25.09.2025

Last und Lust des Aufbruchs

Deux Pianos
Arnaud Desplechins neuer Film Deux Pianos rettet die ersten Tage...
(Foto: Filmfestival San Sebastian)

Die ersten Tage beim letzten Festival des Sommers: Neue Filme von Alice Winocour, Claire Denis und Arnaud Desplechin – San Sebastian-Notizen, 1. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Real Sociedad San Sebastián, der Erst­li­ga­club der baski­schen Haupt­stadt, verlor am letzten Spieltag der spani­schen Primera División mit 1:3 gegen Betis Sevilla und steht jetzt sieglos auf dem dritt­letzten Tabel­len­platz, in Abstiegs­ge­fahr. Auch dem bedeu­tenden Film­fes­tival in der baski­schen Haupt­stadt geht es nicht gut. Damit gemeint sind nicht so sehr die Filme in den zwei Wett­be­werben und diversen anderen Reihen, die immer eine Reise wert sind – auch wenn jene Zeiten vorerst vorbei sind, in denen die ameri­ka­ni­sche Top-Prominenz wie Woody Allen oder David Cronen­berg oder Viggo Mortensen nur allzu gerne mit ihren neuen Filmen ins Basken­land kam.

Aber in San Sebastián kann man mehr als irgendwo sonst, mehr als bei der Amerika-fixierten Konkur­renz von Cannes oder Venedig, lernen, dass das Kino aus viel mehr besteht als aus Hollywood.

Gemeint ist die wirt­schaft­liche Situation und Aufstel­lung des Festivals. Denn auch wenn das Basken­land im Prinzip eine der reichsten Regionen in Spanien ist, dann fehlt das Geld hier doch an allen Ecken und Enden. Die Einla­dungen an Jour­na­listen und Einkäufer wurden zurück­ge­schraubt, und auch die Hand­gelder, die man an Stars bezahlt, damit sie sich einen »Donostia Award« im modernen »Kursaal«, dem Festi­val­zen­trum abholen, wurden deutlich reduziert.

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Immerhin Angelina Jolie – falls die noch jemanden inter­es­siert – kam und stellte ihren neuen Film vor.
Kälte, Sturm und Stark­regen bestimmte die Premiere von Couture, aber manche Fans ließen sich auch nicht vom Zorn des Wetter­gottes abhalten, am Roten Teppich zu gaffen und um Auto­gramme zu betteln.

Couture läuft im Wett­be­werb, die Französin Alice Winocour (Proxima) führte Regie. Jolie spielt eine Horror­film-Regis­seurin, die von ihrem Arzt die Nachricht bekommt, sie sei an Brust­krebs erkrankt. Scheiden lässt sie sich auch noch gerade, die Tochter macht Ärger, und auch sonst hat die Dame so viel Probleme wie die Haupt­figur eines ARD-Frei­tags­films.
Gott sei Dank gibt es da noch andere Frauen mit Problemen, ein afri­ka­ni­sches Model (Anyier Anei) und eine Visa­gistin (Ella Rumpf, die toll ist, aber einfach kein Glück mit ihren Filmen hat), und so ist Mega-Frau­en­so­li­da­rität angesagt: Die Handlung beginnt, indem sie von einer Frau zur nächsten springt, der Schau­platz ist die Pariser Modewoche. Durch diesen scheinbar viel­stim­migen Ansatz könnte man meinen, man habe es mit einer Struktur à la Robert Altmans Prêt-à-porter (1994) zu tun, eine Parallele, die sich aufdrängen soll. Doch die Illusion verfliegt schnell, denn schnell wird klar, dass Winocours Film von jenem sati­ri­schen Vorbild meilen­weit entfernt bleibt. Diesem Film fehlt jeglicher Sinn für Humor, man möchte bedeu­tungs­voll »kritisch« mit der Welt der Haute Couture umgehen, und fällt auf jedes Klischee herein, das auf dem Weg liegt. Krank­heiten und Kriege werden gleich­ge­setzt nach dem Motto, dass halt jeder seine Probleme hat, und schnell verfällt Couture in eine pathe­ti­sche, bedeu­tungs­schwere Tonlage.
Ein über­flüs­siger, banaler Film und ein weiteres Beispiel für den prüden Puri­ta­nismus, der leider weite Teile der inter­na­tio­nalen Film­pro­duk­tion durch­zieht.

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Jolie war nur wenige Stunden vor Ort, dann war sie schon wieder im Privatjet auf dem Rückflug zu den Dreh­ar­beiten von Marc Forsters neuem Film.

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Die Geld­pro­bleme des Festivals merkt man auch daran, dass die renom­mierten Retro­spek­tiven hart reduziert wurden: Gab es vor zehn Jahren noch zwei bis drei Retro­spek­tiven, eine histo­ri­sche für einen toten Filme­ma­cher und eine Länder- oder Themen-Retro­spek­tive und manchmal noch eine dritte, die einem lebenden Filme­ma­cher galt, so gibt es in diesem Jahr wie schon in den letzten zwei, drei Jahren nur noch eine einzige. Die gilt diesmal Lillian Hellman, die vor allem Dreh­bücher für William Wyler und ab und an für andere Regis­seure geschrieben hat, und mit zweien von ihnen – The Little Foxes und The Children’s Hour – zu Recht welt­berühmt wurde.

Keine Frage, Hellman ist hoch­in­ter­es­sant. Aber ohne ihr zu nahe zu treten, ist sie doch nur B-Liga im Vergleich zu entweder Filme­ma­chern, die dem breiten Publikum absolut unbekannt und erst zu entdecken sind, wie vor Jahren die King Kong-Macher Schoed­sack/Cooper oder der Franzose George Franju. Oder zu Publi­kums­lieb­lingen wie Jacques Demy oder Western­re­gis­seur Anthony Mann oder der schon etwas unbe­kann­tere groß­ar­tige Japaner Nagisa Oshima.

