Diesseits und jenseits des Films |
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Einer der stärksten diesjährigen Festivalfilme: Nadav Lapids YES | ||
(Foto: Gegenkino) |
Von Janick Nolting
Ein Zerlegen von Identitäten stand am Anfang des Programms. Das eine Mal bilden sexuelle Begegnungen den Rahmen für ein Befragen der eigenen, unsicheren Persönlichkeit. Das andere Mal ist es ein nationales Trauma, dessen Konsequenzen die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit und Rolle in einem System aufwerfen. Mit Jun Lis Queerpanorama und Nadav Lapids YES (Kinostart am 17. November) hat das »Gegenkino« zwei der stärksten diesjährigen Festivalfilme in Leipzig präsentiert. Queerpanorama hatte auf der Berlinale seine Weltpremiere, YES in Cannes. Beide verbindet das Erzählen auf Lücke.
In Queerpanorama zieht ein junger Mann in Hongkong von einem Sexdate zum nächsten. Eine elliptische Episode ist an die andere gereiht. In einem Reigen nimmt der Protagonist immer wieder Züge der Personen an, denen er zuvor begegnet ist. Der subjektive Blick auf andere wird damit auf das eigene Ich zurückgeworfen und erneut zur Anschauung gebracht. Die Identität setzt sich aus den Begegnungen mit dem Gegenüber zusammen und wird in eine Maske verwandelt. Das ist nicht nur fabelhaft geschrieben in seinen Dialogen, sondern auch erschütternd in einer gewalttätigen Zäsur, die alles zuvor Geformte wieder auf einen Ausgangspunkt zurückzusetzen scheint. Oder was ist in der Auslassung eigentlich passiert?
Die Gewalt ist es auch, die in den zweiten Film dieses Festival-Eröffnungsabends führt. In YES hat ein Musiker in Tel Aviv eine Schuldfrage und einen festsitzenden Schmerz gleichermaßen zu verkörpern. Nach dem Hamas-Massaker des siebten Oktobers soll er eine Hymne komponieren, die das nationale Ich und Wir auf dem beschworenen Untergang der Feinde festigen soll. Aber was ist der Preis dessen? Erzählt wird das Drama eines Künstlers also, der mit der Entscheidung für oder gegen das Mitspielen und der Reflexion der eigenen Überwältigung konfrontiert wird. Nadav Lapids Satire ist dabei so brutal gegenwärtig, wie Kino eigentlich nur sein kann, wenn Dokumentarisches und Gespieltes plötzlich eins werden, spätestens in der Reise an die Grenze zu Gaza. Gewalt und Gegengewalt treffen sich in einem Zwischenraum. Nicht nur territorial, sondern auch zwischen Wort und Bild, einer Gewaltschilderung und der distanzierten Beobachtung. YES verlagert das Wissen um diesen verheerenden Gewaltenkreislauf als Ahnung an den Horizont oder verwandelt ihn in schrille, medial vermittelte Schocks, die sich mit dem Zücken des Smartphones entladen.
Lapid zeigt kein Entfremden von der Welt und ihren moralischen Krisen, er lässt es sein Publikum spüren mit all den desorientierenden Schnitten, mit wackelnden und tänzelnden Aufnahmen, die an die Grenzen des Wahrnehmbaren gehen und erst nach und nach eine Ruhe und Konzentration erlangen. Seine polemische Alltagsbetrachtung Israels wird zum Trickspektakel zwischen Musical und Melodram und einer Abfolge von Zerrbildern, in denen sich der künstlerische Opportunismus selbst in ästhetische Stücke reißt.
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Im UT Connewitz, diesem altehrwürdigen Leipziger Kino- und Konzertsaal, wurde ein Podest errichtet. Mitten aus dem Zuschauerraum ragt die kleine Bühne in die Höhe, auf der sich eine ganz besondere Apparatur befindet – die Hauptattraktion der 11. Gegenkino-Ausgabe. Jan Kulka ist aus Prag mit seinem sogenannten Archeoscope angereist, einer selbst gebauten und mit vier parallelen Lichtern ausgestatteten Projektionsmaschine, die Kulka über den Köpfen des Publikums bedient. Ein anderes, ein Gegen-Kino bot diese Vorführung gleich in mehrerer Hinsicht. Einerseits, weil sie die Schau- und Vorführsituation an sich neu anordnet. Das Inszenieren des Lichtspiels, die Projektion, wird aus dem Unsichtbaren, in der Regel hinter dem Publikum verortet, ins Sichtbare gerückt. Man kann live dabei zusehen, wie es hergestellt wird und wie die Trennung zwischen dem Regisseur eines Films und dem, der ihn letztlich zur Vorführung bringt, aufgehoben werden.
