06.11.2025

Kurze Wege, lange Wirkung

We made a film
Gesellschaftliche Zonenrandgebiete in Tota Alves' Wir haben einen Film gedreht
(Foto: Doxs Ruhr 2025)

Das DOXS RUHR No 13 war kein Festival der großen Gesten, sondern der kleinen Offenbarungen. Es zeigte, dass Dokumentarfilm für junges Publikum nicht pädagogisch, sondern poetisch sein kann – und dafür geliebt wird

Von Axel Timo Purr

Viel­leicht mag das über­ra­schend klingen, doch es ist so: Wer Über­ra­schungen liebt, fahre – wie ich – nach Bochum. Oder nach Essen. Oder nach Witten, Gelsen­kir­chen, Herdecke, Moers, Dortmund. Denn dort, in den Städten, die früher vom Feuer der Hochöfen glühten, brennt heute ein anderes Licht: das des doku­men­ta­ri­schen Kinos.
Ich rede vom DOXS RUHR, jenem Doku­men­tar­film­fes­tival für junge Menschen, das seit Jahren beweist, dass Film­ver­mitt­lung kein pädago­gi­scher Anhang sein muss, sondern Kino im besten Sinn: offen, mutig, wider­sprüch­lich. Und 2025, bei seiner drei­zehnten Ausgabe, war das alles – wie jedes Mal – so neu wie über­ra­schend. So wie man sich das Leben norma­ler­weise wünscht.

Die Stadt, die 15 Minuten dauert

Man kann viel über das Ruhr­ge­biet sagen, aber nicht, dass es sich eilig hat. Hier dauert alles genau so lange, wie es dauern muss. Und das ist selten mehr als 15 Minuten. Vom Bahnhof zum Kino, vom Kino ins LiBuddha (nicht nur eine der besten Fußball­kneipen Deutsch­lands), vom Film zur Diskus­sion. Wer von der »15-Minuten-Stadt« schwärmt, sollte hier­her­kommen: in ein poly­zen­tri­sches Labyrinth, in dem man zwar immer ein bisschen verloren ist, aber nie wirklich allein. Und diese Dichte, dieses Nah-an-allem, das überträgt sich auf das Festival selbst. Die Wege sind kurz, aber die Gedanken, die es anstößt, reichen weit.

Eröffnung mit Kante

Der Auftakt im Essener Astra-Theater, einem jener pracht­vollen Film­tempel des Ruhr­ge­biets, die von der Zeit erzählen, als die Region noch durch ihre Kohle »Kohle« hatte, hätte mit Drei Versuche der Gojfi­zie­rung von Michaela Kobsa-Mark passender kaum sein können. Schon der Titel klingt nach Selbst­ver­such, und genau das ist der Film auch. Michaela reicht’s – sie will raus aus den Zuschrei­bungen, raus aus den Fragen nach Herkunft und Religion. Raus aus dem, was andere in ihr sehen.
Das Ergebnis ist ein scharfes, schlin­gen­sief­sches Reenact­ment, halb Perfor­mance, halb Iden­ti­täts­er­o­sion – und vor allem: eine immer wieder humor­volle Zumutung. Und dazu eine produk­tive. Denn was mich hier so wie fast immer auf diesem Festival über­rascht und beein­druckt, ist das Publikum. Schüler:innen, auch mit musli­mi­schem Hinter­grund, Lehr­kräfte, ältere Besucher – niemand duckt sich weg, das hervor­ra­gend kura­tierte Gespräche ist ein Dialog, kein Vorwurf. Selbst in der alten Synagoge von Essen, einen Tag später, bleibt der Dialog offen, respekt­voll, neugierig. Der Film, der alles in Frage stellt, schafft ein Gespräch. Und das ist, in diesen Zeiten, mehr, als die meisten viel­leicht erwarten. Ich habe selten erlebt, dass Film­ver­mitt­lung so organisch, so heilsam wirken kann.

