31.07.2025
Cinema Moralia – 355. Folge

Wer eine Gesellschaft zerstören will, muss ihre Künste zerstören

Horst Mahler, 2001
Horst Mahler, 2001, auf einer Demonstration in Leipzig
(Foto: Herder3, CC BY-SA 3.0)

Drei Aufgaben von Kunst und ihre Gegensätze: Optimierung, Rationalisierung, Deregulierung und Normierung, der neue Haushalt, die Filmpolitik – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 355. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Der Mohr hat seine Schul­dig­keit getan. Der Mohr kann gehen.« – Friedrich Schiller

»Der Wider­spruch ist das Zeichen der Wahrheit.« – Hegel

Er hatte all das Zeug, das es für einen guten Schurken im Kino braucht: Charisma, Intel­li­genz, Tragik und Bosheit. Das Kino ist es darum auch, das dafür sorgen wird, dass uns Horst Mahler dauerhaft in Erin­ne­rung bleiben wird: Durch seine wenigen, aber markanten Auftritte in Kino­filmen: Wie er in einem Interview in der Gefäng­nis­zelle in Deutsch­land im Herbst von seiner Hegel-Lektüre im Knast berichtet, und aus dieser die entschei­denden Schlüsse dafür zieht, warum er sich von der RAF distan­ziert hat. Und wie in Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte, dem schönen Film über die drei Berliner »Links­an­wälte« Otto Schily, Hans-Christian Ströbele und eben Mahler, die im West-Berlin der späten Sechziger als APO-Anwälte berühmt wurden. Wer diesen Film sieht, bekommt den Eindruck, dass es Mahler in allen seinen poli­ti­schen Verren­kungen viel weniger um Ideologie geht, als um schiere Provo­ka­tion und den Charme der Dissidenz.
Horst Mahler hätte ich darum gern kennen­ge­lernt, vor allem in jener Zeit, als er noch nicht rechts­extrem war, sondern sehr links.
Obwohl er wahr­schein­lich auch damals schon ein eher unan­ge­nehmer Kerl war, und Stefan Reinecke, der Autor des Nachrufs in der taz vermut­lich recht hat, wenn er am Ende schreibt: »es ist gleichsam zu nahe­lie­gend, dieses extreme, defor­mierte Leben als Beweis für 'links gleich rechts' zu benutzen. Mahler ist eher eine Art Echo­kammer der deutschen Kata­stro­phen­ge­schichte im 20. Jahr­hun­dert. Die plane Hufei­sen­these verfehlt das Indi­vi­du­elle, das Rätsel­hafte, Schräge, den Sinn für die drama­ti­sche Selb­stü­ber­höhung. Denn im Zentrum des Links- und Rechts­extre­misten, des Maoisten und Neonazis Horst Mahler stand immer – er selbst.«

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Kunst ist seit jeher das wider­s­tän­digste Element jeder Gesell­schaft. Künstler, also auch Filme­ma­cher sind genau dieje­nigen Indi­vi­duen, die beispiel­haft zeigen und allen anderen vorführen, dass andere Entschei­dungen als die üblichen, gewohnten möglich sind, dass Moral etwas Indi­vi­du­elles ist und letztlich persön­li­cher Willkür und Entschei­dung unter­liegt, dass sie sich im Einzel­fall zeigt und nur im Unter­schei­dungsakt gegenüber einem Main­stream beweist, aber nicht Im-Sich-Fügen an eine Mehrheit.

Die Mehrheit reagiert auf solche Über­le­gungen vers­tänd­li­cher­weise aller­gisch. Sie verlangt Normie­rung. Normie­rung liegt nun aber nicht im Interesse aller Einzelnen und wahr­schein­lich noch nicht einmal im Interesse einer Gesamt­heit.

Normie­rungs­ten­denzen und Normie­rungs­wün­sche entspre­chen zugleich komplett dem, was der Neoli­be­ra­lismus in den letzten 40 Jahren mit der Gesell­schaft macht.

Unter dem Banner der Dere­gu­lie­rung wird neu reguliert; unter dem Banner der Ratio­na­li­sie­rung (also wörtlich »Vernünf­tig­ma­chung«) wird unver­nünftig gespart, wird gespart bis zur Vernich­tung dessen, was durch das Sparen gerettet werden soll. Unter dem Banner der Opti­mie­rung wird verschlech­tert.

