Cinema Moralia – Folge 364
Die Nerven liegen blank |
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Zu öde, um darüber auch noch zu schreiben: Springsteen: Deliver Me from Nowhere | ||
(Foto: The Walt Disney Company) |
»Scheu drängen sie sich hinter der leeren Architektur zusammen, die sich einstweilen völlig neutral verhält und später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts. Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selbst nur Passage ist?«
– Siegfried Kracauer in »Straßen in Berlin und anderswo« über das Berliner Stadtbild
Am kommenden Montag wird DOK Leipzig eröffnet. Es ist die letzte Festivalausgabe unter Christoph Terhechte, der seinen Vertrag aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig beendete.
Eröffnet wird das Festival in diesem Jahr mit einem Film der sehr interessanten französischen Regisseurin Claire Simon über die Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux: Writing Life: Annie Ernaux Through the Eyes of High School Students.
Wir freuen uns auf diesen Film, wie
auch auf viele weitere Filme, auch von Freundinnen und auch auf die Leipziger Nächte.
artechock wird berichten, in Texten und podcasts, ab kommenden Dienstag.
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Alle verschieben gerade ihre Filmstarts. Allein vergangene Woche habe ich drei Mitteilungen über Startverschiebungen bekommen. Einerseits verständlich, denn wer soll in all diese Filme gehen? Allein in dieser Woche sind es 16 – in der Vorwoche waren es sogar 23 – und es sind mindestens drei sehr sehr gute darunter: Le Royaume, Das Verschwinden des Josef Mengele; und Frankenstein. Aber wer soll das alles sehen? Wir sind ja nicht die Dänen, die im Durchschnitt über acht Mal pro Jahr ins Kino gehen. Und weil es so viele Filme sind, haben die Verleiher Schwierigkeiten, überhaupt Kinos zu finden, die ihre Filme spielen wollen. Denn es gehört auch zur sonderbaren Ökonomie der Kinos, die eigentlich eine eigene, sehr seltsame Wissenschaft ist, dass alle am allerliebsten den gleichen Film spielen wollen.
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»Dieser Text beruht auf einer wahren Genervtheit« betitelt Lars-Olav Beier seinen neuesten Text und schreibt mir im neuesten »Spiegel« aus der Seele.
Was gibt es Langweiligeres als Biopics! Ein verlogenes narzisstisches Genre. Denn es passt perfekt, so Beier »in unser narzisstisches Zeitalter, in dem viele Menschen glauben, außergewöhnliche Fähigkeiten zu haben und berühmt werden zu können. Klappt das am Ende nicht, müssen andere schuld gewesen sein. In Biopics wimmelt es von todlangweiligen Figuren, deren einzige Aufgabe darin besteht, den Helden und Heldinnen Steine in den Weg zu legen. ... Das gilt auch für uns Zuschauer. Denn das Biopic macht uns zu Voyeuren, lässt uns Blicke ins Privatleben der Reichen, Berühmten und Genialen werfen und packt uns bei unserem Neid. Wenn es sich am Unglück der Hauptfiguren weidet, gibt es uns das Gefühl, dass es ihnen auch nicht besser geht als uns Normalos. Im Gegenteil, sie scheinen oft einen fatalen Hang zur Selbstzerstörung zu haben.«
Alles Besserwisserei und Leichenfledderei: »Dieses Genre bringt nicht das Beste in den Menschen zum Vorschein.« Der Kollege kann diese Filme nicht mehr sehen. Mir geht es ganz genauso.
Beispiel: Scott Coopers Springsteen: Deliver Me from Nowhere über den White-Trash-Troubadour Bruce Springsteen, der mir zu langweilig war, um etwas darüber zu schreiben. Der Film will zwar bewusst auf die üblichen Klischees eines Rock-Biopics verzichten. Aber er entkommt ihnen nicht. Selbst wenn man nicht Fan ist, möchte man sein Halbwissen in solchen Filmen doch eher bestätigt
bekommen.
Wir erleben komplexe Psyche, innere Leere, Selbstfindungsprozesse, viel Schweiß und Tränen.