Die Kunst, sich nicht unter­kriegen zu lassen

Als abend­liche Eröffnung des Festivals wird Writing Hawa von Najiba und Rasul Noori gezeigt. Najibas Mutter zieht Fäden durch Stoff, während in Kabul die Taliban zurück­kehren. 52 Jahre, Zwangsehe, und plötzlich: Lesen­lernen, Schreiben, Selbst­er­mäch­ti­gung. Es sind diese stillen Gesten, die groß werden, weil sie überleben. Der Film wechselt zwischen Kabul und Paris, zwischen Bedrohung und Freiheit – und bleibt dabei stets bei den Frauen, ihren Blicken, ihren Stimmen.
Nach der Vorfüh­rung im Metro­polis, dem Bahn­hofs­kino, gibt es keinen Fron­tal­un­ter­richt, keine didak­ti­sche Abfrage, sondern ein Gespräch – ernsthaft, neugierig, respekt­voll.

Albtraum im Feri­en­pa­ra­dies

Dann: der DOCracy Award. Verliehen von einer Schü­ler­jury an Bürglkopf von Lisa Polster. Ein Film über ein Rück­kehr­zen­trum für Asyl­be­werber:innen auf 1300 Metern Höhe, irgendwo im öster­rei­chi­schen Nirgendwo. »Wenn ich jemandem erzähle, wo ich hier bin, glaubt mir keiner«, sagt Mehmet. Draußen Wiesen, drinnen kein WLAN. Touristen im Tal, Verges­sene im Berg. Ein öster­rei­chi­sches Schwei­ge­kam­mer­spiel. Formal etwas zu erratisch und lang, aber inhalt­lich – ein Schlag in den Magen. Und wichtig, weil der Film das Schweigen hörbar macht.

Kollek­tive Rituale und Strom­stöße

Einer der inspi­rie­rendsten Abende fand in der Kultur­fa­brik Bochum, im groß­ar­tigen @Zanke statt – ein Ort, der das neue Ruhr­ge­biet nicht besser reprä­sen­tieren könnten, in dem der Geist der Antifa genauso lebendig ist wie alte Turn­hallen und neue Träume. Hier kura­tierte das Video-Art-Kollektiv Nasen­rü­cken gemeinsam mit kino.for you einen Expe­ri­men­tal­abend, bei dem nicht nur das Publikum auf die Filme reagierte, sondern die Filme aufein­ander, ein vibrie­rendes, asso­zia­tives Ping-Pong, das sich aus den klug ausge­wählten Beiträgen
Blood & Flowers (Sabina Gryczan), The Electric Bull Riding Contest (Ben Slotover), Sexy (ein frühes Expe­ri­ment der Sonne und Mond Regis­seurin Kurdwin Ayub) und Swift Economy (Frances Hennigan) zusam­men­setzte. Zwischen Femi­nismus, Körper, Arbeit und Ekstase ergab sich ein Stromstoß, der Expe­ri­men­tal­film wieder aufregend machte. Kein akade­mi­sches Zitatkino, sondern pulsie­rendes, wildes Erzählen jenseits linearer Logik und ausge­tre­tener Pfade des narra­tiven Kinos.

Kino als Möglich­keits­raum

Als Mitglied der ECFA-Jury – der European Children’s Film Asso­cia­tion – war es ein großer Spaß und eine umso größere Berei­che­rung, eine Reihe von Produk­tionen der dies­jäh­rigen Ausgabe von DOXS RUHR ganz besonders intensiv zu sehen und zu disku­tieren.

