30.10.2025
Cinema Moralia – Folge 365

Filmfestivals als Polit-Zensoren und Aktivisten

Zurück in die Zukunft
Zurück in die Zukunft – die wahre Dystopie fährt im Verbrenner vor
(Foto: United International Pictures)

Soll man die IDFA boykottieren? Gibt es Zensur durch die Hintertür? Ein gefährlicher Präzedenzfall in den Niederlanden, eine Konferenz in Stuttgart und ein Kapitel aus der deutschen Kinokultur – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 365. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Kultur kostet Geld. ... Substan­tiell hat die Förderung von Kultu­rellem nicht weniger eine Pflicht­auf­gabe der öffent­li­chen Haushalte zu sein, als zum Beispiel der Straßenbau, die öffent­liche Sicher­heit oder die Finan­zie­rung der Gehälter im öffent­li­chen Dienst. Es ist grotesk, dass wir Ausgaben im kultu­rellen Bereich zumeist Subven­tionen nennen, während kein Mensch auf die Idee käme, die Ausgaben für ein Bahn­hofs­ge­bäude oder einen Spiel­platz als Subven­tionen zu bezeichnen.«
Richard von Weiz­sä­cker, Bunde­sprä­si­dent

Kultur ist bedroht. Durch poli­ti­sche Einfluss­nahme, durch Selbst­zensur, durch Gleich­gül­tig­keit. Ebenso durch den Funda­men­ta­lismus der Gutmei­nenden (wie der Schlech­ter­mei­nenden), die die Weisheit ihrer Filter­blasen absolut setzen wollen. Die Streit ersticken, weil sie ihn nicht aushalten (möchten).
Und nicht zuletzt durch den Kapi­ta­lismus. Kultur ist ein »weiches Ziel«, das angreif­barer ist als andere, und darum mehr geschützt werden muss.
Kultur ist bedroht.

+ + +

»Dafür zahlt keiner 10 Euro Eintritt.« Das sind die bösen Worte mancher Verleiher, die aber viel­leicht auch zugleich kühl­rea­lis­tisch und in diesem Sinn empa­thisch gegenüber dem Publikum sind. Ich habe sie gehört, als ein Verleiher über die »Themen« »Russland und Ukraine« sprach: »Die Leute sind overdosed, da können sie jeden Tag was im Fernsehen drüber sehen.«

+ + +

Ich habe letzte Woche schon über die absurde Film­schwemme in den Kinos geschrieben – die für mich übrigens keines­wegs ein Grund ist, wie manche Funk­ti­onäre es gern tun, zu fordern: »Wir brauchen weniger deutsche Filme.« Solche Forde­rungen treffen immer die falschen Filme. Sie sind außerdem zynisch, weil sie vor dem Hinter­grund einer Förder- und Ausbil­dungs­land­schaft erhoben werden, die diese Filme erst möglich macht. Die immer mehr Filmaus­bil­dungs­plätze schafft, Filme­ma­cher produ­ziert, die dann um immer kleinere Plätze und »Fleisch­töpfe« ringen.

Allein in dieser Start­woche (30.Oktober 2025) starten in Deutsch­land 26 Filme in den Kinos!

Voll­kommen unver­s­tänd­lich für mich ist, wieso es sich bei allein fünf von diesen Filmen um Wieder­auf­füh­rungen handelt. Wieso muss ausge­rechnet in einer Woche, in der sowieso schon 21 neue Filme in die Kinos kommen, auch noch unbedingt ein Film wie The Rocky Horror Picture Show oder Das Schweigen der Lämmer oder Zurück in die Zukunft oder gar Sergio Leones Italo-Western-Doppel Für eine Handvoll Dollar und Für ein paar Dollar mehr gleich­zeitig in die Kinos kommen? Wenn auch noch in Leipzig, in Duisburg, in Cottbus und in Mannheim und Heidel­berg Festivals statt­finden? Das sind alles schöne Filme, die man auch anschauen sollte. Aber wieso jetzt? Wieso nicht ein paar Wochen früher oder ein paar Wochen später? Geht es um das Weih­nachts­ge­schäft, geht es darum, die DVDs noch vor Jahres­schluss heraus­bringen zu können, um irgend­welche Förder­gelder abzu­greifen? Ich kapiere es nicht.

