05.06.2025

Gegen die »feigen Neutralisten«

Marcel Ophüls
Marcel Ophüls (1927-2025)
(Foto: Propyläen/Ullstein)

Bitte keine »Objektivität«: Zum Tod des großen Regisseurs und kämpferischen Aufklärers Marcel Ophüls

Von Rüdiger Suchsland

»Auf die Ehrlich­keit kommt es an, nicht auf die Neutra­lität.«
- Marcel Ophüls

Es ist eine natür­liche Sache im Leben eines jeden Menschen, erst recht eines Jour­na­listen, der viele Leute trifft: je älter man wird, um so häufiger passiert es, dass Menschen sterben, mit denen man kürzere oder längere Begeg­nungen hatte, oder mit denen man sogar Inter­views geführt hat.

Die Begeg­nungen mit Marcel Ophüls waren für mich im Vergleich mit vielen anderen aber etwas Beson­deres. Das lag schon daran, dass ich ihm zum ersten mal sehr früh begegnet bin, an einem meiner ersten Einsätze als Film­kri­tiker, es könnte sogar schon Mitte der 90er Jahre gewesen sein, besuchte ich einen Steh­emp­fang im Münchner Film­mu­seum. Er war einer unter mehreren Gästen, es könnte eine frühe Ausgabe des Dok-Fest gewesen sein.
Da stand er dann allein herum an einem Stehtisch, daran erinnere ich mich, und wir kamen ins Gespräch. Wie, daran erinnere ich mich nicht mehr.

Zur gleichen Zeit gab es von irgend­einem dieser damals neuen Sparten-Privat­sender, die damals noch eine gewisse künst­le­ri­sche Ambition hatten, eine Reihe mit seinen Doku­men­tar­filmen. Als Film­kri­tiker bekam man die damals zur Vorbe­rei­tung einer Rezension noch auf VHS-Kassetten, und bis heute habe ich noch die VHS von Hotel Terminus. Ich hatte also alles gesehen was es da gab, aber da spielte keine Rolle.
Er mokierte sich über die Hemmungen vieler Anwe­sender, die offenbar vor einem Juden »immer noch Angst hatten«, wie er lästerte und dazu laut lachte, und er fügte hinzu er habe »einen schlechten Ruf.« Und lachte wieder.

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Wie unglaub­lich offen er da war, sehr schnell, von Anfang an. Ohne Hemmungen, was einem selbst die Hemmungen nahm, ein hoch­sym­pa­thi­scher »Mann mit Vergan­gen­heit«, von der er inter­es­sant erzählen konnte, und es gern tat, sobald er Interesse spürte. Er lebte diese Vergan­gen­heit und reprä­sen­tierte das, was ganz sicher damals schon – vor dem Internet, vor Social Media, vor dem 11. September, vor den neuen Nazis in jeder Ecke – das alte Europa war, das Kosmo­po­li­ti­sche, Ganze, das schon 1914 irgendwie unterging.

Sein kantiges Gesicht fiel mir schon an diesem Abend auf, das breite Kinn, das immer zu lächeln schien, und sein einneh­mendes Lachen, das über das ganze Gesicht reichte. Dazu die Horn­brille, die mir immer sehr groß schien.

Er trank Rotwein, ziemlich schnell, ich also auch; in wenigen Sätzen waren wir über den Smalltalk hinaus, sprachen über das Dritte Reich (was sonst?), über seine Filme und über dieses Ereignis, auf dem wir beide etwas verloren herum­standen. Erkennbar hatte er mehr Lust, mit einem halbwegs gebil­deten jungen Deutschen zu reden, der das »Guido-Knopp-Geschichts­fern­sehen« genauso blöd fand, wie er, der über Juden und Nazis nüchtern sprach, ohne rot zu werden und der seinen seltsamen, ein bisschen provo­ka­tiven Humor verstand und nicht nur aus Höflich­keit mit lachte. Und so erinnere ich mich auch wie er mir in diesem Abend – wir standen bestimmt andert­halb Stunden mitein­ander herum – auch jene Anekdote erzählte, die ich seitdem nie vergessen habe: Wie er Albert Speer in Heidel­berg stun­den­lang für seinen Film The Memory of Justice inter­viewt hatte, und dann irgend­wann von ihm zum Mittag­essen einge­laden wurde. Man ging in ein Heidel­berger Restau­rant mit schweren dunklen Holz­mö­beln und weißen Tisch­de­cken, wie man das Anfang der 70er Jahre noch fast überall in West­deutsch­land hatte, und Speer, der sich die Spei­se­karte hatte bringen lassen, bestellte selbst­ver­s­tänd­lich Essen und Wein auch für den Gast mit. Die Bestel­lung aufge­nommen hatte ein Kellner »im weißen Livree« wie Ophüls es beschrieb, und als Speer seine Bestel­lung beendet hatte, da, so berich­tete Ophüls, »nahm der Kellner plötzlich Haltung an, schlug die Hacken zusammen und bestä­tigte: 'Jawohl, Herr Reichs­mi­nister!'«