Wir haben einen Film gedreht von Tota Alves führt mitten hinein in einen portu­gie­si­schen Sommer in Porto, gesell­schaft­liche Zonen­rand­ge­biete, Mädchen­freund­schaften und Perlen­arm­bänder. Jede Einstel­lung wirkt wie ein kleines Gemälde, leicht, aber nie belanglos. In Jools von Ezra Verbist – einem bewe­genden Kurzfilm, der mehr Zeit verdient hätte – verwan­delt ein Mädchen mit Gehbe­hin­de­rung ihr Anders­sein in Energie. Ihr Lachen ist Wider­stand. A Place to Call Home von Parisa Aminolahi fragt mit poeti­scher Klarheit, was Heimat eigent­lich heißt, wenn man zwischen Teheran, Cardiff und Amsterdam lebt. With Grace von Dina Mwende erzählt von einer drei­zehn­jäh­rigen Kenia­nerin, die dem ausblei­benden Regen trotzt. Kein pädago­gi­sches Lehrstück, keine Repro­duk­tion der ewigen drei Ks (Kriege, Krank­heiten, Kata­stro­phen) im afri­ka­ni­schen Kontext, sondern ein über­drehtes, vibrie­rendes Stück Klima-Alltag, das spüren lässt, was Verän­de­rung bedeutet. Niñxs von Kani Lapuerta ist dagegen ein radikaler, refle­xiver Blick auf Tran­si­den­tität in Mexiko – mit Brüchen, Meta­ebenen und jener jugend­li­chen Selbst­ironie, die man kaum insze­nieren kann. Und dann Heavy Metal Dreams von Marco Giaco­puzzi, der in den letzten Jahren immer wieder seine empa­thi­schen Fähig­keiten bewiesen hat und auch in seinem neuen Film in ein zärt­li­ches Coming-of-Age eintaucht. Nur dass es dieses Mal etwas lauter ist, denn Justus (12) und Max (12) stemmen sich mit ihren Gitarren gegen die Welt. Zwischen Schule, Vers­tär­ker­kabel und Eltern­haus passt ihr ganzes Leben in vier Akkorde und eine Haltung: laut sein, echt bleiben, weiter­ma­chen. Auch nach dem Film, denn ihre Band gibt im Stadt­zen­trum von Witten am späten Nach­mittag ein Konzert. Ganz anders ist Fabula von Vladimir Tomic und Ana Pavlovic – eine aufregend animierte Miniatur über Kriegs­trau­mata, erzählt als Kinder­fan­tasie: »Mama kam aus Serbien auf einer flie­genden Kartoffel.« Großer Witz, große Wehmut. Und dann The Invisible Ones von Martijn Blekendaal, der seit seinem unge­wöhn­li­chen, aufre­genden
The Man Who Looked Beyond The Horizon über Bas Jan Ader auch hier wieder Grenzen über­schreitet: Kinder, die unsichtbar sein müssen, werden zu Superheld:innen, weil sie es müssen. Blekendaal wirft hier Trau­ma­ti­sie­rungen der unter­schied­lichsten Art und Zeit in einen Topf und stellt das Potential statt das Defizit von Traumata in den Vorder­grund. Das ist so über­ra­schend wie sinnvoll, doch wäre sein Film ohne die abstruse Rahmen­hand­lung um ein paar Wissen­schaftler deutlich stärker gewesen.

Der ECFA Award schließ­lich ging – völlig zu Recht – an Zirkus­kind von Julia Lemke und Anna Koch. Ein Film, der aus der Perspek­tive eines elfjäh­rigen Jungen aus einer fahrenden Familie eine andere deutsche Realität sichtbar macht. Ohne Exotismus, ohne Pathos, mit unauf­dring­li­cher Zärt­lich­keit. Ein Film, den übrigens inzwi­schen jeder sehen kann (und nicht nur in einer der Festi­val­b­lasen), denn seit vorletzter Woche läuft Zirkus­kind sogar im ganz normalen Kino.

Diese Filme, jeder auf seine Weise, bilden ein komplexes Kalei­do­skop jugend­li­cher und immer wieder sehr über­ra­schender Welt­an­eig­nung. Sie zeigen, dass Doku­men­tar­film für junge Zuschauer nicht erklären muss, sondern zeigen darf – und dass das Reale manchmal der schönste Stoff für Träume ist. Und viel­leicht ist das das größte Geheimnis von DOXS RUHR: Es tut nicht so, als müsse man Kino erklären. Es vertraut darauf, dass Kino wirkt.

Und es wirkt. In 15 Minuten, mal mehr, mal weniger.