Gegen die »feigen Neutralisten« |
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Marcel Ophüls (1927-2025) | ||
(Foto: Propyläen/Ullstein) |
»Auf die Ehrlichkeit kommt es an, nicht auf die Neutralität.«
- Marcel Ophüls
Es ist eine natürliche Sache im Leben eines jeden Menschen, erst recht eines Journalisten, der viele Leute trifft: je älter man wird, um so häufiger passiert es, dass Menschen sterben, mit denen man kürzere oder längere Begegnungen hatte, oder mit denen man sogar Interviews geführt hat.
Die Begegnungen mit Marcel Ophüls waren für mich im Vergleich mit vielen anderen aber etwas Besonderes. Das lag schon daran, dass ich ihm zum ersten mal sehr früh begegnet bin, an einem meiner ersten Einsätze als Filmkritiker, es könnte sogar schon Mitte der 90er Jahre gewesen sein, besuchte ich einen Stehempfang im Münchner Filmmuseum. Er war einer unter mehreren Gästen, es könnte eine frühe Ausgabe des Dok-Fest gewesen sein.
Da stand er dann allein herum an einem Stehtisch,
daran erinnere ich mich, und wir kamen ins Gespräch. Wie, daran erinnere ich mich nicht mehr.
Zur gleichen Zeit gab es von irgendeinem dieser damals neuen Sparten-Privatsender, die damals noch eine gewisse künstlerische Ambition hatten, eine Reihe mit seinen Dokumentarfilmen. Als Filmkritiker bekam man die damals zur Vorbereitung einer Rezension noch auf VHS-Kassetten, und bis heute habe ich noch die VHS von Hotel Terminus. Ich hatte also alles gesehen was es da gab, aber da spielte keine Rolle.
Er mokierte sich über die Hemmungen vieler Anwesender, die offenbar vor
einem Juden »immer noch Angst hatten«, wie er lästerte und dazu laut lachte, und er fügte hinzu er habe »einen schlechten Ruf.« Und lachte wieder.
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Wie unglaublich offen er da war, sehr schnell, von Anfang an. Ohne Hemmungen, was einem selbst die Hemmungen nahm, ein hochsympathischer »Mann mit Vergangenheit«, von der er interessant erzählen konnte, und es gern tat, sobald er Interesse spürte. Er lebte diese Vergangenheit und repräsentierte das, was ganz sicher damals schon – vor dem Internet, vor Social Media, vor dem 11. September, vor den neuen Nazis in jeder Ecke – das alte Europa war, das Kosmopolitische, Ganze, das schon 1914 irgendwie unterging.
Sein kantiges Gesicht fiel mir schon an diesem Abend auf, das breite Kinn, das immer zu lächeln schien, und sein einnehmendes Lachen, das über das ganze Gesicht reichte. Dazu die Hornbrille, die mir immer sehr groß schien.
