Last und Lust des Aufbruchs |
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Arnaud Desplechins neuer Film Deux Pianos rettet die ersten Tage... | ||
(Foto: Filmfestival San Sebastian) |
Real Sociedad San Sebastián, der Erstligaclub der baskischen Hauptstadt, verlor am letzten Spieltag der spanischen Primera División mit 1:3 gegen Betis Sevilla und steht jetzt sieglos auf dem drittletzten Tabellenplatz, in Abstiegsgefahr. Auch dem bedeutenden Filmfestival in der baskischen Hauptstadt geht es nicht gut. Damit gemeint sind nicht so sehr die Filme in den zwei Wettbewerben und diversen anderen Reihen, die immer eine Reise wert sind – auch wenn jene Zeiten vorerst vorbei sind, in denen die amerikanische Top-Prominenz wie Woody Allen oder David Cronenberg oder Viggo Mortensen nur allzu gerne mit ihren neuen Filmen ins Baskenland kam.
Aber in San Sebastián kann man mehr als irgendwo sonst, mehr als bei der Amerika-fixierten Konkurrenz von Cannes oder Venedig, lernen, dass das Kino aus viel mehr besteht als aus Hollywood.
Gemeint ist die wirtschaftliche Situation und Aufstellung des Festivals. Denn auch wenn das Baskenland im Prinzip eine der reichsten Regionen in Spanien ist, dann fehlt das Geld hier doch an allen Ecken und Enden. Die Einladungen an Journalisten und Einkäufer wurden zurückgeschraubt, und auch die Handgelder, die man an Stars bezahlt, damit sie sich einen »Donostia Award« im modernen »Kursaal«, dem Festivalzentrum abholen, wurden deutlich reduziert.
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Immerhin Angelina Jolie – falls die noch jemanden interessiert – kam und stellte ihren neuen Film vor.
Kälte, Sturm und Starkregen bestimmte die Premiere von Couture, aber manche Fans ließen sich auch nicht vom Zorn des Wettergottes abhalten, am Roten Teppich zu gaffen und um Autogramme zu betteln.
Couture läuft im Wettbewerb, die Französin Alice Winocour (Proxima) führte Regie. Jolie spielt eine Horrorfilm-Regisseurin, die von ihrem Arzt die Nachricht bekommt, sie sei an Brustkrebs erkrankt. Scheiden lässt sie sich auch noch gerade, die Tochter macht Ärger, und auch sonst hat die Dame so viel Probleme wie die Hauptfigur eines ARD-Freitagsfilms.
Gott sei Dank
gibt es da noch andere Frauen mit Problemen, ein afrikanisches Model (Anyier Anei) und eine Visagistin (Ella Rumpf, die toll ist, aber einfach kein Glück mit ihren Filmen hat), und so ist Mega-Frauensolidarität angesagt: Die Handlung beginnt, indem sie von einer Frau zur nächsten springt, der Schauplatz ist die Pariser Modewoche. Durch diesen scheinbar vielstimmigen Ansatz könnte man meinen, man habe es mit einer Struktur à la Robert Altmans Prêt-à-porter (1994) zu tun, eine Parallele, die sich aufdrängen soll. Doch die Illusion verfliegt schnell, denn schnell wird klar, dass Winocours Film von jenem satirischen Vorbild meilenweit entfernt bleibt. Diesem Film fehlt jeglicher Sinn für Humor, man möchte bedeutungsvoll »kritisch« mit der Welt der Haute Couture umgehen, und fällt auf jedes Klischee herein, das auf dem Weg liegt. Krankheiten und
Kriege werden gleichgesetzt nach dem Motto, dass halt jeder seine Probleme hat, und schnell verfällt Couture in eine pathetische, bedeutungsschwere Tonlage.
Ein überflüssiger, banaler Film und ein weiteres Beispiel für den prüden Puritanismus, der leider weite Teile der internationalen Filmproduktion durchzieht.
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Jolie war nur wenige Stunden vor Ort, dann war sie schon wieder im Privatjet auf dem Rückflug zu den Dreharbeiten von Marc Forsters neuem Film.
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Die Geldprobleme des Festivals merkt man auch daran, dass die renommierten Retrospektiven hart reduziert wurden: Gab es vor zehn Jahren noch zwei bis drei Retrospektiven, eine historische für einen toten Filmemacher und eine Länder- oder Themen-Retrospektive und manchmal noch eine dritte, die einem lebenden Filmemacher galt, so gibt es in diesem Jahr wie schon in den letzten zwei, drei Jahren nur noch eine einzige. Die gilt diesmal Lillian Hellman, die vor allem Drehbücher für William Wyler und ab und an für andere Regisseure geschrieben hat, und mit zweien von ihnen – The Little Foxes und The Children’s Hour – zu Recht weltberühmt wurde.
Keine Frage, Hellman ist hochinteressant. Aber ohne ihr zu nahe zu treten, ist sie doch nur B-Liga im Vergleich zu entweder Filmemachern, die dem breiten Publikum absolut unbekannt und erst zu entdecken sind, wie vor Jahren die King Kong-Macher Schoedsack/Cooper oder der Franzose George Franju. Oder zu Publikumslieblingen wie Jacques Demy oder Westernregisseur Anthony Mann oder der schon etwas unbekanntere großartige Japaner Nagisa Oshima.
