23.10.2025
Cinema Moralia – Folge 364

Die Nerven liegen blank

Springsteen: Deliver Me from Nowhere
Zu öde, um darüber auch noch zu schreiben: Springsteen: Deliver Me from Nowhere
(Foto: The Walt Disney Company)

Verständliche Genervtheit, unverständliche Wissenschaften, DOK Leipzig-Auftakt und Stadtbilder – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 364. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Scheu drängen sie sich hinter der leeren Archi­tektur zusammen, die sich einst­weilen völlig neutral verhält und später einmal wer weiß was ausbrüten wird – viel­leicht den Fascismus oder auch gar nichts. Was sollte noch eine Passage in einer Gesell­schaft, die selbst nur Passage ist?«
– Siegfried Kracauer in »Straßen in Berlin und anderswo« über das Berliner Stadtbild

Am kommenden Montag wird DOK Leipzig eröffnet. Es ist die letzte Festi­val­aus­gabe unter Christoph Terhechte, der seinen Vertrag aus gesund­heit­li­chen Gründen vorzeitig beendete.
Eröffnet wird das Festival in diesem Jahr mit einem Film der sehr inter­es­santen fran­zö­si­schen Regis­seurin Claire Simon über die Literatur-Nobel­preis­trä­gerin Annie Ernaux: Writing Life: Annie Ernaux Through the Eyes of High School Students.
Wir freuen uns auf diesen Film, wie auch auf viele weitere Filme, auch von Freun­dinnen und auch auf die Leipziger Nächte.
artechock wird berichten, in Texten und podcasts, ab kommenden Dienstag.

+ + +

Alle verschieben gerade ihre Film­starts. Allein vergan­gene Woche habe ich drei Mittei­lungen über Start­ver­schie­bungen bekommen. Einer­seits vers­tänd­lich, denn wer soll in all diese Filme gehen? Allein in dieser Woche sind es 16 – in der Vorwoche waren es sogar 23 – und es sind mindes­tens drei sehr sehr gute darunter: Le Royaume, Das Verschwinden des Josef Mengele; und Fran­ken­stein. Aber wer soll das alles sehen? Wir sind ja nicht die Dänen, die im Durch­schnitt über acht Mal pro Jahr ins Kino gehen. Und weil es so viele Filme sind, haben die Verleiher Schwie­rig­keiten, überhaupt Kinos zu finden, die ihre Filme spielen wollen. Denn es gehört auch zur sonder­baren Ökonomie der Kinos, die eigent­lich eine eigene, sehr seltsame Wissen­schaft ist, dass alle am aller­liebsten den gleichen Film spielen wollen.

+ + +

»Dieser Text beruht auf einer wahren Genervt­heit« betitelt Lars-Olav Beier seinen neuesten Text und schreibt mir im neuesten »Spiegel« aus der Seele.

Was gibt es Lang­wei­li­geres als Biopics! Ein verlo­genes narziss­ti­sches Genre. Denn es passt perfekt, so Beier »in unser narziss­ti­sches Zeitalter, in dem viele Menschen glauben, außer­ge­wöhn­liche Fähig­keiten zu haben und berühmt werden zu können. Klappt das am Ende nicht, müssen andere schuld gewesen sein. In Biopics wimmelt es von todlang­wei­ligen Figuren, deren einzige Aufgabe darin besteht, den Helden und Heldinnen Steine in den Weg zu legen. ... Das gilt auch für uns Zuschauer. Denn das Biopic macht uns zu Voyeuren, lässt uns Blicke ins Privat­leben der Reichen, Berühmten und Genialen werfen und packt uns bei unserem Neid. Wenn es sich am Unglück der Haupt­fi­guren weidet, gibt es uns das Gefühl, dass es ihnen auch nicht besser geht als uns Normalos. Im Gegenteil, sie scheinen oft einen fatalen Hang zur Selbst­zer­störung zu haben.«

Alles Besser­wis­serei und Leichen­fled­derei: »Dieses Genre bringt nicht das Beste in den Menschen zum Vorschein.« Der Kollege kann diese Filme nicht mehr sehen. Mir geht es ganz genauso.

Beispiel: Scott Coopers Springsteen: Deliver Me from Nowhere über den White-Trash-Trou­ba­dour Bruce Springsteen, der mir zu lang­weilig war, um etwas darüber zu schreiben. Der Film will zwar bewusst auf die üblichen Klischees eines Rock-Biopics verzichten. Aber er entkommt ihnen nicht. Selbst wenn man nicht Fan ist, möchte man sein Halb­wissen in solchen Filmen doch eher bestätigt bekommen.
Wir erleben komplexe Psyche, innere Leere, Selbst­fin­dungs­pro­zesse, viel Schweiß und Tränen.
So ist das Ergebnis ein Film im Span­nungs­feld zwischen Mythos und Realität.