Opti­mie­rung, Ratio­na­li­sie­rung, Dere­gu­lie­rung und Normie­rung sind allesamt Prozesse, die in den letzten Jahr­zehnten zu einer Moder­ni­sie­rung der Verhält­nisse einge­setzt werden und dienen sollen, die im Sinne einer Effi­zi­enz­stei­ge­rung verstanden wird: Je effi­zi­enter etwas ist, desto moderner ist es – so lautet die Behaup­tung.
Aber effizient in welchem Sinne? Effizient im Sinne der Aufga­ben­er­fül­lung? Nein, sondern effizient im Sinne der Gewinn­stei­ge­rung und der Wert­stei­ge­rung (der share­holder values) eines Unter­neh­mens. Dieses Unter­nehmen wird dabei in kurz­fris­tigen Börsen­zeiträumen anhand der Erwar­tungen für den nächsten Börsen­zeit­raum hin bewertet. Es wird also bewertet, ob in der nahen Zukunft weitere Gewinne und Wert­stei­ge­rungen zu erwarten sind oder Wert­sen­kungen.

Effizient ist was den Wert eines Unter­neh­mens (also den Börsen­wert und zwar den kurz­fris­tigen für die nächsten drei Monate) steigert, denn hier kann man sein Geld effizient vermehren. Was den Wert in den nächsten Monaten senkt, das gilt demge­genüber als inef­fi­zient, selbst wenn die inhalt­liche Aufga­ben­er­fül­lung besser gelingt als im ersten Fall und also die volks­wirt­schaft­liche Aufgabe und die volks­wirt­schaft­liche Effizienz gestei­gert werden.

Es gilt auch dann als inef­fi­zient, wenn eine Effi­zi­enz­stei­ge­rung viel­leicht auf einen langen Zeitraum hin zu erwarten ist, also in zwei oder fünf Jahren, aber mit kurz­fris­tiger Effi­zi­enz­sen­kung erkauft wird. Das heißt: Kurz­fris­tiges Denken wird belohnt, lang­fris­tiges bestraft.
Das Denken der Betriebs­wirt­schaft hat das Denken der Volks­wirt­schaft ersatzlos abgelöst.

Es ist, als ob die ganze Wirt­schaft verrückt geworden wäre. Wenn aber der Staat plötzlich auch wie ein Wirt­schafts­un­ter­nehmen funk­tio­nieren soll und statt auf volks­wirt­schaft­liche Effizienz auf betriebs­wirt­schaft­liche ausge­richtet ist, dann ist es, als ob auch der ganze Staat verrückt geworden wäre.

Denn auf diese Weise wird ein Vernich­tungs­werk reali­siert, das nicht nur einzelne Unter­nehmen, einzelne Gesell­schaften und Staaten vernichtet, sondern konse­quent zuende gedacht, Welt und Mensch­heit insgesamt. Kurz­fristig wird es vielen besser gehen, lang­fristig geht es allen schlechter.
Genau die Erkenntnis dieses Prozesses und seiner Folgen setzt sich allmäh­lich durch – nicht zuletzt, weil der Klima­wandel bereits Folgen zeigt, die auch kurz­fristig das Klima­ge­füge (und mit ihm kurz­fris­tige Gewinne oder Gewinn­erwar­tungen der Inves­toren) erschüt­tert und ins Wanken bringt.

Was alles hat dies aber nun mit Kultur zu tun?

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Es geht bei Kultur entgegen dem Vorurteil nie alleine um den Selbst­ver­wirk­li­chungs­drang eines Genies oder die Willkür weniger privi­le­gierter, sondern es geht bei Kultur immer um ihre Funktion. Ihre Funktion für die Gesell­schaft.

Wozu braucht die Mensch­heit Kunst? Warum gibt es eigent­lich Kunst? Kunst und Kultur haben, seitdem es sie gibt, mindes­tens drei gesell­schaft­liche Aufgaben.

Zum einen Sinn­er­zeu­gung und Iden­ti­täts­bil­dung. Kultur ist Mittel und Ort zur Selbst­ver­s­tän­di­gung der Gesell­schaft und in der Folge zur Selbst­de­fi­ni­tion der Gesell­schaft. Selbst­be­stim­mung, Sinn­ge­bung, mitunter Reli­gi­ons­er­satz.
Kunst muss als Fort­set­zung der Religion mit anderen Mitteln und als Fort­set­zung der Philo­so­phie mit anderen Mitteln verstanden werden. Als »neue Mytho­logie« wie es der Philosoph G.W.F. Hegel im »Ältesten System­frag­ment des deutschen Idea­lismus« beschreibt.