Er trank Rotwein, ziemlich schnell, ich also auch; in wenigen Sätzen waren wir über den Smalltalk hinaus, sprachen über das Dritte Reich (was sonst?), über seine Filme und über dieses Ereignis, auf dem wir beide etwas verloren herumstanden. Erkennbar hatte er mehr Lust, mit einem halbwegs gebildeten jungen Deutschen zu reden, der das »Guido-Knopp-Geschichtsfernsehen« genauso blöd fand, wie er, der über Juden und Nazis nüchtern sprach, ohne rot zu werden und der seinen seltsamen, ein bisschen provokativen Humor verstand und nicht nur aus Höflichkeit mit lachte. Und so erinnere ich mich auch wie er mir in diesem Abend – wir standen bestimmt anderthalb Stunden miteinander herum – auch jene Anekdote erzählte, die ich seitdem nie vergessen habe: Wie er Albert Speer in Heidelberg stundenlang für seinen Film The Memory of Justice interviewt hatte, und dann irgendwann von ihm zum Mittagessen eingeladen wurde. Man ging in ein Heidelberger Restaurant mit schweren dunklen Holzmöbeln und weißen Tischdecken, wie man das Anfang der 70er Jahre noch fast überall in Westdeutschland hatte, und Speer, der sich die Speisekarte hatte bringen lassen, bestellte selbstverständlich Essen und Wein auch für den Gast mit. Die Bestellung aufgenommen hatte ein Kellner »im weißen Livree« wie Ophüls es beschrieb, und als Speer seine Bestellung beendet hatte, da, so berichtete Ophüls, »nahm der Kellner plötzlich Haltung an, schlug die Hacken zusammen und bestätigte: 'Jawohl, Herr Reichsminister!'«
Worauf Ophüls wieder in sein lautes Lachen ausbrach, bis ihm fast die Tränen kamen: Diese Anekdote habe ihm »mehr über Speer und die Bundesrepublik zu dieser Zeit erzählt, als alle Studentenrevolten und Rudi Dutschkes zusammen.«
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Seit diesem Abend habe ich Marcel Ophüls noch viermal wieder getroffen, zuletzt 2016 in Saarbrücken beim Festival, das nach seinem Vater benannt ist, und dreimal haben wir Interviews geführt. Er war älter geworden, aber hatte sich nicht verändert, nicht grundsätzlich in seinem Typ.
Vielleicht tut man ihm nicht unrecht wenn man sagt dass er, der seine Autobiografie »Meines Vaters Sohn« nannte, bis zum hohen Alter etwas sehr Jungenhaftes hatte. Etwas Spielerisches. Ironisches.
Auch eine Form des Schutz' natürlich.
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Ophüls war ein legendärer Dokumentarfilmer, dessen künstlerische Leistung für das Medium nicht zu unterschätzen ist: Der Filmemacher, mit bürgerlichem Namen Hans Marcel Oppenheimer, ist am 24. Mai 2025 im Alter von 97 Jahren »friedlich verstorben«, wie sein Enkel Andreas-Benjamin Seyfert bekannt gab.
»Mit einem persönlichen Blick, der von einem rigorosen dokumentarischen Anspruch genährt wird, hat Marcel Ophüls die dauerhaften Spuren erfasst, die Geschichte und Politik
in das Leben einschreiben. Er forderte uns auf, klar, engagiert und der Demokratie zutiefst verbunden zu bleiben«, teilte sein Enkel mit.
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Marcel Ophüls war der Sohn des ebenso berühmten deutschen Emigranten Max Ophüls, dem Regisseur von unter anderem Der Reigen und Lola Montez. Geboren am 1. November 1927 in Frankfurt, floh er mit seinen Eltern 1933 vor den Nationalsozialisten nach Frankreich und ab 1941 in die USA. Nach seinen Anfängen als Regieassistent wechselte er Anfang der 1960er Jahre mit seinem ersten Dokumentarfilm, Matisse ou Le Talent du bonheur, ins Regiefach.
Sein berühmtester Film war dann zweifellos Le Chagrin et la Pitié aus dem Jahr 1969. Diese »Chronik einer französischen Stadt«, die 1971 für den Oscar für den besten Dokumentarfilm nominiert wurde, befasst sich mit Clermont-Ferrand während der deutschen Besatzung anhand von Wochenschauaufnahmen aus dieser Zeit, vermischt mit Aussagen von Menschen, die die Ereignisse miterlebt haben. Indem er mit dem Mythos einer allgemeinen französischen Résistance während des Krieges bricht, löst Le Chagrin et la Pitié einen Skandal aus, der so weit ging, dass er bis 1981 als die Regierung der Gaullisten durch Francois Mitterand abgelöst wurde, im öffentlichen französischen Fernsehen verboten war.
