07.08.2025

Jetzt sprechen die Filme

Sehnsucht in Sangerhausen
Sehnsucht in Sangerhausen: Der neue Film von Julian Radlmaier
(Foto: Locarno · Julian Radlmaier)

Große Erwartungen: Das Kino hat schon Schlimmeres überstanden als provinziellen Film-Journalismus und Marketing-Narrative. Und am Ende bleibt uns immer die Retrospektive – Notizen aus Locarno, 1.Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Allein die Tatsache, dass so viele Beiträge aus Deutsch­land kommen, garan­tiert natürlich noch keinen Preis.« – dpa

Es ist die typische alljähr­liche dpa-Mittei­lung zu Locarno: »Gute Chancen für das deutsche Kino«. Nahezu jedes Jahr schreibt dpa aus Locarno im Prinzip das gleiche: »Deutsches Kino glänzt beim Festival von Locarno« (2024); »Deutsches Kino bekommt Applaus« (2022); »Beifall für das deutsche Kino« (2021); »Deutsches Kino hat Chancen«.
Woher weiß die Agentur das? In Locarno haben deutsche Filme schon lange keine großen Preise mehr gewonnen.

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Natürlich kann man alles in einen großen Topf schmeißen und einmal umrühren, damit ein Eintopf rauskommt: »Film­schaf­fende aus der Bundes­re­pu­blik sind stark vertreten: 22 der insgesamt 222 Kurz-, Spiel-, Doku­mentar- und Expe­ri­men­tal­filme in verschie­denen Wett­be­werben sind deutsche oder mit deutscher Betei­li­gung reali­sierte inter­na­tio­nale Produk­tionen.«

Man könnte es trotzdem auch anders sagen, etwas gelas­sener und relaxter und lebens­weiser, ohne Jubel­schlag­zeilen heraus­zu­po­saunen, die nur den falschen Eindruck erwecken, dem deutschen Kino ginge es problemlos super.

Es läuft als Wett­be­werbs­bei­trag der neue Film von Julian Radlmaier (Blut­sauger): Sehnsucht in Sanger­hausen. Die Komödie verfolgt die verschlun­genen Lebens­wege von wage­mu­tigen Frauen. Außerdem gibt es im Haupt­wett­be­werb den Roadmovie Dry Leaf vom in Berlin lebenden (und deutsch co-finan­zierten) Georgier Alexandre Koberidze, sowie die Lovestory White Snail des öster­rei­chisch-deutschen Regie-Duos Elsa Kremser und Levin Peter, deren Space Dogs hier vor Jahren eine berü­ckende Entde­ckung war.

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Es geht im übrigen ja auch gar nicht um das deutsche Kino. Noch nicht mal um das deutsch­spra­chige. Wir sind in der italie­ni­schen Schweiz und in der Schweiz gibt es drei Sprachen und Kulturen. Locarno ist ein inter­na­tio­nales Film­fes­tival, insofern geht es wie bei allen anderen Film­fes­ti­vals auch um alle Film­na­tionen und ein deutsch­zen­trierter Blick ist erstmal ungemein provin­ziell. Es stünde gerade auch dem deutschen Film­jour­na­lismus (um das Wort Film­kritik mal besser gar nicht erst zu verwenden) gut an, wenn sie eine entspre­chende Offenheit an den Tag legen würde. Wir werden das in jedem Fall in den nächsten zehn Tagen versuchen.

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Die im halben Dutzend verge­benen Ehren­preise sorgen für Star­prä­senz auf der berühmten Piazza Grande: Die Schau­spie­le­rinnen Gols­hifteh Farahani, Emma Thompson und Lucy Liu kommen, genau wie Altstar Jackie Chan für die Männer­quote.

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Locarno hat nach wie vor an den Folgen der Pandemie zu leiden und – danach hat sich das Festival nicht wirklich erholt . Die Konkur­renz vor allem in Zürich hat aufgeholt. Im zweiten Jahr hat das Festival auch eine neue Präsi­dentin: Die Basler Pharma-Milli­ar­därin, Kunst­samm­lerin und Mäzenin Maja Hoffmann folgte 2024 auf die Ära des wort­ge­wal­tigen Kultur­stra­tegen und Tourismus-Poli­ti­kers Marco Solari – mit dieser Ernennung und Hoffmanns erklärtem Anspruch, das Festival zu verändern, gingen auch Befürch­tungen einher. In diesem, Hoffmanns zweitem Jahr wird man erleben können, ob das Festival noch weiterhin ein fein­sin­niger cine­as­ti­scher Begeg­nungsort mit Tessiner Flair ist. Hoffmanns Verspre­chungen – globaler , jünger, durch­läs­siger, expe­ri­men­teller, relevant »für eine Welt, in der Film längst nicht mehr nur im Kinosaal statt­findet« – klingen erstmal nach Marketing-Narra­tiven.

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Das Kino hat schon Schlim­meres über­standen. Davon erzählt Die umfas­sende Retro­spek­tive von Locarno, orga­ni­siert von der Ciné­ma­thèque suisse in Part­ner­schaft mit dem British Film Institute (BFI) gilt diesmal unter dem Titel: »Große Erwar­tungen« dem briti­schen Kino der Nach­kriegs­zeit, genauer der Jahre 1945 bis 1960. Das Programm reicht von beliebten Klas­si­kern bekannter Regis­seure wie David Lean, der vor in den 50er Jahren mehrfach Dickens verfilmte, dem großen Carol Reed, der außer dem bekannten Der dritte Mann noch sehr viele andere Thriller und Sozi­al­me­lo­dramen verant­wor­tete und den »Archers«, dem legen­dären Regiepaar Powell & Press­burger (denen bereits 1982 in Locarno und 2023 vom BFI eine große Retro­spek­tive gewidmet war), bis ande­rer­seits zu wenig bekannten Kino­perlen, etwa wie dem briti­schen Film Noir.

Nach der 78. Ausgabe des Locarno Film Festival wird das Programm auch inter­na­tional zu sehen sein, wahr­schein­lich auch in Film­mu­seen in Deutsch­land.