licht: das des dokumentarischen Kinos.
Ich rede vom DOXS RUHR, jenem Dokumentarfilmfestival für junge Menschen, das seit Jahren beweist, dass Filmvermittlung kein
pädagogischer Anhang sein muss, sondern Kino im besten Sinn: offen, mutig, widersprüchlich. Und 2025, bei seiner dreizehnten Ausgabe, war das alles – wie jedes Mal – so neu wie überraschend. So wie man sich das Leben normalerweise wünscht.
Man kann viel über das Ruhrgebiet sagen, aber nicht, dass es sich eilig hat. Hier dauert alles genau so lange, wie es dauern muss. Und das ist selten mehr als 15 Minuten. Vom Bahnhof zum Kino, vom Kino ins LiBuddha (nicht nur eine der besten Fußballkneipen Deutschlands), vom Film zur Diskussion. Wer von der »15-Minuten-Stadt« schwärmt, sollte hierherkommen: in ein polyzentrisches Labyrinth, in dem man zwar immer ein bisschen verloren ist, aber nie wirklich allein. Und diese Dichte, dieses Nah-an-allem, das überträgt sich auf das Festival selbst. Die Wege sind kurz, aber die Gedanken, die es anstößt, reichen weit.
Der Auftakt im Essener Astra-Theater, einem jener prachtvollen Filmtempel des Ruhrgebiets, die von der Zeit erzählen, als die Region noch durch ihre Kohle »Kohle« hatte, hätte mit Drei Versuche der Gojfizierung von Michaela Kobsa-Mark passender kaum sein können. Schon der Titel klingt nach Selbstversuch, und genau das ist der Film auch. Michaela reicht’s – sie will raus aus den Zuschreibungen, raus aus den Fragen nach Herkunft und Religion.
Raus aus dem, was andere in ihr sehen.
Das Ergebnis ist ein scharfes, schlingensiefsches Reenactment, halb Performance, halb Identitätserosion – und vor allem: eine immer wieder humorvolle Zumutung. Und dazu eine produktive. Denn was mich hier so wie fast immer auf diesem Festival überrascht und beeindruckt, ist das Publikum. Schüler:innen, auch mit muslimischem Hintergrund, Lehrkräfte, ältere Besucher – niemand duckt sich weg, das hervorragend kuratierte
Gespräche ist ein Dialog, kein Vorwurf. Selbst in der alten Synagoge von Essen, einen Tag später, bleibt der Dialog offen, respektvoll, neugierig. Der Film, der alles in Frage stellt, schafft ein Gespräch. Und das ist, in diesen Zeiten, mehr, als die meisten vielleicht erwarten. Ich habe selten erlebt, dass Filmvermittlung so organisch, so heilsam wirken kann.
Als abendliche Eröffnung des Festivals wird Writing Hawa von Najiba und Rasul Noori gezeigt. Najibas Mutter zieht Fäden durch Stoff, während in Kabul die Taliban zurückkehren. 52 Jahre, Zwangsehe, und plötzlich: Lesenlernen, Schreiben, Selbstermächtigung. Es sind diese stillen Gesten, die groß werden, weil sie überleben. Der Film wechselt zwischen Kabul und Paris, zwischen
Bedrohung und Freiheit – und bleibt dabei stets bei den Frauen, ihren Blicken, ihren Stimmen.
Nach der Vorführung im Metropolis, dem Bahnhofskino, gibt es keinen Frontalunterricht, keine didaktische Abfrage, sondern ein Gespräch – ernsthaft, neugierig, respektvoll.
Dann: der DOCracy Award. Verliehen von einer Schülerjury an Bürglkopf von Lisa Polster. Ein Film über ein Rückkehrzentrum für Asylbewerber:innen auf 1300 Metern Höhe, irgendwo im österreichischen Nirgendwo. »Wenn ich jemandem erzähle, wo ich hier bin, glaubt mir keiner«, sagt Mehmet. Draußen Wiesen, drinnen kein WLAN. Touristen im Tal, Vergessene im Berg. Ein österreichisches Schweigekammerspiel. Formal etwas zu erratisch und lang, aber inhaltlich – ein Schlag in den Magen. Und wichtig, weil der Film das Schweigen hörbar macht.
Einer der inspirierendsten Abende fand in der Kulturfabrik Bochum, im großartigen @Zanke statt – ein Ort, der das neue Ruhrgebiet nicht besser repräsentieren könnten, in dem der Geist der Antifa genauso lebendig ist wie alte Turnhallen und neue Träume. Hier kuratierte das Video-Art-Kollektiv Nasenrücken gemeinsam mit kino.for you einen Experimentalabend, bei dem nicht nur das Publikum auf die Filme reagierte, sondern die Filme aufeinander, ein vibrierendes, assoziatives Ping-Pong, das sich aus den klug ausgewählten Beiträgen
Blood & Flowers (Sabina Gryczan), The Electric Bull Riding Contest (Ben Slotover), Sexy (ein frühes Experiment der Sonne und Mond Regisseurin Kurdwin Ayub) und Swift Economy (Frances Hennigan) zusammensetzte. Zwischen Feminismus, Körper, Arbeit und Ekstase ergab sich ein Stromstoß, der Experimentalfilm wieder aufregend machte. Kein akademisches Zitatkino, sondern pulsierendes, wildes Erzählen jenseits
linearer Logik und ausgetretener Pfade des narrativen Kinos.