Die zweite Aufgabe von Kunst und Kultur sind Verklärung und Idea­li­sie­rung. Kunst leistet die symbo­li­sche Reprä­sen­ta­tion der Gesell­schaft, die Aura­ti­sie­rung und Mytho­lo­gi­sie­rung der Verhält­nisse, sie verleiht in der Selbst­dar­stel­lung der Gesell­schaft Charisma.
Kunst und Kultur kann für die Gesell­schaft einnehmen und verführen, sie von ihren schönsten Seiten zeigen, die schlechten Seiten mit Glanz und Glamour versehen. In der Kunst – auch in den mit Hans Robert Jauß »nicht mehr schönen Künsten« – sieht man schöne Menschen schöne Dinge machen.
Kunst ist damit auch Propa­ganda, auch Trost, auch Erklärung des Lebens, schöner Schein, ernstes Spiel.

Die dritte Aufgabe von Kunst und Kultur ist Kritik, Irri­ta­tion, Provo­ka­tion und Infra­ge­stel­lung der Gesell­schaft. Sie ist Verbes­se­rung und Opti­mie­rung der Gesell­schaft durch ihre Infra­ge­stel­lung. Kunst in diesem Vers­tändnis ist Mittel und Anlass und Auslöser und Motor zur Selbst­ver­bes­se­rung der Gesell­schaft, zur Selbst­kor­rektur.
Kunst ist gerade auch als Antithese zur Gesell­schaft ein Mittel ihrer lang­fris­tigen Stabi­li­sie­rung. Wer eine Gesell­schaft, wie sie ist, zerstören will, muss daher ihre Künste zerstören.

Genau das tun die neuen Controller und Opti­mierer in den Minis­te­rien und Förder­insti­tu­tionen, den Kultur­gre­mien und Kura­to­ren­kom­mis­sionen und ihre unwis­senden, aber überaus willigen Diener in den Medien helfen ihnen dabei, woke und naiv wie sie sind.

Kunst war bisher Platz­halter des Offenen, des ganz Anderen. Kunst war Aufmerk­sam­keits­motor für Leer­stellen, für Uner­fülltes, für noch zu Leis­tendes, Utopi­sches. Kunst war symbo­li­sche Reprä­sen­ta­tion des Nichts; sie war Platz­halter und Medium des Nicht-Iden­ti­schen.

Jetzt bricht sich im Kultur­be­trieb ein neuer sozia­lis­ti­scher Realismus Bahn, der im Rahmen einer neuen Normie­rung der Künste durch Büro­kra­ti­sie­rung, Vorschriften und Nach­weis­pflichten in – aus Sicht der Kino­pro­duk­tion betrachtet – Sekun­där­be­rei­chen wie Gleich­stel­lung´, Diver­sität, grünes Produ­zieren, Sozi­al­stan­dards und durch Skan­da­li­sie­rung des alten wider­s­tän­digen Kerns der Künste.

Man wünscht sich offenbar eine Kultur, die eine Art »Neuen demo­kra­ti­schen Menschen« abbildet, den »Arbeiter an der Wokeness«, den Arbeiter an einer idealen Gerech­tig­keit. Kultur darf darum nicht länger Sand im Getriebe sein. Kultur soll nur noch Schmier­mittel der immer geölter und schneller schnur­renden Gesell­schafts­ma­schine sein.

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Dem entspre­chen leider auch die desas­trösen Ergeb­nisse der neuen Film­för­der­po­litik. Heute purzelten die Jubel­mel­dungen in mein Mail­post­fach. Sie stammten freilich sämtlich von der Bundes­re­gie­rung oder der Produ­zen­ten­al­lianz.

»Der Beauf­tragte der Bundes­re­gie­rung für Kultur und Medien erreicht Rekord­etat: '2,5 Milli­arden Euro für die deutsche Kultur­land­schaft« hieß es aus dem Hause Wolfram Weimer. Gegenüber dem Vorjah­res­ent­wurf bedeute das »ein Plus von rund 10 Prozent.«

Vermeldet wird dabei ein »Durch­bruch bei der Reform der Film­för­de­rung«. Tatsäch­lich werden die Mittel für den Deutschen Film­för­der­fonds und den German Motion Picture Fund nahezu verdop­pelt auf 250 Millionen Euro.

Dies schafft die Voraus­set­zungen für ein attrak­tives Anreiz­system mit lang­fris­tiger Planungs­si­cher­heit und ermög­licht den dringend notwen­digen Neustart für den Film­standort Deutsch­land auf inter­na­tional wett­be­werbs­fähigem Niveau.