So ist das Ergebnis ein Film im Spannungsfeld zwischen Mythos und Realität.
Beispiel Franz K. von Agnieszka Holland. Beier schreibt, der Film »zeigt, dass Biopics oft auf schlichte Erklärungsmuster zurückgreifen, wenn sie die Entwicklung ihrer Figuren beschreiben. Der Held erscheint als das Opfer eines autoritären Vaters (gespielt von Peter Kurth), der ihn schon als Kind ins Wasser schmeißt, um ihm das Schwimmen beizubringen, und einer ignoranten bis feindseligen Umwelt, die seine Fähigkeiten nicht erkennt. ... Holland springt in ihrer Kafka-Biografie munter durch die Lebensgeschichte ihres Protagonisten und baut sogar Bilder vom heutigen Kafka-Tourismus in Prag ein. Ein guter Film wird daraus nicht, nur ein kaleidoskopartiges Potpourri.«
Noch eine gute Beobachtung: »Vielleicht hat kein Hollywoodstar so viele reale Persönlichkeiten verkörpert wie Anthony Hopkins. Von Danton bis Hitler, von Nixon bis Hitchcock, von Picasso bis Papst Benedikt XVI. Für kaum eine dieser Darstellungen wird er in Erinnerung bleiben. Sondern vor allem für die des Kannibalen Hannibal Lecter, eines Mannes, den es zum Glück nie gab. Den Hopkins zum Leben erweckt hat, dank seiner schauspielerischen Größe.«
Fazit: Das Leben schreibt die schlechtesten Geschichten.
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Das Berliner Stadtbild ist nicht besonders schön, was mit den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und mit den Folgen der Teilung zu tun hat, aber genauso natürlich mit einer Gegenwart, in der das Wort Stadtplanung längst zum Fremdwort geworden ist, in der man nichts von den österreichischen Gesetzgebern (Genossenschaften und Gemeinnützge Bauvereinigungen) lernt und nichts von den brasilianischen Architekten und schon gar nichts von der eigenen Tradition, vom Bauhaus, von Gropius, von Mies van der Rohe. Man lernt eigentlich gar nicht, sondern lässt sich von den Kassenwarten, also den Spießbürgern eines jeden Zeitalters irgendwelche Vorschriften machen. So sieht das Stadtbild dann auch aus. Wenn ein Wiedergänger der klassischen Flaneure, von Franz Hessel (dem Jim in Jules und Jim), von Siegfried Kracauer oder von Walter Benjamin heute durch Berlin geht, muss er nicht nur aufpassen, dass er in bestimmten Stadtvierteln nicht angespuckt wird, oder eine reingehauen bekommt, wenn er als Jude erkannt wird, sondern er muss auch seinen Sinn für Ästhetik einklammern. Was einmal rein funktional war, gilt in Architektur und Design heute als Luxus; was heute rein funktional ist, wird morgen verrottet sein.
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Das Stadtbild von München ist ein bisschen langweilig, jedenfalls von der Ferne betrachtet. Da sieht es ziemlich gleichförmig aus; schuld daran ist auch die sogenannte Traufhöhe, die eigentlich eine Niedrigkeit und Flachheit der Häuser noch im Münchner Zentrum ist. Das alles mag mal im vorigen Jahrhundert noch üblichen Massstäben entsprochen haben, heute wirkt es vor allem zurückgeblieben. Traditionen und den Charakter von Stadtvierteln kann man auch anders schützen. Im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten wie Hamburg oder Berlin wirkt München darum einfach nicht so großstädtisch; in jedem Fall niedriger, kleiner, dörflicher und insofern auch zurückgebliebener als andere deutsche Großstädte.
Auch das Kino ist städtisch, ist urban. Ins Dorf holt man sich mit dem Kino ein Stück Welt. Und das augenblickliche Kinosterben ist nur eine Chiffre für Veränderungen der Gesellschaft zum Schlechteren; es ist gleichbedeutend mit Weltverlust, Provinzialität, kultureller Verödung – einem traurigen Gesellschafts- und Stadtbild.