25.09.2025

Diesseits und jenseits des Films

Nadav Lapids YES
Einer der stärksten diesjährigen Festivalfilme: Nadav Lapids YES
(Foto: Gegenkino)

Zum 11. Mal präsentierte das Leipziger Gegenkino-Festival ein Programm abseits des Mainstreams. Aber was bedeutet ein »Gegenkino« konkret? Schlaglichter auf 11 Tage Festival

Von Janick Nolting

Ein Zerlegen von Iden­ti­täten stand am Anfang des Programms. Das eine Mal bilden sexuelle Begeg­nungen den Rahmen für ein Befragen der eigenen, unsi­cheren Persön­lich­keit. Das andere Mal ist es ein natio­nales Trauma, dessen Konse­quenzen die Frage nach der eigenen Zugehö­rig­keit und Rolle in einem System aufwerfen. Mit Jun Lis Queer­pan­orama und Nadav Lapids YES (Kinostart am 17. November) hat das »Gegenkino« zwei der stärksten dies­jäh­rigen Festi­val­filme in Leipzig präsen­tiert. Queer­pan­orama hatte auf der Berlinale seine Welt­pre­miere, YES in Cannes. Beide verbindet das Erzählen auf Lücke.

In Queer­pan­orama zieht ein junger Mann in Hongkong von einem Sexdate zum nächsten. Eine ellip­ti­sche Episode ist an die andere gereiht. In einem Reigen nimmt der Prot­ago­nist immer wieder Züge der Personen an, denen er zuvor begegnet ist. Der subjek­tive Blick auf andere wird damit auf das eigene Ich zurück­ge­worfen und erneut zur Anschauung gebracht. Die Identität setzt sich aus den Begeg­nungen mit dem Gegenüber zusammen und wird in eine Maske verwan­delt. Das ist nicht nur fabelhaft geschrieben in seinen Dialogen, sondern auch erschüt­ternd in einer gewalt­tä­tigen Zäsur, die alles zuvor Geformte wieder auf einen Ausgangs­punkt zurück­zu­setzen scheint. Oder was ist in der Auslas­sung eigent­lich passiert?

Die Gewalt ist es auch, die in den zweiten Film dieses Festival-Eröff­nungs­abends führt. In YES hat ein Musiker in Tel Aviv eine Schuld­frage und einen fest­sit­zenden Schmerz glei­cher­maßen zu verkör­pern. Nach dem Hamas-Massaker des siebten Oktobers soll er eine Hymne kompo­nieren, die das nationale Ich und Wir auf dem beschwo­renen Untergang der Feinde festigen soll. Aber was ist der Preis dessen? Erzählt wird das Drama eines Künstlers also, der mit der Entschei­dung für oder gegen das Mitspielen und der Reflexion der eigenen Über­wäl­ti­gung konfron­tiert wird. Nadav Lapids Satire ist dabei so brutal gegen­wärtig, wie Kino eigent­lich nur sein kann, wenn Doku­men­ta­ri­sches und Gespieltes plötzlich eins werden, spätes­tens in der Reise an die Grenze zu Gaza. Gewalt und Gegen­ge­walt treffen sich in einem Zwischen­raum. Nicht nur terri­to­rial, sondern auch zwischen Wort und Bild, einer Gewalt­schil­de­rung und der distan­zierten Beob­ach­tung. YES verlagert das Wissen um diesen verhee­renden Gewal­ten­kreis­lauf als Ahnung an den Horizont oder verwan­delt ihn in schrille, medial vermit­telte Schocks, die sich mit dem Zücken des Smart­phones entladen.

Lapid zeigt kein Entfremden von der Welt und ihren mora­li­schen Krisen, er lässt es sein Publikum spüren mit all den desori­en­tie­renden Schnitten, mit wackelnden und tänzelnden Aufnahmen, die an die Grenzen des Wahr­nehm­baren gehen und erst nach und nach eine Ruhe und Konzen­tra­tion erlangen. Seine pole­mi­sche Alltags­be­trach­tung Israels wird zum Trick­spek­takel zwischen Musical und Melodram und einer Abfolge von Zerr­bil­dern, in denen sich der künst­le­ri­sche Oppor­tu­nismus selbst in ästhe­ti­sche Stücke reißt.

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Im UT Connewitz, diesem altehr­wür­digen Leipziger Kino- und Konzert­saal, wurde ein Podest errichtet. Mitten aus dem Zuschau­er­raum ragt die kleine Bühne in die Höhe, auf der sich eine ganz besondere Apparatur befindet – die Haupt­at­trak­tion der 11. Gegenkino-Ausgabe. Jan Kulka ist aus Prag mit seinem soge­nannten Archeo­scope angereist, einer selbst gebauten und mit vier paral­lelen Lichtern ausge­stat­teten Projek­ti­ons­ma­schine, die Kulka über den Köpfen des Publikums bedient. Ein anderes, ein Gegen-Kino bot diese Vorfüh­rung gleich in mehrerer Hinsicht. Einer­seits, weil sie die Schau- und Vorführ­si­tua­tion an sich neu anordnet. Das Insze­nieren des Licht­spiels, die Projek­tion, wird aus dem Unsicht­baren, in der Regel hinter dem Publikum verortet, ins Sichtbare gerückt. Man kann live dabei zusehen, wie es herge­stellt wird und wie die Trennung zwischen dem Regisseur eines Films und dem, der ihn letztlich zur Vorfüh­rung bringt, aufge­hoben werden.