Hellman steht irgendwie dazwi­schen, und die Entschei­dung für sie ist vermut­lich gefallen, weil ihr Werk mit gerade einmal 16 Dreh­büchern/Vorlagen sehr schmal und daher billig ist.

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Wie oftmals in San Sebastián sind außer den Einhei­mi­schen und den Latein­ame­ri­ka­nern immerhin die Franzosen auf absolutem Top-Niveau vertreten: Die neuen Filme von Claire Denis und von Arnaud Desplechin feierten in den ersten Tagen das Wett­be­werbs ihre Premiere.

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Claire Denis' Le Cri des gardes im Wett­be­werb ist die Adaption eines Thea­ter­s­tücks des fran­zö­si­schen Drama­ti­kers Bernard-Marie Koltès, das selbst einge­schwo­rene Denis-Fans wie mich auf eine harte Probe stellt.
Der Film schleppt die ursprüng­liche thea­tra­li­sche Struktur wie eine schwere Last mit sich. Diese begrenzt fatal den ohnehin geringen Radius eines Films, in dem die Figuren fast die gesamte Zeit über mono­lo­gi­sieren – jedoch nicht, um etwaige Wider­sprüche zwischen Worten oder Reden und Handeln und dem Rest zu offen­baren, sondern um dem Zuschauer irgend­etwas zu erklären. Diese Vorge­hens­weise hat offen­kundig eine Anti-Kino-Dimension und verwäs­sert letztlich das, wovon Denis augen­schein­lich erzählen möchte: Die unschönen Seiten des fran­zö­si­schen Kolo­nia­lismus und die unter­drückte Gewalt der Verhält­nisse. Es wäre nicht Koltès, gäbe es hier nicht auch eine homo­ero­ti­sche Dimension.
Unbe­streitbar knüpft Denis hier an Themen und Motive an, die wir aus ihrem Kino bereits kennen. Doch hat sie diese eben in Filmen wie White Material ungleich meis­ter­li­cher behandelt.
Doch die Rollen sind allzu klar und »schwarz-weiß« verteilt, und in den Bildern gibt es nichts, was den Diskurs oder die Handlung nuan­cieren oder komplexer machen könnte. So wird dieser Film schnell zu einer ermü­denden, thea­tra­li­schen Illus­tra­tion.

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Bleibt noch Arnaud Desplechin, dessen neuer Film Deux Pianos tatsäch­lich die ersten Tage rettet. Es dauert nur Sekunden, dann ist man einge­taucht in eine geheim­nis­volle Erzählung mit fernem Hitchcock-Flair und unter­grün­digen Bezügen zum phan­tas­ti­schen Kino.

Mitunter glauben wir, einem berühmten Pianisten zu folgen, der nach mehreren Jahren in Japan nach Lyon zurück­kehrt und plötzlich in einem Aufzug in Ohnmacht fällt, als er einer Frau begegnet. Bald hat er auch einen etwa zehn­jäh­rigen Jungen entdeckt, der exakt so aussieht, wie er selbst als Kind.

Als Zuschauer fragt man sich natürlich während­dessen, ob wir Zeugen einer Handlung werden, in der Vergan­gen­heit und Gegenwart gleich­zeitig im selben quan­ten­phy­si­ka­lisch erklärten Zeit-Raum-Kontinuum exis­tieren.

Doch das Erzähl-Knäuel des fran­zö­si­schen Filme­ma­chers wird bald entwirrt. Desplechin verknüpft die Fäden, die den Pianisten mit seiner ehema­ligen Geliebten verbinden, diese mit ihrem jetzigen Partner und jenen wiederum mit dem Jungen. So öffnet sich etwa zur Mitte des Films die Tür zu einer tradi­tio­nel­leren Erzählung über verpasste Liebes­ge­schichten und über die Möglich­keit – oder Unmög­lich­keit? –, diese wieder­zu­be­leben, wenn das Leben einem plötzlich eine zweite Chance bietet.

Als der drama­ti­sche und narrative Fluss auf seine poten­ziell phan­tas­ti­sche Dimension verzichtet, verliert Desplechins Film ein wenig an Reiz, bleibt jedoch immer getragen von der einma­ligen Insze­nie­rungs­kunst des Regis­seurs und ganz besonders von einer Bild­ge­stal­tung, die uns die Figuren sehr nahe bringt. Durch diese Körper­lich­keit und Vitalität entsteht eine unver­kenn­bare filmische Energie »Marke Desplechin«, auch wenn der Regisseur hier leider nicht die Höhen früherer Werke wie Roi et Reine und Un conte de Noël erreicht. Desplechin kehrt, das ist gewiss, zu einem seiner beharr­lichsten persön­li­chen Gespenster zurück: Den komplexen Vater-Sohn-Bezie­hungen, und betrachtet am Ende das aufblit­zende Liebes­paar mit einer distan­zierten, aber klaren Reife, und nie ohne Zärt­lich­keit.
In manchen Schwin­gungen dieser komplexen Liebes­ge­schichte ist zudem eine unbe­streit­bare Verwandt­schaft zu bestimmten Filmen von Truffaut zu spüren. All das macht aus dem viel­deu­tigen Entwurf, den Deux Pianos in sich trägt, ein ausge­spro­chen persön­li­ches Werk, das besonders eng mit dem eigen­wil­ligen Universum seines Autors verbunden ist.