Ein anderes Kino auch deshalb, weil es Film als Kunstform jenseits des Konventionellen begreift – jenseits des Narrativen, jenseits der figürlichen Darstellung und des klar Identifizierbaren, letztlich jenseits des fixierten Films an sich. Ein live kreiertes Flackern. Film als Ereignis. Zunächst leuchten kurz Kreisgebilde im Dunkel auf, die sich nach und nach zu hellen Flecken füllen. Sie erobern die ganze Leinwand, die sich als Grenze mit jedem grellen Blitz zu pulsierenden, dröhnenden und rhythmisch klackernden Tönen weiter aufzulösen scheint. Das Senden der Impulse, das Arbeiten des technischen Geräts wird hörbar. Der Künstler wird zum Schamanen, der das Publikum sinnlich attackiert, überwältigt und in Beschlag eines ekstatischen Rituals nimmt. Eine kollektive Trance im blendenden Licht.
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Ein Gegenkino ist auch eines, das sich einer Ganzheit und dem Geschlossenen widersetzt. Gleich mehrere Programmpunkte des Festivals widmeten sich diesem Gedanken. Sergei Paradschanows Die Farbe des Granatapfels von 1969 wurde so etwa einer Neubetrachtung unterzogen. Eine Neuvertonung und Montage alter Outtakes durch Elvin Brandhi und Daniel Bird verpassten dem Filmklassiker eine zusätzliche Realität. Die ohnehin surreale Bildsprache des Ausgangsmaterials wird in den Stellproben, Testaufnahmen und Wiederholungen zwischen erwiderten Kamerablicken, Lebendtableaux und ausgepressten Büchern (eines der eindringlichsten Bilder) zum Traumwandeln durch Bruchstücke. Ein Film im Entstehen wird sogleich wieder zerlegt. Das, was der Öffentlichkeit entzogen wurde, wird zur eigenen Kunstform erhoben. Der Umgang mit dem überlieferten Archivmaterial macht damit Obsessionen, Fetischobjekte, Motive in der Bildsprache sichtbar.
Dazu passt auch die Programmierung eines anderen großen Festivalfilms des Jahres: Hélène Cattets und Bruno Forzanis Genre-Spielerei Reflection in a Dead Diamond, die im Oktober regulär in die Kinos kommt. Traditionen des Spionagekinos werden hier zum filmischen Rausch mit Pistolenschüssen und Blutfontänen aus Edelsteinen und Gesichtern, die in Fetzen hängen. Eine Maske erscheint unter der anderen. Trugbilder, Täuschungen und Paranoia übernehmen die Welt. Eine Erinnerung und Dekonstruktion von Filmgeschichte(n) wird zum nostalgischen Trip, der sich zugleich in das Unterbewusste und Psychedelische rettet und den eigenen Medienverbund in einer labyrinthischen, postmodernen Franchise-Kultur gleich mitverhandelt. Er macht ihn zwischen Literatur und Film zum Teil der verschachtelten Erzählung. Sofern man dieses überbordende Montagekunstwerk überhaupt eine Erzählung nennen kann.
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Die Welt der Videospiele scheint aktuell reizvoll zu sein, um bis dato ungesehene, eigenwillige Filmbilder zu generieren. Das Verpflanzen von Gaming-Ästhetiken in den Kinosaal sorgt plötzlich für produktives Befremden und einen Bruch in der Wahrnehmung. Es schafft Eindrücke, die sich von einem Abbildrealismus entfernen. Das »Gegenkino« hat, wie bereits im Vorjahr, ein Kurzfilmprogramm mit sogenannten Machinima-Filmen gezeigt. »Reclaim the Frame: Machinimas von Frauen und Queers.« Das sind Filme, die, wie auch in einem einführenden Vortrag erklärt wurde, innerhalb von Games entstehen oder sich zumindest ihrer Bilder und Logiken bedienen. Game-Engines geben den Rahmen für die Filmproduktion. 2024 sorgte etwa Grand Theft Hamlet aus dieser Sparte für größeres Aufsehen. Der Film zeigte, wie in Pandemiezeiten eine Hamlet-Inszenierung im digitalen Raum der GTA-Spiele auf die Beine gestellt wird. Die theatrale Präsenz wird über Avatare und deren virtuelle Umgebung vermittelt.