Ein anderes Kino auch deshalb, weil es Film als Kunstform jenseits des Konven­tio­nellen begreift – jenseits des Narra­tiven, jenseits der figür­li­chen Darstel­lung und des klar Iden­ti­fi­zier­baren, letztlich jenseits des fixierten Films an sich. Ein live kreiertes Flackern. Film als Ereignis. Zunächst leuchten kurz Kreis­ge­bilde im Dunkel auf, die sich nach und nach zu hellen Flecken füllen. Sie erobern die ganze Leinwand, die sich als Grenze mit jedem grellen Blitz zu pulsie­renden, dröh­nenden und rhyth­misch klackernden Tönen weiter aufzu­lösen scheint. Das Senden der Impulse, das Arbeiten des tech­ni­schen Geräts wird hörbar. Der Künstler wird zum Schamanen, der das Publikum sinnlich atta­ckiert, über­wäl­tigt und in Beschlag eines eksta­ti­schen Rituals nimmt. Eine kollek­tive Trance im blen­denden Licht.

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Ein Gegenkino ist auch eines, das sich einer Ganzheit und dem Geschlos­senen wider­setzt. Gleich mehrere Programm­punkte des Festivals widmeten sich diesem Gedanken. Sergei Paradsch­a­nows Die Farbe des Granat­ap­fels von 1969 wurde so etwa einer Neube­trach­tung unter­zogen. Eine Neuver­to­nung und Montage alter Outtakes durch Elvin Brandhi und Daniel Bird verpassten dem Film­klas­siker eine zusätz­liche Realität. Die ohnehin surreale Bild­sprache des Ausgangs­ma­te­rials wird in den Stell­proben, Test­auf­nahmen und Wieder­ho­lungen zwischen erwi­derten Kame­ra­bli­cken, Lebend­ta­bleaux und ausge­pressten Büchern (eines der eindring­lichsten Bilder) zum Traum­wan­deln durch Bruchs­tücke. Ein Film im Entstehen wird sogleich wieder zerlegt. Das, was der Öffent­lich­keit entzogen wurde, wird zur eigenen Kunstform erhoben. Der Umgang mit dem über­lie­ferten Archiv­ma­te­rial macht damit Obses­sionen, Fetisch­ob­jekte, Motive in der Bild­sprache sichtbar.

Dazu passt auch die Program­mie­rung eines anderen großen Festi­val­films des Jahres: Hélène Cattets und Bruno Forzanis Genre-Spielerei Reflec­tion in a Dead Diamond, die im Oktober regulär in die Kinos kommt. Tradi­tionen des Spio­na­ge­kinos werden hier zum filmi­schen Rausch mit Pisto­len­schüssen und Blut­fon­tänen aus Edel­steinen und Gesich­tern, die in Fetzen hängen. Eine Maske erscheint unter der anderen. Trug­bilder, Täuschungen und Paranoia über­nehmen die Welt. Eine Erin­ne­rung und Dekon­struk­tion von Film­ge­schichte(n) wird zum nost­al­gi­schen Trip, der sich zugleich in das Unter­be­wusste und Psyche­de­li­sche rettet und den eigenen Medi­en­ver­bund in einer laby­rin­thi­schen, post­mo­dernen Franchise-Kultur gleich mitver­han­delt. Er macht ihn zwischen Literatur und Film zum Teil der verschach­telten Erzählung. Sofern man dieses über­bor­dende Monta­ge­kunst­werk überhaupt eine Erzählung nennen kann.

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Die Welt der Video­spiele scheint aktuell reizvoll zu sein, um bis dato unge­se­hene, eigen­wil­lige Film­bilder zu gene­rieren. Das Verpflanzen von Gaming-Ästhe­tiken in den Kinosaal sorgt plötzlich für produk­tives Befremden und einen Bruch in der Wahr­neh­mung. Es schafft Eindrücke, die sich von einem Abbild­rea­lismus entfernen. Das »Gegenkino« hat, wie bereits im Vorjahr, ein Kurz­film­pro­gramm mit soge­nannten Machinima-Filmen gezeigt. »Reclaim the Frame: Machi­nimas von Frauen und Queers.« Das sind Filme, die, wie auch in einem einfüh­renden Vortrag erklärt wurde, innerhalb von Games entstehen oder sich zumindest ihrer Bilder und Logiken bedienen. Game-Engines geben den Rahmen für die Film­pro­duk­tion. 2024 sorgte etwa Grand Theft Hamlet aus dieser Sparte für größeres Aufsehen. Der Film zeigte, wie in Pande­mie­zeiten eine Hamlet-Insze­nie­rung im digitalen Raum der GTA-Spiele auf die Beine gestellt wird. Die theatrale Präsenz wird über Avatare und deren virtuelle Umgebung vermit­telt.