+ + +

Alleine im November starten dann weitere 87 Filme. Man muss sich dann nicht wundern, warum die Verleiher kein Geld verdienen. Und damit die Produ­zenten auch nicht. Damit führt sich auch die Film­för­de­rung ad absurdum.

Es wäre trotzdem falsch zu glauben, dass man nun das Angebot verknappen muss, um die Nachfrage zu stärken. Umgekehrt wäre es nötig, im Prinzip viel mehr Kinos und neue Spiel­flächen zu schaffen und außerdem neue Formen des Kino­be­triebs, des Karten­ver­kaufs und des Film­ver­leihs zu fördern. So brauchen wir, um den Kino­be­such attrak­tiver zu machen, dringend nied­ri­gere Preise und eine bundes­weite Kino-Flatrate – weit über die exis­tie­rende, löbliche, aber immer noch begrenzte, weil von den deutschen Kinoför­de­rern nicht verstan­dene Cineville-Idee (die aus den Nieder­landen stammt) hinaus.
Oder Kombi­na­tionen von alldem.

Das Kino sollte weg von der Tendenz, eine zweite Oper zu werden. Es muss ein Jahr­markts- und Alltags-Vergnügen sein, das, was man schnell noch mal am Abend für zwei Stunden tut. Man sollte aus Wert­schät­zung für sich selbst jede Woche mindes­tens einen Film im Kino sehen.

+ + +

Auch wenn manche vermut­lich einen anderen Eindruck haben, aber es macht mir überhaupt kein noch so perverses Vergnügen, in den letzten gut zwei Jahren an dieser Stelle so häufig und regel­mäßig über den Anti­se­mi­tismus im deutschen und inter­na­tio­nalen Kultur­be­trieb zu schreiben, auf Phänomene hinzu­weisen, die meiner Ansicht nach entweder entmu­ti­gend oder vor allem oft genug scho­ckie­rend, beschä­mend oder einfach todtraurig sind, und diese zu kommen­tieren. Leider komme ich aber nach zwei »Cinema Moralia«-Ausgaben ohne entspre­chende Bemer­kungen in dieser Woche wieder einmal um das Thema nicht herum.

Anlass ist die IDFA in Amsterdam, das weltweit größte und für viele wich­tigste Inter­na­tio­nale Doku­men­tar­film­fes­tival, das in in zwei Wochen, am 13. November, eröffnet wird.

Wie das US-Bran­chen­ma­gazin »Variety« jetzt berichtet, sind Vertreter der israe­li­schen Film­branche, unter anderem der komplett unab­hän­gigen Festivals »DocAviv«, »CoPro« und »Kan« von der IDFA abgelehnt worden. Ihnen wurde vom Festival eine Akkre­di­tie­rung verwei­gert.

Die Regis­seurin und Produ­zentin Michal Weits, die seit dem vergan­genen Jahr das DocAviv Festival leitet, erklärte gegenüber »Variety«, sie und ihre Kollegen hätten jeweils ein Ableh­nungs­schreiben erhalten. Darin heiße es, dass ihnen keine Akkre­di­tie­rung erteilt werde, da sie »mitschuldig am Völker­mord« seien – ein Vorwurf, den nicht nur Weits entschieden zurück­weist.
»Wir sind keine Diktatur. Wir sind immer noch ein demo­kra­ti­sches Land – nicht wie Russland. Daher können wir ein unab­hän­giges Film­fes­tival veran­stalten, selbst wenn wir öffent­liche Gelder erhalten.«

Weits verweist darauf, dass DocAviv im Laufe der Jahre viele linke, regie­rungs­kri­ti­sche Doku­men­tar­filme gezeigt habe. Sie sagte, sie habe zwar eine persön­liche Akkre­di­tie­rung angeboten bekommen, diese aber abgelehnt, um keinen Präze­denz­fall zu schaffen – sie halte den Boykott für ungerecht.