Bei seinem neuen Machinima-Programm hat das »Gegenkino« vor allem mit dem Fünfminüter This Bitch Ain’T Free ein gutes Händchen bewiesen. Georgie Roxby Smith lässt hier eine weibliche Figur durch das Metaversum von Second Life irren, das Anfang der 2000er-Jahre populär wurde. Ausbruch unmöglich: Der Weg ins offene Meer führt nur an unsichtbare Grenzen. Der weibliche Körper wird zum zu beackernden Sexsymbol degradiert. Die Gewalt von Normierungen und Optimierungen bringt monströse, unheimliche Glitch-Bilder hervor. Mensch und Mobiliar werden eins. Arme und Beine ragen plötzlich aus Küchenzeilen oder verschmelzen mit einem Sessel. Ausdrücke – sexualisierte Posen und Bewegungen vor allem – vollziehen sich in verstörenden Loops. Das Weibliche wird zur gespiegelten und durchkreuzten Fantasie, deren Körpergrenzen für die Kamera durchlässig werden.
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»(Heraus) aus dem Archiv – Feministische Gegengeschichten«, so hat das »Gegenkino« einen seiner diesjährigen Schwerpunkte genannt. Das fügt sich nahtlos in die Identität dieses Festivals ein, das sich auch der Repräsentation marginalisierter oder überhörter Stimmen zwischen Gegenwart und Vergangenheit widmet. Ein mehrstündiger Themenabend präsentierte und diskutierte Ausschnitte aus den Archiven der Staatlichen Filmdokumentation der DDR. Dazu gehörte etwa ein Porträt der ehemaligen Justizministerin Hilde Benjamin.
Die Filmwissenschaftlerin Annette Brauerhoch hat daneben unter anderem den beeindruckenden Dokumentarfilm Fremd gehen. Gespräche mit meiner Freundin von 1999 vorgestellt. Brauerhoch berichtet darin von ihren erotischen Abenteuern mit amerikanischen Soldaten, die in Deutschland stationiert waren. Das ist ein Film, der nicht nur auf selten offene, ehrliche und nahbare Weise promiskuitives Begehren enttabuisiert, sondern auch die Rollen- und Geschlechterbilder, die damit verknüpft sind, zu reflektieren weiß. Wo verlaufen die Grenzen von Ungezwungenheit und Fetischisierung? Wo fällt das Verkehren von Stereotypen und Strukturen wieder auf andere Stereotype zurück? Räume des Militärs werden zur ausgelassenen Cruising-Zone und können doch ihre uniforme Tristesse nicht verbergen. Oder liegt genau darin der Reiz?
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Ein Film bietet sich besonders gut als Abschluss für einen Rückblick auf das elfte »Gegenkino« an: Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist von Sabine Herpich, der eine ganze Werkschau gewidmet wurde. Ihr Dokumentarfilm beobachtet den Alltag in einer Berliner Kunstwerkstatt für Behinderte. Er rüttelt am Innersten, wie wir Kunst überhaupt sehen. Herpich gelingt das einerseits mit ihrer gleichzeitigen Betrachtung von Werk und prozesshaftem Entstehen. Sie lädt das Publikum dazu ein, geduldig und aus intimer Nähe bei der Kunst als Arbeit und Handwerk zuzusehen. Ein Blick hinter die Kulissen also, ehe die bildende Kunst öffentlich ausgestellt wird.
Herpich versucht sich dabei auch an einem anderen Blick auf Menschen mit Behinderung, deren Biographie, Individualität und wie sich diese in das Kunstwerk einschreiben – oder eben gerade nicht. Denn Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist ist auch ein Film darüber, wie der Künstler im Werk verschwindet, wie er unnahbar bleibt, ob er nun mit einer Behinderung lebt oder nicht. Eine utopische Vorstellung, könnte man sagen, der dieser Dokumentarfilm aber nicht blindlings verfällt, sondern ebenso auf die Grenzen all dessen in einem kapitalistischen Kunstbetrieb verweist. Diese Grenzen stellen das Freiheitliche und Eskapistische sofort wieder unter die Herrschaft von anderen Deutungshoheiten und Zahlen. Herpichs Film handelt letztlich vom Konflikt zwischen Wert und Verwertbarkeit. Und allein deshalb passt er perfekt zu alternativen Festivals wie dem »Gegenkino«, die sich jährlich in ebendiesem Konflikt und gegen ökonomische Zwänge behaupten müssen.