Hellman steht irgendwie dazwischen, und die Entscheidung für sie ist vermutlich gefallen, weil ihr Werk mit gerade einmal 16 Drehbüchern/Vorlagen sehr schmal und daher billig ist.
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Wie oftmals in San Sebastián sind außer den Einheimischen und den Lateinamerikanern immerhin die Franzosen auf absolutem Top-Niveau vertreten: Die neuen Filme von Claire Denis und von Arnaud Desplechin feierten in den ersten Tagen das Wettbewerbs ihre Premiere.
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Claire Denis' Le Cri des gardes im Wettbewerb ist die Adaption eines Theaterstücks des französischen Dramatikers Bernard-Marie Koltès, das selbst eingeschworene Denis-Fans wie mich auf eine harte Probe stellt.
Der Film schleppt die ursprüngliche theatralische Struktur wie eine schwere Last mit sich. Diese begrenzt fatal den ohnehin geringen Radius eines Films, in dem die Figuren fast die gesamte Zeit über monologisieren – jedoch nicht, um
etwaige Widersprüche zwischen Worten oder Reden und Handeln und dem Rest zu offenbaren, sondern um dem Zuschauer irgendetwas zu erklären. Diese Vorgehensweise hat offenkundig eine Anti-Kino-Dimension und verwässert letztlich das, wovon Denis augenscheinlich erzählen möchte: Die unschönen Seiten des französischen Kolonialismus und die unterdrückte Gewalt der Verhältnisse. Es wäre nicht Koltès, gäbe es hier nicht auch eine homoerotische Dimension.
Unbestreitbar knüpft Denis
hier an Themen und Motive an, die wir aus ihrem Kino bereits kennen. Doch hat sie diese eben in Filmen wie White Material ungleich meisterlicher behandelt.
Doch die Rollen sind allzu klar und »schwarz-weiß« verteilt, und in den Bildern gibt es nichts, was den Diskurs oder die Handlung nuancieren oder komplexer machen könnte. So wird dieser Film schnell zu einer ermüdenden, theatralischen Illustration.
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Bleibt noch Arnaud Desplechin, dessen neuer Film Deux Pianos tatsächlich die ersten Tage rettet. Es dauert nur Sekunden, dann ist man eingetaucht in eine geheimnisvolle Erzählung mit fernem Hitchcock-Flair und untergründigen Bezügen zum phantastischen Kino.
Mitunter glauben wir, einem berühmten Pianisten zu folgen, der nach mehreren Jahren in Japan nach Lyon zurückkehrt und plötzlich in einem Aufzug in Ohnmacht fällt, als er einer Frau begegnet. Bald hat er auch einen etwa zehnjährigen Jungen entdeckt, der exakt so aussieht, wie er selbst als Kind.
Als Zuschauer fragt man sich natürlich währenddessen, ob wir Zeugen einer Handlung werden, in der Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig im selben quantenphysikalisch erklärten Zeit-Raum-Kontinuum existieren.
Doch das Erzähl-Knäuel des französischen Filmemachers wird bald entwirrt. Desplechin verknüpft die Fäden, die den Pianisten mit seiner ehemaligen Geliebten verbinden, diese mit ihrem jetzigen Partner und jenen wiederum mit dem Jungen. So öffnet sich etwa zur Mitte des Films die Tür zu einer traditionelleren Erzählung über verpasste Liebesgeschichten und über die Möglichkeit – oder Unmöglichkeit? –, diese wiederzubeleben, wenn das Leben einem plötzlich eine zweite Chance bietet.
Als der dramatische und narrative Fluss auf seine potenziell phantastische Dimension verzichtet, verliert Desplechins Film ein wenig an Reiz, bleibt jedoch immer getragen von der einmaligen Inszenierungskunst des Regisseurs und ganz besonders von einer Bildgestaltung, die uns die Figuren sehr nahe bringt. Durch diese Körperlichkeit und Vitalität entsteht eine unverkennbare filmische Energie »Marke Desplechin«, auch wenn der Regisseur hier leider nicht die Höhen früherer
Werke wie Roi et Reine und Un conte de Noël erreicht. Desplechin kehrt, das ist gewiss, zu einem seiner beharrlichsten persönlichen Gespenster zurück: Den komplexen Vater-Sohn-Beziehungen, und betrachtet am Ende das aufblitzende Liebespaar mit einer distanzierten, aber klaren Reife, und nie ohne Zärtlichkeit.
In manchen Schwingungen dieser komplexen
Liebesgeschichte ist zudem eine unbestreitbare Verwandtschaft zu bestimmten Filmen von Truffaut zu spüren. All das macht aus dem vieldeutigen Entwurf, den Deux Pianos in sich trägt, ein ausgesprochen persönliches Werk, das besonders eng mit dem eigenwilligen Universum seines Autors verbunden ist.