Worauf Ophüls wieder in sein lautes Lachen ausbrach, bis ihm fast die Tränen kamen: Diese Anekdote habe ihm »mehr über Speer und die Bundes­re­pu­blik zu dieser Zeit erzählt, als alle Studen­ten­re­volten und Rudi Dutschkes zusammen.«

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Seit diesem Abend habe ich Marcel Ophüls noch viermal wieder getroffen, zuletzt 2016 in Saar­brü­cken beim Festival, das nach seinem Vater benannt ist, und dreimal haben wir Inter­views geführt. Er war älter geworden, aber hatte sich nicht verändert, nicht grund­sätz­lich in seinem Typ.
Viel­leicht tut man ihm nicht unrecht wenn man sagt dass er, der seine Auto­bio­grafie »Meines Vaters Sohn« nannte, bis zum hohen Alter etwas sehr Jungen­haftes hatte. Etwas Spie­le­ri­sches. Ironi­sches. Auch eine Form des Schutz' natürlich.

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Ophüls war ein legen­därer Doku­men­tar­filmer, dessen künst­le­ri­sche Leistung für das Medium nicht zu unter­schätzen ist: Der Filme­ma­cher, mit bürger­li­chem Namen Hans Marcel Oppen­heimer, ist am 24. Mai 2025 im Alter von 97 Jahren »friedlich verstorben«, wie sein Enkel Andreas-Benjamin Seyfert bekannt gab.
»Mit einem persön­li­chen Blick, der von einem rigorosen doku­men­ta­ri­schen Anspruch genährt wird, hat Marcel Ophüls die dauer­haften Spuren erfasst, die Geschichte und Politik in das Leben einschreiben. Er forderte uns auf, klar, engagiert und der Demo­kratie zutiefst verbunden zu bleiben«, teilte sein Enkel mit.

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Marcel Ophüls war der Sohn des ebenso berühmten deutschen Emigranten Max Ophüls, dem Regisseur von unter anderem Der Reigen und Lola Montez. Geboren am 1. November 1927 in Frankfurt, floh er mit seinen Eltern 1933 vor den Natio­nal­so­zia­listen nach Frank­reich und ab 1941 in die USA. Nach seinen Anfängen als Regie­as­sis­tent wechselte er Anfang der 1960er Jahre mit seinem ersten Doku­men­tar­film, Matisse ou Le Talent du bonheur, ins Regiefach.

Sein berühm­tester Film war dann zwei­fellos Le Chagrin et la Pitié aus dem Jahr 1969. Diese »Chronik einer fran­zö­si­schen Stadt«, die 1971 für den Oscar für den besten Doku­men­tar­film nominiert wurde, befasst sich mit Clermont-Ferrand während der deutschen Besatzung anhand von Wochen­schau­auf­nahmen aus dieser Zeit, vermischt mit Aussagen von Menschen, die die Ereig­nisse miterlebt haben. Indem er mit dem Mythos einer allge­meinen fran­zö­si­schen Résis­tance während des Krieges bricht, löst Le Chagrin et la Pitié einen Skandal aus, der so weit ging, dass er bis 1981 als die Regierung der Gaul­listen durch Francois Mitterand abgelöst wurde, im öffent­li­chen fran­zö­si­schen Fernsehen verboten war.