+ + +

»Alle haben Angst, mit Israel zusam­men­zu­ar­beiten. Es ist viel schwie­riger geworden, inter­na­tio­nale Partner zu finden«, sagt Weits. Aber »Kultur und Film sind die einzigen Wege, mitein­ander zu kommu­ni­zieren. Doch der Boykott will, dass wir isoliert werden und verschwinden.«

+ + +

Die IDFA-Direk­torin, die in Chile geborene Isabel Arrate Fernández, die das Festival erst seit Kurzem leitet, unter­s­tützt offenbar den Boykott der israe­li­schen Film­in­dus­trie, der im vergan­genen Monat von der Akti­visten-Orga­ni­sa­tion »Film Workers for Palestine« ange­stoßen und von fast 4.000 Personen aus der Film- und Unter­hal­tungs­branche unter­zeichnet wurde – nicht zuletzt von Angehö­rigen der Cham­pa­gner-Linken Holly­woods wie Emma Stone und Joaquin Phoenix, die erklärten, sie würden nicht mit israe­li­schen Film­or­ga­ni­sa­tionen zusam­men­ar­beiten, die »an Kriegs­ver­bre­chen in Gaza mitschuldig« seien.

Arrate Fernández erklärte in »Variety«: »In diesem Jahr wurden Orga­ni­sa­tionen aus Israel, die staat­liche Unter­s­tüt­zung erhalten, nicht akkre­di­tiert. Diese Entschei­dung wird jedoch im kommenden Jahr überprüft.« Fernández erklärte, die IDFA beurteile »unab­hän­gige Filme und Film­schaf­fende indi­vi­duell und fallweise«, und dies gelte auch für insti­tu­tio­nelle Anträge.
»Wenn ein Projekt nach­weis­bare Verbin­dungen zu Regie­rungen hat, die schwere Menschen­rechts­ver­let­zungen begehen – etwa durch direkte staat­liche Finan­zie­rung –, wird es in der Regel nicht ausge­wählt.«

+ + +

Dies dürfte Isabel Arrate Fernandez schnell in größere Recht­fer­ti­gungs­fragen verwi­ckeln. Bereits die Politik von ihrem Vorgänger, dem Doku­men­tar­filmer und Akti­visten Orwa Nyrabia, einem in Berlin lebenden Syrer, hatte zu massiven Anti­se­mi­tismus- und Isra­el­feind­schafts-Vorwürfen gegen die IDFA geführt.

+ + +

So wird ein renom­miertes Film­fes­tival auf lange Sicht beschä­digt. Erste poten­ti­elle IDFA-Besucher sagten bereits in privaten Gesprächen auf DOK Leipzig: »Man sollte die IDFA boykot­tieren!«

Dies alles entspricht leider der unglück­li­chen Tendenz, dass sich Film­fes­ti­vals als Polit-Zensoren und Akti­visten aufspielen, anstatt einfach offene Bühnen für künst­le­ri­sche und kultur­po­li­ti­sche Ausein­an­der­set­zungen zu sein.

Damit maßen sich Festivals eine Expertise und Kompetenz an, die sie schlicht und einfach nicht haben.

Sie werden zu Treibern einer Zensur durch die Hintertür, die demo­kra­ti­sche Gesell­schaften und Öffent­lich­keiten nach­haltig beschä­digt.

Die Vorgänge in Amsterdam sind ein gefähr­li­cher Präze­denz­fall.

+ + +

Leider passend zum Thema lädt das »Institut für die Grund­lagen moderner Archi­tektur« in der kommenden Woche zu einer Konferenz über Isra­el­feind­schaft und »Anti­se­mi­tismus im kultu­rel­lenFeld«. Es ist die zweite Veran­stal­tung dieser Art, nach einem ersten, geschlos­senen Treffen im Vorjahr. Initiiert vom enga­gierten Lehr­stuhl­in­haber Stephan Trueby, der unter anderem auf »rechte Räume« spezia­li­siert ist, treffen sich inter­na­tio­nale Experten aus allen Feldern der Kunst, um sich zur »Post-10/7-Situation« auszu­tau­schen und Aufklärung über Anti­se­mi­tismus ins Zentrum des allge­meinen Enga­ge­ments für den Erhalt demo­kra­ti­scher Systeme zu stellen und Hand­lungs­spiel­räume auszu­loten.

Auch ich habe das Vergnügen, wieder dabei zu sein. On verra!