Beispiel Franz K. von Agnieszka Holland. Beier schreibt, der Film »zeigt, dass Biopics oft auf schlichte Erklärungs­muster zurück­greifen, wenn sie die Entwick­lung ihrer Figuren beschreiben. Der Held erscheint als das Opfer eines auto­ri­tären Vaters (gespielt von Peter Kurth), der ihn schon als Kind ins Wasser schmeißt, um ihm das Schwimmen beizu­bringen, und einer igno­ranten bis feind­se­ligen Umwelt, die seine Fähig­keiten nicht erkennt. ... Holland springt in ihrer Kafka-Biografie munter durch die Lebens­ge­schichte ihres Prot­ago­nisten und baut sogar Bilder vom heutigen Kafka-Tourismus in Prag ein. Ein guter Film wird daraus nicht, nur ein kalei­do­skop­ar­tiges Potpourri.«

Noch eine gute Beob­ach­tung: »Viel­leicht hat kein Holly­wood­star so viele reale Persön­lich­keiten verkör­pert wie Anthony Hopkins. Von Danton bis Hitler, von Nixon bis Hitchcock, von Picasso bis Papst Benedikt XVI. Für kaum eine dieser Darstel­lungen wird er in Erin­ne­rung bleiben. Sondern vor allem für die des Kanni­balen Hannibal Lecter, eines Mannes, den es zum Glück nie gab. Den Hopkins zum Leben erweckt hat, dank seiner schau­spie­le­ri­schen Größe.«

Fazit: Das Leben schreibt die schlech­testen Geschichten.

+ + +

Das Berliner Stadtbild ist nicht besonders schön, was mit den Zers­törungen des Zweiten Welt­kriegs und mit den Folgen der Teilung zu tun hat, aber genauso natürlich mit einer Gegenwart, in der das Wort Stadt­pla­nung längst zum Fremdwort geworden ist, in der man nichts von den öster­rei­chi­schen Gesetz­ge­bern (Genos­sen­schaften und Gemein­nützge Bauver­ei­ni­gungen) lernt und nichts von den brasi­lia­ni­schen Archi­tekten und schon gar nichts von der eigenen Tradition, vom Bauhaus, von Gropius, von Mies van der Rohe. Man lernt eigent­lich gar nicht, sondern lässt sich von den Kassen­warten, also den Spieß­bür­gern eines jeden Zeital­ters irgend­welche Vorschriften machen. So sieht das Stadtbild dann auch aus. Wenn ein Wieder­gänger der klas­si­schen Flaneure, von Franz Hessel (dem Jim in Jules und Jim), von Siegfried Kracauer oder von Walter Benjamin heute durch Berlin geht, muss er nicht nur aufpassen, dass er in bestimmten Stadt­vier­teln nicht ange­spuckt wird, oder eine rein­ge­hauen bekommt, wenn er als Jude erkannt wird, sondern er muss auch seinen Sinn für Ästhetik einklam­mern. Was einmal rein funk­tional war, gilt in Archi­tektur und Design heute als Luxus; was heute rein funk­tional ist, wird morgen verrottet sein.

+ + +

Das Stadtbild von München ist ein bisschen lang­weilig, jeden­falls von der Ferne betrachtet. Da sieht es ziemlich gleich­förmig aus; schuld daran ist auch die soge­nannte Traufhöhe, die eigent­lich eine Nied­rig­keit und Flachheit der Häuser noch im Münchner Zentrum ist. Das alles mag mal im vorigen Jahr­hun­dert noch üblichen Mass­stäben entspro­chen haben, heute wirkt es vor allem zurück­ge­blieben. Tradi­tionen und den Charakter von Stadt­vier­teln kann man auch anders schützen. Im Vergleich zu anderen deutschen Großs­tädten wie Hamburg oder Berlin wirkt München darum einfach nicht so großs­täd­tisch; in jedem Fall niedriger, kleiner, dörf­li­cher und insofern auch zurück­ge­blie­bener als andere deutsche Großs­tädte.

Auch das Kino ist städtisch, ist urban. Ins Dorf holt man sich mit dem Kino ein Stück Welt. Und das augen­blick­liche Kinosterben ist nur eine Chiffre für Verän­de­rungen der Gesell­schaft zum Schlech­teren; es ist gleich­be­deu­tend mit Welt­ver­lust, Provin­zia­lität, kultu­reller Verödung – einem traurigen Gesell­schafts- und Stadtbild.