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1976 drehte er den Doku­men­tar­film, den er selbst als sein persön­li­ches Meis­ter­werk betrach­tete, The Memory of Justice, in dem die Nürn­berger Prozesse mit dem Vietnam- und dem Alge­ri­en­krieg vergli­chen werden, und der in der Öffent­lich­keit bis heute eher unbekannt blieb. Auch weil das öffent­lich-recht­liche deutsche Fernsehen ihn bis heute versteckt, wegen »ästhe­ti­scher Vorbe­halte«.
Im Jahr 1989 gewann Marcel Ophüls dann den ersehnten Oscar für den besten Doku­men­tar­film für seinen Film Hotel Terminus über Klaus Barbie und den Barbie-Prozess.

Ophüls verach­tete die Werte, die der Doku­men­tar­film und der »gute Jour­na­lismus« allzu gern vor sich her trägt – Authen­ti­zität, Objek­ti­vität, Neutra­lität, Anstand, Maßhalten – und vertei­digte Tricks bei Interview und tenden­ziöse Montage im Schnei­de­raum.

Man konnte von seinen Filmen lernen, auch für die Film­kritik.

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Aber nicht alle. Es sind die Deutschen, die auch jetzt in den Nachrufen besonders gerne daran erinnern, dass Ophüls »vor allem« auch Frank­reich kriti­siert habe. Sie vergessen, dass das für ihn, den fran­zö­si­schen Citoyen, ein Stück Selbst­kritik war, und dass es bestimmt nicht getan hatte, um Deutsch­land und die Deutschen zu entlasten. Trotzdem ist es auch falsch, wenn in einer Möch­te­gern-Haupt­stadt­zei­tung jetzt steht, er sei »ein Chronist der deutschen Verbre­chen« gewesen.

Jämmerlicherweise ist es genau die linksalternative taz, die als einzige ernstzunehmende Tageszeitung gar keinen Nachruf auf Ophüls veröffentlicht hat. Was ist nur aus denen geworden? Und auch im Spiegel steht einfach nur der AFP-Agenturmitteilung

Dafür gibt es in der Zeit von den zwei neben­ein­an­der­be­stehenden Zeit-Redak­tionen gleich zwei Nachrufe, einer zu seinem Auto­fahr­stil, und ein politisch präziser, nicht verplau­derter von Georg Seeßlen.

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In einem sehr schönen und infor­ma­tiven Nachruf für die NZZ (»Der Doku­men­ta­rist, der Haltung bewies« schreibt Ralph Eue: »Ophüls machte seine Filme als europäi­scher Intel­lek­tu­eller und als Enter­tainer, als Zeit­ge­schichtler und Zeit­ge­nosse. Dass es ihm gelang, dies selbst­ver­s­tänd­lich zu verbinden und fruchtbar zu machen, darin lag seine unver­kenn­bare Hand­schrift. In gut einem Dutzend Filmen hat Marcel Ophüls sich mit zentralen Momenten der Geschichte unseres Jahr­hun­derts ausein­an­der­ge­setzt: dem Münchner Abkommen, dem Bürger­krieg in Nord­ir­land, den Nürn­berger Prozessen und dem Viet­nam­kon­flikt. ... Marcel Ophüls’ Filme taugen immer noch als Lektionen. Sie sind das, was Jean-Luc Godard 1978 bei seinen kana­di­schen Vorle­sungen unter dem Titel 'Einfüh­rung in eine wahre Geschichte des Kinos' als Kenn­zei­chen wichtiger Filme genannt hat: Arbeiten, die andere Arbeiten erzeugen.«)

In einem Glück­wunsch-Fax zum dreißig­jäh­rigen Bestehen der Duis­burger Filmwoche schrieb Ophüls 2006:
»Seit vierzig Jahren habe ich versucht, die feigen Neutra­listen anzu­greifen, die sich auf ihre angeb­liche Toleranz berufen, um ihre eigene Feigheit und geistige Faulheit zu verbergen. Seit vierzig Jahren versuche ich Natu­ra­lismus im Doku­men­tar­film als Mangel an künst­le­ri­scher Fantasie und Vitalität zu entlarven. Seit vierzig Jahren habe ich versucht, gegen den Begriff 'Objek­ti­vität', dieses stumpf­sin­nige Alibi für Mangel an Stel­lung­nahme, zu kämpfen. Jetzt, wenn ich die Inter­views von jungen Doku­men­tar­fil­mern lese, habe ich den etwas wehmü­tigen Eindruck, dass ich zumindest auf diesem Gebiet etwas erreicht habe.«