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Als einzige jubeln die Produ­zen­ten­ver­bände: »Starkes Signal für den Film­standort Deutsch­land: Bundes­re­gie­rung verdop­pelt Anreiz­för­de­rung ... Ein Bran­chen­bündnis aus Produk­ti­ons­al­lianz, AG DOK, Deutsche Film­aka­demie und PROG begrüßt die heute vom Bundes­ka­bi­nett beschlos­sene Erhöhung der Förder­mittel. ... Damit legt die Bundes­re­gie­rung bereits in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit die Basis für eine neue, attrak­tive Produk­ti­ons­för­de­rung sowie wirksame, effi­zi­ente und verläss­liche Lösungen zur Voll­endung der Film­re­form.«

Michelle Münte­fe­ring, CEO und Spre­cherin des Gesamt­vor­stands der Produk­ti­ons­al­lianz: »Gesagt, getan: Das Kulturgut Film hat wieder Priorität. Staats­mi­nister Wolfram Weimer lässt seiner Ankün­di­gung sehr zügig Taten folgen und gibt dem deutschen Film endlich wieder die Bedeutung, die er verdient. Das unter­s­tützen wir.«

Martin Heisler, Vorstands­vor­sit­zender Deutsche Film­aka­demie: »Die Entschei­dung der neuen Regierung ist für die Deutsche Film­aka­demie ein starkes Signal an die Branche. Dass die zusätz­li­chen Mittel bereits ab Januar 2026 fließen und bis 2029 gesichert sind, schafft die dringend nötige Planungs­si­cher­heit – ein entschei­dender Impuls für den Film­standort Deutsch­land. Sie unter­streicht die kultu­relle und wirt­schaft­liche Bedeutung unserer Branche und schafft verläss­liche Rahmen­be­din­gungen, um auf hohem Niveau und inter­na­tional wett­be­werbs­fähig zu arbeiten – für Produzent:innen und die Film­schaf­fenden aus allen Gewerken ist das eine gute Nachricht.«

Julia Maier-Hauff, Geschäfts­füh­rerin und Syndi­kus­rechts­an­wältin von PROG Producers of Germany: »Die Erhöhung der Anreiz­för­de­rung ist ein wichtiges Signal auch für unsere inter­na­tio­nalen Partner und gibt der deutschen Film­branche endlich die notwen­dige Planungs­si­cher­heit.
Man möchte wissen, was da einige im Morgen­kaffee hatten.«

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Die FAZ dagegen kriti­siert zu recht den bishe­rigen Produ­zen­ten­al­lianz-Funk­ti­onär und neuen Klingbeil-Staats­se­kretär Björn Böhning.

Selbst Förder­fach­leute sind sich noch im Unklaren darüber, inwieweit diese Erhöhung, vor die noch ein Haus­halts­vor­be­halt gestellt ist, auch noch von einer Inves­ti­ti­ons­ver­pflich­tung abhängig ist.

Fazit: Die zitierten Produ­zen­ten­funk­ti­onäre reden gegen die Inter­essen der eigenen Branche. Der derzei­tige Umgang der Film­för­de­rung mit dem Kinofilm ist lieblos und kennt­nislos. Er droht diesen zu zerstören.

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»Berliner Sprach­po­lizei nimmt Thüringen den Mohren weg« titelte neulich eine Thüringer Zeitung. Gemeint war: Durch die Umbe­nen­nung der 300 Jahre alten Berliner Mohren­straße, die nach jahre­langen Debatten nun am 23. August durch die schwarz-rote Stadt­ver­wal­tung vollzogen werden wird, bekommt die Landes­ver­tre­tung des Frei­staates Thüringen in Zukunft eine andere Anschrift. Die Straße soll statt­dessen künftig Anton-Wilhelm-Amo-Straße heißen. Beschlossen worden war die Umbe­nen­nung in dem von den Grünen geführten Berliner Stadt­be­zirk bereits 2021. Der Begriff Mohr sei »proble­ma­tisch« und »rassis­tisch«, wurde von der Bezirks­re­gie­rung zur Begrün­dung angeführt. Anwohner klagten dagegen durch zwei Instanzen und argu­men­tierten, die immerhin 300 Jahre-alte Namens­ge­bung für die Straße sei nicht rassis­tisch, sondern wert­schät­zend gemeint.
Trotzdem kommt der Name jetzt vorläufig unter politisch korrekte Räder.
Anton Wilhelm Amo (geboren um 1703 in West­afrika, gestorben zwischen 1756 und 1784 im heutigen Ghana) war der erste bekannte Philosoph afri­ka­ni­scher Herkunft in Deutsch­land. Er lehrte in Witten­berg, Halle und Jena. In Jena soll er Kurse in Astro­logie und Geheim­schrift angeboten haben. Von ihm soll auch eine Studi­en­ar­beit »Über die Rechts­stel­lung der Mohren in Europa« stammen, die jedoch nicht erhalten ist.
Verbin­dungen nach Berlin sind nicht über­lie­fert.

(to be continued)