Bei seinem neuen Machinima-Programm hat das »Gegenkino« vor allem mit dem Fünf­minüter This Bitch Ain’T Free ein gutes Händchen bewiesen. Georgie Roxby Smith lässt hier eine weibliche Figur durch das Meta­versum von Second Life irren, das Anfang der 2000er-Jahre populär wurde. Ausbruch unmöglich: Der Weg ins offene Meer führt nur an unsicht­bare Grenzen. Der weibliche Körper wird zum zu beackernden Sexsymbol degra­diert. Die Gewalt von Normie­rungen und Opti­mie­rungen bringt monströse, unheim­liche Glitch-Bilder hervor. Mensch und Mobiliar werden eins. Arme und Beine ragen plötzlich aus Küchen­zeilen oder verschmelzen mit einem Sessel. Ausdrücke – sexua­li­sierte Posen und Bewe­gungen vor allem – voll­ziehen sich in vers­tö­renden Loops. Das Weibliche wird zur gespie­gelten und durch­kreuzten Fantasie, deren Körper­grenzen für die Kamera durch­lässig werden.

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»(Heraus) aus dem Archiv – Femi­nis­ti­sche Gegen­ge­schichten«, so hat das »Gegenkino« einen seiner dies­jäh­rigen Schwer­punkte genannt. Das fügt sich nahtlos in die Identität dieses Festivals ein, das sich auch der Reprä­sen­ta­tion margi­na­li­sierter oder über­hörter Stimmen zwischen Gegenwart und Vergan­gen­heit widmet. Ein mehr­s­tün­diger Themen­abend präsen­tierte und disku­tierte Ausschnitte aus den Archiven der Staat­li­chen Film­do­ku­men­ta­tion der DDR. Dazu gehörte etwa ein Porträt der ehema­ligen Justiz­mi­nis­terin Hilde Benjamin.

Die Film­wis­sen­schaft­lerin Annette Brau­er­hoch hat daneben unter anderem den beein­dru­ckenden Doku­men­tar­film Fremd gehen. Gespräche mit meiner Freundin von 1999 vorge­stellt. Brau­er­hoch berichtet darin von ihren eroti­schen Aben­teuern mit ameri­ka­ni­schen Soldaten, die in Deutsch­land statio­niert waren. Das ist ein Film, der nicht nur auf selten offene, ehrliche und nahbare Weise promis­kui­tives Begehren entta­bui­siert, sondern auch die Rollen- und Geschlech­ter­bilder, die damit verknüpft sind, zu reflek­tieren weiß. Wo verlaufen die Grenzen von Unge­zwun­gen­heit und Feti­schi­sie­rung? Wo fällt das Verkehren von Stereo­typen und Struk­turen wieder auf andere Stereo­type zurück? Räume des Militärs werden zur ausge­las­senen Cruising-Zone und können doch ihre uniforme Tristesse nicht verbergen. Oder liegt genau darin der Reiz?

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Ein Film bietet sich besonders gut als Abschluss für einen Rückblick auf das elfte »Gegenkino« an: Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist von Sabine Herpich, der eine ganze Werkschau gewidmet wurde. Ihr Doku­men­tar­film beob­achtet den Alltag in einer Berliner Kunst­werk­statt für Behin­derte. Er rüttelt am Innersten, wie wir Kunst überhaupt sehen. Herpich gelingt das einer­seits mit ihrer gleich­zei­tigen Betrach­tung von Werk und prozess­haftem Entstehen. Sie lädt das Publikum dazu ein, geduldig und aus intimer Nähe bei der Kunst als Arbeit und Handwerk zuzusehen. Ein Blick hinter die Kulissen also, ehe die bildende Kunst öffent­lich ausge­stellt wird.

Herpich versucht sich dabei auch an einem anderen Blick auf Menschen mit Behin­de­rung, deren Biogra­phie, Indi­vi­dua­lität und wie sich diese in das Kunstwerk einschreiben – oder eben gerade nicht. Denn Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist ist auch ein Film darüber, wie der Künstler im Werk verschwindet, wie er unnahbar bleibt, ob er nun mit einer Behin­de­rung lebt oder nicht. Eine utopische Vorstel­lung, könnte man sagen, der dieser Doku­men­tar­film aber nicht blind­lings verfällt, sondern ebenso auf die Grenzen all dessen in einem kapi­ta­lis­ti­schen Kunst­be­trieb verweist. Diese Grenzen stellen das Frei­heit­liche und Eska­pis­ti­sche sofort wieder unter die Herr­schaft von anderen Deutungs­ho­heiten und Zahlen. Herpichs Film handelt letztlich vom Konflikt zwischen Wert und Verwert­bar­keit. Und allein deshalb passt er perfekt zu alter­na­tiven Festivals wie dem »Gegenkino«, die sich jährlich in eben­diesem Konflikt und gegen ökono­mi­sche Zwänge behaupten müssen.