Als Mitglied der ECFA-Jury – der European Children’s Film Association – war es ein großer Spaß und eine umso größere Bereicherung, eine Reihe von Produktionen der diesjährigen Ausgabe von DOXS RUHR ganz besonders intensiv zu sehen und zu diskutieren.
Wir haben einen Film gedreht von Tota Alves führt mitten hinein in einen portugiesischen Sommer in Porto, gesellschaftliche Zonenrandgebiete, Mädchenfreundschaften und Perlenarmbänder. Jede Einstellung wirkt wie ein kleines Gemälde, leicht, aber nie belanglos. In Jools von Ezra Verbist – einem bewegenden Kurzfilm, der mehr Zeit verdient hätte – verwandelt ein Mädchen mit Gehbehinderung ihr Anderssein in
Energie. Ihr Lachen ist Widerstand. A Place to Call Home von Parisa Aminolahi fragt mit poetischer Klarheit, was Heimat eigentlich heißt, wenn man zwischen Teheran, Cardiff und Amsterdam lebt. With Grace von Dina Mwende erzählt von einer dreizehnjährigen Kenianerin, die dem ausbleibenden Regen trotzt. Kein pädagogisches Lehrstück, keine Reproduktion der ewigen drei Ks (Kriege, Krankheiten, Katastrophen) im afrikanischen
Kontext, sondern ein überdrehtes, vibrierendes Stück Klima-Alltag, das spüren lässt, was Veränderung bedeutet. Niñxs von Kani Lapuerta ist dagegen ein radikaler, reflexiver Blick auf Transidentität in Mexiko – mit Brüchen, Metaebenen und jener jugendlichen Selbstironie, die man kaum inszenieren kann. Und dann Heavy Metal Dreams von Marco Giacopuzzi, der in den letzten Jahren immer wieder seine empathischen Fähigkeiten
bewiesen hat und auch in seinem neuen Film in ein zärtliches Coming-of-Age eintaucht. Nur dass es dieses Mal etwas lauter ist, denn Justus (12) und Max (12) stemmen sich mit ihren Gitarren gegen die Welt. Zwischen Schule, Verstärkerkabel und Elternhaus passt ihr ganzes Leben in vier Akkorde und eine Haltung: laut sein, echt bleiben, weitermachen. Auch nach dem Film, denn ihre Band gibt im Stadtzentrum von Witten am späten Nachmittag ein Konzert. Ganz anders ist Fabula von Vladimir Tomic und Ana Pavlovic – eine aufregend animierte Miniatur über Kriegstraumata, erzählt als Kinderfantasie: »Mama kam aus Serbien auf einer fliegenden Kartoffel.« Großer Witz, große Wehmut. Und dann The Invisible Ones von Martijn Blekendaal, der seit seinem ungewöhnlichen, aufregenden
The Man Who Looked Beyond The Horizon über Bas Jan Ader auch hier wieder Grenzen überschreitet: Kinder, die
unsichtbar sein müssen, werden zu Superheld:innen, weil sie es müssen. Blekendaal wirft hier Traumatisierungen der unterschiedlichsten Art und Zeit in einen Topf und stellt das Potential statt das Defizit von Traumata in den Vordergrund. Das ist so überraschend wie sinnvoll, doch wäre sein Film ohne die abstruse Rahmenhandlung um ein paar Wissenschaftler deutlich stärker gewesen.
Der ECFA Award schließlich ging – völlig zu Recht – an Zirkuskind von Julia Lemke und Anna Koch. Ein Film, der aus der Perspektive eines elfjährigen Jungen aus einer fahrenden Familie eine andere deutsche Realität sichtbar macht. Ohne Exotismus, ohne Pathos, mit unaufdringlicher Zärtlichkeit. Ein Film, den übrigens inzwischen jeder sehen kann (und nicht nur in einer der Festivalblasen), denn seit vorletzter Woche läuft Zirkuskind sogar im ganz normalen Kino.
Diese Filme, jeder auf seine Weise, bilden ein komplexes Kaleidoskop jugendlicher und immer wieder sehr überraschender Weltaneignung. Sie zeigen, dass Dokumentarfilm für junge Zuschauer nicht erklären muss, sondern zeigen darf – und dass das Reale manchmal der schönste Stoff für Träume ist. Und vielleicht ist das das größte Geheimnis von DOXS RUHR: Es tut nicht so, als müsse man Kino erklären. Es vertraut darauf, dass Kino wirkt.
Und es wirkt. In 15 Minuten, mal mehr, mal weniger.