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1976 drehte er den Dokumentarfilm, den er selbst als sein persönliches Meisterwerk betrachtete, The Memory of Justice, in dem die Nürnberger Prozesse mit dem Vietnam- und dem Algerienkrieg verglichen werden, und der in der Öffentlichkeit bis heute eher unbekannt blieb. Auch weil das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen ihn bis heute versteckt, wegen »ästhetischer
Vorbehalte«.
Im Jahr 1989 gewann Marcel Ophüls dann den ersehnten Oscar für den besten Dokumentarfilm für seinen Film Hotel Terminus über Klaus Barbie und den Barbie-Prozess.
Ophüls verachtete die Werte, die der Dokumentarfilm und der »gute Journalismus« allzu gern vor sich her trägt – Authentizität, Objektivität, Neutralität, Anstand, Maßhalten – und verteidigte Tricks bei Interview und tendenziöse Montage im Schneideraum.
Man konnte von seinen Filmen lernen, auch für die Filmkritik.
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Aber nicht alle. Es sind die Deutschen, die auch jetzt in den Nachrufen besonders gerne daran erinnern, dass Ophüls »vor allem« auch Frankreich kritisiert habe. Sie vergessen, dass das für ihn, den französischen Citoyen, ein Stück Selbstkritik war, und dass es bestimmt nicht getan hatte, um Deutschland und die Deutschen zu entlasten. Trotzdem ist es auch falsch, wenn in einer Möchtegern-Hauptstadtzeitung jetzt steht, er sei »ein Chronist der deutschen Verbrechen« gewesen.
Jämmerlicherweise ist es genau die linksalternative taz, die als einzige ernstzunehmende Tageszeitung gar keinen Nachruf auf Ophüls veröffentlicht hat. Was ist nur aus denen geworden? Und auch im Spiegel steht einfach nur der AFP-Agenturmitteilung
Dafür gibt es in der Zeit von den zwei nebeneinanderbestehenden Zeit-Redaktionen gleich zwei Nachrufe, einer zu seinem Autofahrstil, und ein politisch präziser, nicht verplauderter von Georg Seeßlen.
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In einem sehr schönen und informativen Nachruf für die NZZ (»Der Dokumentarist, der Haltung bewies« schreibt Ralph Eue: »Ophüls machte seine Filme als europäischer Intellektueller und als Entertainer, als Zeitgeschichtler und Zeitgenosse. Dass es ihm gelang, dies selbstverständlich zu verbinden und fruchtbar zu machen, darin lag seine unverkennbare Handschrift. In gut einem Dutzend Filmen hat Marcel Ophüls sich mit zentralen Momenten der Geschichte unseres Jahrhunderts auseinandergesetzt: dem Münchner Abkommen, dem Bürgerkrieg in Nordirland, den Nürnberger Prozessen und dem Vietnamkonflikt. ... Marcel Ophüls’ Filme taugen immer noch als Lektionen. Sie sind das, was Jean-Luc Godard 1978 bei seinen kanadischen Vorlesungen unter dem Titel 'Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos' als Kennzeichen wichtiger Filme genannt hat: Arbeiten, die andere Arbeiten erzeugen.«)
In einem Glückwunsch-Fax zum dreißigjährigen Bestehen der Duisburger Filmwoche schrieb Ophüls 2006:
»Seit vierzig Jahren habe ich versucht, die feigen Neutralisten anzugreifen, die sich auf ihre angebliche Toleranz berufen, um ihre eigene Feigheit und geistige Faulheit zu verbergen. Seit vierzig Jahren versuche ich Naturalismus im Dokumentarfilm als Mangel an künstlerischer Fantasie und Vitalität zu entlarven. Seit vierzig Jahren habe ich versucht, gegen den Begriff
'Objektivität', dieses stumpfsinnige Alibi für Mangel an Stellungnahme, zu kämpfen. Jetzt, wenn ich die Interviews von jungen Dokumentarfilmern lese, habe ich den etwas wehmütigen Eindruck, dass ich zumindest auf diesem Gebiet etwas erreicht habe.«